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Antrag 16/I/2021 Berliner Wohnraum-Sicherungsgesetz – Verdrängung und Spekulation eindämmen und einen sozialen Wohnungsmarkt erhalten

18.03.2021

Die Situation am Wohnungsmarkt ist auch ein Jahr nach der Einführung des Mietendeckels angespannt, obgleich dieser bereits viele Berliner*innen finanziell entlastet hat. Gleichwohl sind die landesrechtlichen Möglichkeiten zur Regulierung noch bei Weitem nicht ausgeschöpft. Insbesondere im Bereich der Länderkompetenzen im Wohnungs- und Ordnungswesen verbleiben weitreichende Spielräume. Die sozialdemokratischen Mitglieder im Senat und Abgeordnetenhaus werden daher zur Umsetzung der folgenden Punkte aufgefordert diese Handlungsspielräume zu nutzen und wenn nötig im Wege einer Bundesratsinitiative abzusichern:

 

Landesrechtliche Wohnraumsicherung

 

Der Bestand an belegungsgebundenen Sozialwohnungen in Berlin sinkt kontinuierlich. Belegungsgebunden bedeutet, dass die Wohnungen nur an Mieter*innen mit einem Wohnungsberechtigungsschein (WBS) vermietet werden dürfen. Ein WBS wird auf Antrag vom zuständigen Wohnungsamt erteilt, wenn das Haushaltseinkommen eine bestimmte Grenze nicht übersteigt. Schätzungsweise haben inzwischen über die Hälfte der Berliner Haushalte Anspruch auf einen WBS. Im Gegenzug für die Belegungsbindung erhalten Immobilieneigentümer*innen meist Förderungen wie z. B. günstige Kredite. Die Belegungsbindung endet innerhalb einer gewissen Frist nach Ablauf der Förderung, sodass Sozialwohnungen in der Regel nach 30 Jahren in den “freien” Markt übergehen.

 

Als Ergänzung zu Mietpreisbegrenzung wie dem Mietendeckel und der Mietpreisbremse, fordern wir die Einführung eines Berliner Wohnraumsicherungsgesetz. Dieses Gesetz stützt sich auf die ausschließliche Landeskompetenz im Wohnungswesen. Es soll vorschreiben, dass ein signifikanter Teil des Wohnungsbestandes, auch ohne Gegenleistung der Wohnraumförderung der Belegungsbindung unterliegt, also nur an Mietinteressent*innen mit WBS vergeben werden darf. Die Miethöhe für solche Belegungsgebunden Wohnung soll sich an der Ortsüblichen Vergleichsmiete orientieren und diese um einen festzulegenden Prozentsatz unterschreiten.

 

Auf dem freien Mietmarkt werden zahlungskräftige Interessent*innen regelmäßig bevorzugt. Zusätzlich sehen sich Interessent*innen rassistischer Diskriminierung, sowie Benachteilugung aufgrund ihres sozialen Status ausgesetzt. Diese Phänomene sind, auch bei der Vermietung belegungsgebundener Wohnungen zu beobachten. Im Bundesrecht gibt es bereits die Möglichkeit Mieter*innen für belegungsgebundene Wohnungen staatlich zuzuweisen (Besetzungsrecht nach § 26 Abs. 2 WoFG). Berlin soll davon insbesondere zugunsten von Mieter*innen Gebrauch machen, die vergleichsweise geringe Chancen auf einen Mietvertrag hätten.

 

Belegungsbindung nach öffentlich geförderter Sanierung

 

Fast 50% der städtischen klimaschädlichen Emissionen kommen aus dem Bau- und Immobilienwesen. Um die Vision einer klimaneutralen Stadt zu verwirklichen, muss ein Großteil des Wohnungsbestandes in Berlin innerhalb der nächsten Jahre energetisch saniert werden.

 

Um eine schnelle Transformation zur Klimaneutralität zu fördern, soll das Land Berlin Förderprogramme zur energetischen Sanierung von Wohngebäuden auflegen. Hierbei sollen die bestehenden Möglichkeiten des Baugesetzbuches, wie zum Beispiel Sanierungssatzungen genutzt werden, sofern diese Möglich und zur Sicherstellung von bezahlbarem Wohnraum zweckmäßig sind.

 

Im Gegenzug für die Förderung, soll das Land nach §2 WoFG, Belegungsrechte an bestehende Wohneinheiten erwerben, die im Rahmen der vorgeschlagenen Wohnraumsicherung genutzt werden. So können Wohnung, die nach Ablauf der Belegungsbindung dem sozialen Wohnungsmarkt entzogen wurden, wieder einer sozialverträglichen Nutzung zugeführt werden.

 

Umlageverbot bei unangetasteter Gewinnsubstanz

 

Ein Großteil des Wohnungsbestandes in Berlin befindet sich in der Hand von Aktiengesellschaften. Diese sollen künftig Mieter*innen vor einer Umlage von Kosten für Modernisierungen und verkappten Entmietungen auf den Mietzins glaubhaft machen müssen, dass ein Sanierung nicht unter Rückgriff auf die bisherigen Unternehmensgewinne finanzierbar ist. Zum Unternehmensgewinn zählen auch die Auszahlungen an Aktionär*innen. Die Auszahlungen dürfen bis auf die Höhe des durchschnittlichen Zinssatzes gekürzt werden. Ist diese Tatsache den Mieter*innen nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden, kann die Mieterhöhung einseitig bis auf den vorherigen Mietzins gemindert werden.

 

Sanierungs-TÜV und Zweckentfremdungsverbot

 

Berlin soll als ordnungsrechtliches Mittel einen Sanierungs-TÜV für Mietobjekte einführen. Wir fordern die sozialdemokratischen Senator*innen und Mitglieder des Abgeordnetenhauses auf, die zur Beauftragung dieser Einrichtung erforderliche gesetzliche Grundlage zu schaffen. Vermieter*innen müssen alle 10-Jahre den Zustand des Mietobjekts vor einer unabhängigen und mit der Aufsicht und Vergabe von Prüfsiegeln beauftragten Einrichtung nachweisen.  Entspricht dieser nicht der aktuellen Rechtslage, insbesondere der gebotenen Instandhaltungen und energetischen Sanierungen, ist der TÜV zu verweigern. Für diesen Fall soll ein Zweckentfremdungsverbot nach Hamburger Vorbild (Hamburgisches Wohnraumschutzgesetz) greifen. Die Aufsichtsbehörde kann demnach die Sanierung der Wohnung treuhänderisch auf Kosten der Eigentümer*innen vornehmen. Das Umlageverbot bei unangetasteter Gewinnsubstanz bleibt unberührt.

 

Wohnungs- und Mietenkataster und Transparenzregister

 

Die geringe öffentliche Kontrolle beim Erwerb und Verkauf von Immobilien, machen Berlin seit längerem zu einem attraktiven Ort für Geldwäsche.

 

Gleichzeitig basieren viele gesetzliche Regelungen auf der sog. ortsüblichen Vergleichsmiete. Der Streit um ihre Höhe prägt eine Vielzahl von Mieterhöhungs- und Mietpreisbremsenverfahren. Die ortsübliche Vergleichsmiete wird in der Regel über Mietspiegel abgebildet, die Erstellung methodisch ausbaufähig ist und häufig angegriffen werden.

 

Um den Mangel an Informationen über Wohnraum, sei es Eigentümer*in, wirtschaftliche Berechtigte, oder Miethöhen zu beseitigen, fordern wir die Einführung eines Wohnungs- und Mietenkataster. Dieses soll für jede Immobilie die Eigentums- und Berechtigungsverhältnisse, den Bestand an Mietwohnungen und die vereinbarten Miethöhen samt Nebenabreden erfassen.

 

Milieuschutzberatung und Finanzierungsagentur

 

Milieuschutzgebiete sind ein baurechtliches Instrument der Stadtentwicklung. Vorrangiges Ziel ist es die Sozialstruktur, also die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung, in einem bestimmten Gebiet zu erhalten.

 

Wird eine Immobilien in einem Milieuschutzgebiet verkauft, so hat der Bezirk ein Vorkaufsrecht. Er kann innerhalb von zwei Monaten selbst oder zu Gunsten Dritter in den Kaufvertrag eintreten. Der*die Kaufende kann einen Vorkauf mittels einer Abwendungsvereinbarung verhindern. Im Gegenzug werden bestimmte Auflagen vereinbart. Beispielsweise dürfen für eine bestimmte Zeit lang keine Sanierungen oder Umwandlungen in Eigentumswohnungen durchgeführt werden.

 

In der Praxis herrscht ein enormes Kräfteungleichgewicht zwischen Mieter*innen und Bezirk gegenüber Käufer*innen und Verkäufer*innen. Einerseits liegen aufgrund des überhitzten Marktes die Kaufpreise deutlich über dem Verkehrswert der Objekte, andererseits muss das Vorkaufsrecht innerhalb einer vergleichsweise kurzen Frist gezogen werden, wobei die Finanzierung des Vorkaufs sichergestellt sein muss. Wir fordern daher weiterhin, dass sich die SPD auf allen Ebenen für eine Preislimitierung beim Vorkauf von Immobilien in Milieuschutzgebieten einsetzt.

 

Zusätzlich fordern wir die Einführung einer Milieuschutzberatung. Betroffene Mieter*innen sollen vom Bezirk aktiv über die Situation und die Möglichkeiten eines Vorkaufs informiert werden. Ziel ist es, dass nicht nur die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, welche oft nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten entscheiden, ob sie in den Kaufvertrag eintreten, miteinbezogen werden. Stattdessen soll auch auf die Möglichkeit durch den Erwerb durch andere, gemeinwohlorientierte Dritte hingewiesen werden.

 

Der Senat soll die Überführung von Objekten in Milieuschutzgebieten in die Hände der Mieter*innen oder gemeinwohlorientierte Akteur*innen durch Fördermaßnahmen unterstützen, beispielsweise indem günstige Darlehen gewährt werden.

 

Ein Vorkaufsrecht für einzelne Wohneinheiten

 

Zudem sollten Mieter*innen von Einzelwohnungen ein über § 577 Abs. 1 BGB hinausgehendes Vorkaufsrecht erhalten. Vermieter*innen werden in dem Rahmen verpflichtet Mieter*innen vor Verkauf der Wohnung das Mietobjekt zu einem angemessenen Preis anzubieten. Angemessen ist der Preis, wenn er den Verkehrswert der Wohnung nicht übersteigt. Als Einzelwohnungen gelten alle Mietwohnungen, die sich im Privateigentum des* der Vermieter*in befinden und keine zusammenhängenden Wohneinheiten darstellen bzw. als zusammenhängende Wohneinheiten an unterschiedliche Dritte zum Verkauf angeboten werden sollen. Das Vorkaufsrecht kann unbeschadet des Milieuschutzes auch an staatliche Stellen abgetreten werden, und von diesen zugunsten der Mietenden im Rahmen der Erbpacht ausgeübt werden. Entsprechende Mittel insbesondere für sozial bedürftige sollen in den Haushalt eingestellt werden. Diese Maßnahmen sollen insbesondere Verdrängungseffekten entgegenwirken.

Antrag 14/I/2021 Feministische Stadtplanung: Eine Stadt für Alle!

18.03.2021

Einige Menschen nutzen den Raum in unseren Städten mehr und andere weniger. Bei feministischer Stadtplanung (“Gender Planning”) geht es darum, den Lebensraum an die Bedürfnisse der Menschen anzupassen, die in ihm leben. Stadtplanung wurde lange Zeit für Männer von Männern gemacht, wodurch die Bedürfnisse des Großteiles der Nutzer*innen kaum berücksichtigt wurden. Durch eine Stadtplanung, die sich stärker an den Bedürfnissen von FLINT* Personen (Frauen, Lesben, inter, nicht-binär, trans) orientiert, kann man dafür sorgen, dass sich alle Personen im öffentlichen Raum wohl fühlen. Die Kinderrechtsorganisation Plan International hat Anfang 2020 die “Safer City Maps” ins Leben gerufen. Hierbei konnten zwei Monate lang FLINT* Personen ihre Erlebnisse auf einer Online-Karte vermerken, mit dem Ziel, sichtbar zu machen wo und wie unsicher sich FLINT* Personen im städtischen Raum fühlen. Diese Übersicht zeigt, dass wir in Berlin einen weiten Weg vor uns haben, um den Stadtraum für alle Menschen fair und sicher zu gestalten.

 

Flächennutzung

 

Die Art und Weise der Nutzung von Boden oder auch Flächen auf dem Gebiet des Landes Berlin wird in Übereinstimmung mit dem Baugesetzbuch im Flächennutzungsplan des Landes Berlin beschrieben und vorgegeben. Der Flächennutzungsplan ist ein unter Beteiligung der Öffentlichkeit erstelltes und parlamentarisch legitimiertes Planungsinstrument und schafft die Voraussetzungen für die langfristige Daseinsvorsorge im gesamten Stadtgebiet Berlins.

 

Konkret gibt der Flächennutzungsplan die beabsichtigten städtebaulichen Entwicklungen vor, die sich aus den voraussehbaren Bedürfnissen ergeben. Gemeinden, Behörden und Bezirken dient er hierbei als bindende Vorgabe bei der Erstellung ihrer Bebauungspläne, da aus ihm direkt keine rechtlichen Konsequenzen folgen.  Die behördlichen Bebauungspläne entstehen immer unter Einbezug der Öffentlichkeit.

 

Grundlegend wird in den Plänen zwischen bebauten und unbebauten Flächen, gemischten, gewerblichen und Sonderbauflächen sowie Flächen für Einrichtungen des Gemeinbedarfs und der Ver- und Entsorgung sowie Verkehrswegen unterschieden.

 

Bei der Erstellung des Berliner Flächennutzungsplans werden darüber hinaus strategische Planungsziele verfolgt, die einer Nutzung der Standortvorteile der Metropole Berlin und einer nachhaltigen und klimagerechten Stadtentwicklung Rechnung tragen sollen. So ist es das Ziel, bestehenden Wohnraum im bebauten Stadtgebiet zu sichern und behutsam zu ergänzen, Arbeitsplätze in Bereichen guter öffentlicher Verkehrserschließung zu fördern, Freiräume und Grünflächen zu sichern, übergeordnete Gemeinbedarfs-Orte zu stärken und den öffentlichen Verkehr auszubauen sowie den Wirtschaftsverkehr in das Stadtgefüge zu integrieren.

 

Grundlegendes Problem einer jeden Betrachtung der Flächennutzungspläne bzw. einer Auswertung der Flächennutzungs- und Bebauungspläne ist, dass es zu diesen keine zugänglichen Daten gibt, die auf genderspezifische Aspekte eingehen und die die Nutzung der einzelnen Flächen durch verschiedene gesellschaftliche Gruppe darstellen.

 

Auffällig ist außerdem, dass die Sicherheit von FLINT* Personen, sowie Aspekte der Barrierefreiheit, keine besondere Beachtung im Rahmen der Erstellung der Flächennutzungspläne finden, da diese nur sehr undifferenziert von „Flächen für Einrichtungen des Gemeinbedarfs“ sprechen. Darüber hinaus werden diese Aspekte auch nicht in den strategischen Planungszielen mitgedacht, weshalb sie auch bei der weiteren Ausgestaltung der ausgeschriebenen Flächen keine Rolle spielen.

 

Wir fordern: 

 

  • Die Einführung eines Beteiligungsverfahrens zu der Erstellung der Bebauungspläne, durch welches sichergestellt werden muss, dass die bezirklichen Frauen-, Gleichstellungs- und Seniorenbeauftragten, sowie Frauenhäuser und Jugendämter eingebunden werden und Einfluss auf die Ausgestaltung der Bebauungspläne nehmen können.
  • Die Aufnahme der Aspekte der Barrierefreiheit, der Sicherheit von FLINT* Personen sowie der Repräsentation verschiedener Gruppen im städtischen Sozialgefüge in die Reihe der strategischen Planungsziele.
  • Die Entwicklung eines Konzeptes zur Stärkung der Anliegen und Bedürfnisse von FLINT*Personen im Rahmen der Bauleitplanung bei gleichzeitiger Beachtung der bezirklichen Autonomie.
  • Die paritätische Besetzung von Jurys in städtebaulichen Wettbewerben und architektonischen Wettbewerbsverfahren. Außerdem müssen weiblich geführte Architekturbüros oder Wettbewerbsvorschläge, an denen FLINT* Architekt*innen mitgewirkt haben, bei der Vorauswahl paritätisch berücksichtigt werden.

Öffentliche Nutzflächen

 

Die Gestaltung des öffentlichen Raums beeinflusst dessen Nutzbarkeit durch verschiedene Interessensgruppen und damit deren Alltag erheblich und hat daher so zu erfolgen, dass möglichst unterschiedliche Nutzungsansprüche erfüllt werden können. Im Folgenden wird besonders auf öffentliche Freiflächen eingegangen. Dies schließt öffentliche Straßenräume, öffentliche Plätze, öffentliche Parkanlagen und weitere Freiflächen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, ein.

 

Unabhängig von Mobilitätsansprüchen und der vorausgehenden Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung sollen hier besonders Detaillösungen betrachtet werden (Aufenthalts- und Nutzungsqualität), die spezifischen Zielgruppen den Alltag erleichtern können und somit Inklusion fördern. Obwohl Berlin bereits seit 2002 Gender Mainstreaming in der Stadtentwicklung auf der Agenda hat und der Fachfrauenbeirat schon in einige Projekte miteinbezogen wird, gilt es jetzt Gender Mainstreaming in der Stadtentwicklung von Einzelprojekten flächendeckend auf den öffentlichen Raum anzuwenden.

 

Der öffentliche Raum nimmt sowohl eine Kompensations- als auch Integrationsfunktion ein. Die Kompensationsfunktion soll soziales und sozioökonomisches Ungleichgewicht kompensieren. Dies erfolgt beispielsweise dadurch, dass Personen, denen kein Garten zur Verfügung steht, eine Freifläche für Sport, Spiel und Bewegung angeboten wird. Durch die Corona-Krise wird deutlich, wie wichtig diese Funktion des öffentlichen Raums ist, da viele private Einrichtungen nicht mehr zugänglich sind. Die Bedeutung öffentlicher Spielplätze für Kinder und Familien wächst mit der Schließung von Kitas und Schulen. Durch die Schließung von Konsumstätten, wie Restaurants und Bars oder Sportzentren, Fitnessstudios und Schwimmbädern ist der Druck auf das Angebot des öffentlichen Raums zusätzlich gewachsen. Häufig finden FLINT* Personen in solchen privaten Aufenthaltsstätten besonderen Schutz. So bietet die Berliner Bar und Clubszene für viele FLINT* Personen „safe spaces“, die der öffentliche Raum so nicht bietet. Ein weiteres durch die Corona-Krise verstärktes Problem, für das die Kompensationsfunktion des öffentlichen Raums ein Teil der Lösung darstellen könnte, ist häusliche Gewalt. Viele Menschen erfahren in Berlin und Deutschland häusliche Gewalt, davon sind vor allem Kinder und FLINT* Personen betroffen. Frauen stellen 81% der Opfer dieser Form von Gewalt dar. Wenn Schulen, Kitas und Freizeiteinrichtungen geschlossen sind und die Arbeit aus dem Homeoffice stattfindet, können Betroffene aus schwierigen oder bedrohlichen Situationen Zuhause schlechter entkommen. Wenn der öffentliche Raum jedoch so gestaltet ist, dass Menschen hier Zuflucht finden und Kontakt zu anderen Personen aufnehmen, können Risikosituationen teilweise reduziert werden.

 

Die Integrationsfunktion geht weiter als das bloße Angebot der Fläche und soll so gedacht werden, dass die Gestaltung möglichst viele Ziel- und Interessensgruppen im öffentlichen Raum integriert. Dafür müssen öffentliche Räume angstfrei (subjektiv als auch objektiv sicher), barrierefrei und möglichst divers nutzbar, gestaltet sein.

 

Um subjektive Sicherheit im öffentlichen Raum zu fördern, soll eine Verminderung von Angsträumen angestrebt werden. Durch die Adressierung physischer (bspw. Einsehbarkeit, Beleuchtung), sozialer (bspw. Anwesenheit unterschiedlicher Nutzer*innengruppen) und persönlicher Faktoren (bspw. Eigene Erfahrungen) kann gewünschte soziale Kontrolle, gute Orientierung und Einsehbarkeit gefördert werden und so das Sicherheitsgefühl gesteigert werden. Im Jahr 2019 wurden in Berlin 910 Fälle der Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexueller Übergriffe erfasst, wobei die Dunkelziffer deutlich höher ist. FLINT* Personen stellen den größten Anteil der Opfer dieser Formen von Gewalt dar. Daher muss nicht nur das subjektive Sicherheitsgefühl gesteigert werden, sondern muss faktisch dafür Sorge getragen werden, dass Berlins Straßenräume sicherer werden. Wir fordern eine strukturierte Analyse darüber, an welchen Orten besonders häufig sexualisierte Gewalttaten stattfinden, besonders gegenüber FLINT* Personen. Auf der Internetseite “Safer Cities Map” können FLINT* Personen eintragen, an welchen Orten ihnen übergriffiges Verhalten widerfährt. Bereits hier lassen sich Ballungsräume erkennen. Eine gezielte Erhebung von Daten in diese Richtung würde daher problematische Orte hervorheben, an denen dann gezielte Maßnahmen getroffen werden können, wie beispielsweise Sicherheitspersonal.

 

Barrierefreiheit als Kriterium für die Gestaltung von öffentlichen Räumen betrifft nicht nur mobilitätseingeschränkte Personen, sondern ebenso Personen mit Besorgungs- und Betreuungsaufgaben (bspw. Kinderwagen). Die Erschließung und Zugänglichkeit von Wegen und Aufenthaltsorten für hiervon betroffene Menschen muss daher im öffentlichen Raum gewährleistet sein. Daher fordern wir eine barrierefreie Zugänglichkeit zu allen Aufenthaltsorten an öffentlichen Plätzen und Parks sowie barrierefreie Straßenräume. Dies bedeutet nicht nur die Mobilität zu steigern, sondern die Erreichbarkeit und Aufenthaltsqualität von öffentlichem Raum zu garantieren. Ziel ist es, den Aufenthalts- und Mobilitätsradius aller Interessensgruppen zu erweitern.

 

Diversität in der Nutzungsmöglichkeit öffentlicher Flächen soll gewährleisten, dass die Interessen von FLINT* Personen und anderen diskriminierten Gruppen in der Gestaltung des öffentlichen Raums berücksichtigt werden. Der öffentliche Raum soll die Interessen aller Zielgruppen gleichermaßen abbilden. So haben Kinder und Jugendliche häufig ein ausgeprägteres Spiel-, Bewegungs- und Kommunikationsbedürfnis, welches häufig mit Lärm einhergeht, während andere Gruppen ein Rückzugs- und Ruhebedürfnis haben. Patriarchale Gesellschaftsstruktur und Erziehung führt dazu , dass sich Mädchen und FLINT* Personen im öffentlichen Raum häufig unwohler fühlen als andere Gruppen. Eine andere Strukturierung öffentlicher Räume, z.B. in Form von in kleinere Bereiche unterteilter Parkanlagen, hat gezeigt, dass sich dadurch nicht nur die Anzahl von Mädchen und FLINT* Personen im öffentlichen Raum (bspw. Parkanlagen, Sportplätze, Spielplätze), sondern auch die Zahl diverser „informeller Aktivitäten“ anderer Nutzer*innengruppen steigert. Dies zeigt, dass neben FLINT* Personen und Mädchen ebenso andere Interessensgruppen von Gender Mainstreaming in der Stadtplanung profitieren.

 

Öffentliche Straßenräume beinhalten Fußgängerzonen, Einkaufsstraßen, Haupt- und Nebenstraßen, wobei der Fokus bei der Betrachtung öffentlicher Räume nicht auf Mobilität, sondern Aufenthalts- und Nutzungsqualität liegt. Der Fokus bei der Betrachtung öffentlicher Plätze liegt hier besonders auf öffentlichen Plätzen im Straßenraum.

 

Typische Methoden, um subjektiv sichere Straßen und öffentliche Plätze zu gestalten sind die klare Abgrenzung von öffentlichen und privaten Räumen, Belebung der Straße
 durch Erdgeschossnutzung und Fenster von Wohn- und Geschäftsgebäuden ausgerichtet zum Straßenraum (social eyes). Außerdem verbessert eine breitere Gestaltung von Fuß- und Gehwegen nicht nur die Mobilität, sondern auch das Sicherheitsgefühl, da Abstand gehalten werden kann und man nicht der direkten Konfrontation mit entgegenkommenden Personen ausgesetzt ist. Öffentliche Plätze sollen eine Integrationswirkung ausstrahlen und sind flexibel und nutzungsoffen zu gestalten. Dazu tragen Sicherheitsgefühl, eine gute Orientierung und Übersichtlichkeit und Barrierefreiheit bei. Wir fordern, dass diese Kriterien standardmäßig bei Neubau- und Umbauprojekten verbindlich erfüllt werden müssen.

 

Öffentliche Parkanlagen schließen freie Flächen, Sportplätze sowie Spielplätze mit ein. Außerdem können einige hier vorgebrachte Probleme und Detaillösungen auch auf Naherholungsgebiete und Kleingartenkolonien angewandt werden. Es gibt eine Vielzahl an Faktoren, die bei der Planung dieser Flächen berücksichtigt werden sollten. Darunter fallen beispielsweise die räumliche Struktur, Sicherheitsgefühl, Aktivitätsspektrum unterschiedlicher Nutzer*innen und empfehlenswerte Rahmenbedingungen.

 

Die räumliche Struktur muss ein differenziertes Raumkonzept sein mit funktionalisierten Zonen, die nutzungsoffen und vielseitig nutzbar und durch ein klares Wegenetz verbunden sind. Durch die Gliederung in Teilräume nehmen sowohl mehr Mädchen und FLINT* Personen am Leben in öffentlichen Parkanlagen teil als auch andere diskriminierte Gruppen. Die Gliederung in Teilräume kann durch die Ausgestaltung von Grenzen und optischen Anlaufpunkten wie Sitzmöbeln, Sport- oder Spielgeräten erfolgen. Wir fordern, dass besonders Fitnessanlagen und Sportplätze gezielt für FLINT* Personen bereitgestellt werden und auch deutlich so markiert werden.

 

Für das Sicherheitsgefühl ist eine gute Orientierung und Einsehbarkeit, die mit sozialer Kontrolle einhergeht, obligatorisch. Damit dies auch in der Dämmerung oder bei Dunkelheit gewährleistet ist, muss genügend Beleuchtung garantiert sein. Besonders Frauen leiden unter der Angst vor Übergriffen und können so nicht das volle Aktivitätsspektrum ausschöpfen. Beispielsweise nutzen weniger Frauen die Abendstunden, um im Park joggen zu gehen, wenn dieser nur schlecht beleuchtet ist. Daher fordern wir die Erarbeitung einer Beleuchtungsstrategie für Parkanlangen und Naherholungsgebiete, die sowohl Angsträume beseitigt, als auch die Umwelt schützt. Außerdem verhindert eine ausreichende Ausstattung mit Sanitäranlagen und gute Zugänglichkeit von Toiletten, dass besonders Mädchen und FLINT* Personen, sich für den Toilettengang in dunkle und schlecht einsehbare Ecken zurückziehen müssen. Deshalb wird im gesamten öffentlichen Raum der barrierefreie Zugang zu Toiletten gefordert. Diese Forderung geht damit einher, dass bei der Planung öffentlicher Toiletten mehr Fläche für Toiletten für FLINT* Personen bereitgestellt wird, da diese mehr auf die Nutzung öffentlicher Toiletten angewiesen sind. Wir fordern, dass im Rahmen einer Kampagne der Stadt Berlin außerdem ein Modell ähnlich dem Konzept “Die Netten Toiletten” eingeführt wird. Hier können Gaststätten einheitliche Sticker an ihren Türen anbringen, die signalisieren, dass dort die Toilette genutzt werden kann. Des Weiteren fordern wir, dass FLINT* Personen nicht weiterhin durch kostenpflichtige Toiletten diskriminiert werden, wenn Männertoiletten kostenlos bereitgestellt werden. Männertoiletten müssen ebenso wie Toiletten für FLINT* Personen mit Wickeltischen ausgestattet werden. Auch ist zu gewährleisten, dass geschlechtsneutrale Toiletten bereitgestellt werden, um nicht-binären Personen einen sicheren Raum für den Toilettengang zur Verfügung zu stellen. Um der Umsetzung dieser Forderungen Sorge zu tragen, fordern wir abschließend, dass öffentliche Toiletten auch an hoch frequentierten Räumen staatlich gemanagt werden.

 

Öffentliche Parkanlagen sollen ein breites Spektrum an Aktivitäten bieten. Ein diverses Angebot von Spielmöglichkeiten, wie wegbegleitende und integrative Spielgeräte und Sportmöglichkeiten, wie offen und multifunktional angeordnete Ballspielflächen, soll zur Verfügung stehen. Dies bedeutet, dass Spielgeräte zum einen den Nutzungsanspruch von Mädchen erfüllen und zum anderen gegendert sind, damit sich diese ebenso angesprochen fühlen wie Jungen (Beispiel: Pirat*innenschiff). Teilbereiche sind möglichst in Sichtbeziehung anzuordnen, besonders Hauptaufenthaltsorte von Mädchen sollen gut einsehbar sein. Neben einem breiten Aktivitätsspektrum sollen auch Rückzugsbereiche vorhanden sein. Wir fordern die Umsetzung dieser nutzer*innenspezifischen Gestaltungsrichtlinien bei einer Umgestaltung oder Neugestaltung von Parkanlagen zusätzlich zu der Partizipation von Bürger*innen auf Bezirksebene im Planungsprozess.

 

Berlin hat im Bereich Gender Mainstreaming schon viele Pilotprojekte erfolgreich umsetzen können, die beispielsweise in dem Handbuch „Gender Mainstreaming in der Stadtentwicklung“ von 2011 vorgestellt werden. Obwohl dieses Handbuch einige sehr relevante Aspekte von Gender Planning enthält, ist die Umsetzung dieser Leitlinie bisher nicht verbindlich. Wir fordern daher ein auf Grundlage dieses Handbuches ausgearbeitetes Leitbild zu Gender Mainstreaming in der Stadtentwicklung, das von den Bezirken bei Neubauprojekten verbindlich anzuwenden ist und tiefer geht als die seit 2005 anzuwendende „Gender-Checkliste“. Da auf Bezirksebene die Ausführung und Detaillösungen für neue Bauvorhaben beschlossen werden, muss zudem gewährleistet werden, dass hier Bürger*innen aktiv im Planungsprozess partizipieren und ihre Nutzungsansprüche einbringen können.

 

Wir fordern: 

  • Eine strukturierte Datenerhebung und -analyse darüber, an welchen Orten besonders häufig sexualisierte Gewalttaten stattfinden, besonders gegenüber FLINT* Personen
  • Barrierefreie Zugänglichkeit zu allen Aufenthaltsorten an öffentlichen Plätzen und Parks sowie barrierefreie Straßenräume
  • Klare Abgrenzung von öffentlichen und privaten Räumen, Belebung der Straße durch Erdgeschossnutzung und Fenster von Wohn- und Geschäftsgebäuden ausgerichtet zum Straßenraum (social eyes), um die subjektive Sicherheit zu erhöhen
  • Nutzungsoffene und flexibel gestaltete öffentliche Plätze, die eine Integrationswirkung ausstrahlen
  • Fitnessanlagen und Sportplätze, die gezielt für FLINT* Personen bereitgestellt werden und auch deutlich als solche markiert sind
  • Ausreichende Beleuchtung von öffentlichen Plätzen, Straßenräumen, Parkanlagen und Naherholungsgebieten
  • Toiletten im öffentlichen Raum
    • Im gesamten öffentlichen Raum barrierefreien Zugang zu Toiletten
    • Bei der Planung öffentlicher Toiletten mehr Fläche für Toiletten für FLINT* Personen, da diese mehr auf die Nutzung öffentlicher Toiletten angewiesen sind
    • Eine Kampagne der Stadt Berlin, die ein Modell ähnlich dem Konzept “Die netten Toiletten” einführt, bei dem Gaststätten einheitliche Sticker an ihren Türen anbringen können, die signalisieren, dass bei diesen die Toilette genutzt werden kann
    • und im Gegenzug eine geringfügige Aufwandsentschädigung erhalten
    • Die kostenlose Bereitstellung von öffentlichen Toiletten für FLINT* Personen, wenn Männertoiletten kostenlos bereitgestellt werden
    • Die Ausstattung von Männertoiletten mit Wickeltischen
    • Die Bereitstellung von geschlechtsneutralen Toiletten, um nicht-binären Personen einen sicheren Raum für den Toilettengang zur Verfügung zu stellen
    • Das staatliche Management von öffentlichen Toiletten, um die vorausgehenden Forderungen kontrolliert umsetzen zu können
  • Öffentliche Parkanlagen, die ein breites Aktivitätsspektrum bedienen bzgl. Spiel- und Sportmöglichkeiten abbilden und die Unterteilung von Parkanlagen in viele Teilbereiche, die in einer übersichtlichen Wegevernetzung und Sichtbeziehung angeordnet sind
  • Ein ausgearbeitetes Leitbild zu Gender Mainstreaming in der Stadtentwicklung auf Landesebene, das von den Bezirken bei Neubauprojekten verbindlich anzuwenden ist und tiefer geht als die seit 2005 anzuwendende „Gender-Checkliste“
  • Die aktive Partizipation und das Vortragen von Nutzungsansprüchen von
     Bürger*innen im Planungsprozess von Bauvorhaben auf Bezirksebene

 

Mobilität

 

Mobilität bedeutet die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Schon aus einem demokratischen Anspruch heraus muss sie allen zugänglich sein und ist Teil einer sozialen Daseinsvorsorge.

 

In Berlin werden, sowie in nahezu allen Städten, Verkehrs- und Mobilitätsdaten nicht nach Geschlecht differenziert. Eine Bundesweite vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebene Studie aber zeigt, noch immer legen Männer weniger und dafür längere Strecken zurück, Frauen hingegen viele kurze Wege. Im Bundesverkehrsministerium kann man mit diesen Daten allerdings offenbar nur wenig anfangen. Diese Daten erfahren scheinen bisher keine Berücksichtigung vom Bundesverkehrsministerium. Deutschland hatte bisher noch nie eine Bundesverkehrsministerin. 2019 startete das Bundesverkehrsministerium eine Kampagne, in der sich Frauen in Fahrradhelm und Spitzenunterwäsche auf einem Bett räkeln. Das ist das Gegenteil von feministischer Verkehrspolitik.

 

Es müssen ausreichend geschlechtsspezifische Verkehrs- und Mobilitätsdaten erfasst werden, denn diese Informationen sind entscheidend um ein Verkehrssystem zu planen, dass allen gleichermaßen dient. Die Wege von FLINT* Personen sind deutlich komplizierter als die von Männern. Während sie in der Regel und häufig mit dem Auto ihren Arbeitsweg zurücklegen, also morgens in die Stadt und abends wieder hinausfahren, umfasst der Alltag von FLINT* Personen meist viele kurze Wegstrecken. Teilzeitbeschäftigung ist ein überwiegend weibliches Phänomen und FLINT* Personen erledigen 75% der weltweiten Care-Arbeit. Das beeinflusst ihre Bedürfnisse bei der Fortbewegung. FLINT* Personen gehen im Allgemeinen weiter und länger zu Fuß. Zum Teil wegen ihrer Care-Aufgaben, aber auch, weil sie im Durchschnitt ärmer sind und seltener ein eigenes Auto besitzen.

 

Zu Fuß Gehende sind die am wenigsten geschützten und langsamsten Verkehrsteilnehmer. FLINT* Personen haben durchschnittlich weniger Zeit und haben als zu Fuß gehende auch noch die längsten Wege. Eine Planung, die sich auf den Autoverkehr fokussiert und Fußgängerwege lediglich um diesen herumbaut, führt zu räumlicher Diskriminierung und Zeitenteignung. Zu Fuß gehende brauchen direkte und durchgehende Wege und mehr Querungsmöglichkeiten an von Autos dominierten Straßen. Die Wege von Zu Fuß Gehenden dürfen bei der Planung nicht hinter anderen Verkehrsteilnehmern anstehen, sondern müssen vorrangig beachtet werden. Um zu verhindern, dass die Wege der Fußgänger*innen durch Falschparker*innen gefährdet oder behindert werden, müssen diese verstärkt geschützt werden, weshalb wir eine erhöhte Kontrolle und Ahndung von Parksündern, vor allem rund um Wohngebiete, Kitas, Einkaufsläden, Schulen und Krankenhäusern fordern. Wo ohne Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer*innen möglich, sollen bauliche Maßnahmen zum Schutz vor Falschparker*innen getroffen werden. Andernfalls werden bestehende Ungleichheiten verstärkt. Ampelzeiten für Fußgänger*innen sind, wo dies notwendig ist, zu verlängern, um denjenigen Zeit zu geben, die dem Tempo der Stadt nicht schritthalten können. Die Bedürfnisse von zu Fuß Gehenden sind bei der Ampelschaltung vorrangig mit denen von Autofahrer*innen zu werten.

 

Flächengerechtigkeit bedeutet auch breitere Gehwege. Sie sind besonders wichtig für
 jene, die mit einem Kinderwagen oder weiteren Kindern unterwegs sind, einen Rollstuhl
 oder Rollator benutzen. Bei der Planung von neuen Wegen muss außerdem auf sichere
 Bodenbeläge geachtet werden. Pflastersteine mögen zwar schön aussehen, aber sie
 erschweren vielen, insbesondere älteren Menschen, die auf Gehhilfen angewiesen sind,
 den Alltag.

 

Barrierefreiheit kommt bei der Stadtplanung stets gleich mehreren Gruppen zugute. So sind abgeflachte Bordsteinkanten für Rollstuhlfahrer*innen, für Ältere und für Menschen, die mit Kinderwagen unterwegs sind, wichtig. Treppen dürfen keine Fortbewegungshindernisse darstellen und müssen um Rampen ergänzt werden. Auch bei Baustellenführungen muss auf barrierefreie Wege geachtet werden. Damit Wege von allen Menschen genutzt werden können, sind Orientierungshilfen, vorrangig an besonders gefährlichen Stellen, zu erbauen und bei zukünftigen Bauplanungen stets zu integrieren.

 

Zu Fuß Gehende brauchen einen besonderen Schutz, denn sie sind im Straßenverkehr die Verletzbarsten. Ausreichende Beleuchtung an allen Gehwegen verbessert nicht nur das Sicherheitsgefühl von FLINT* Personen und allen, die auf der Straße Opfer von Übergriffen werden, sondern beugen auch Unfälle vor. Bei der Planung von Gehwegen sollte zukünftig darauf geachtet werden, dass diese durch belebte Gegenden führen. Die „dunkle, abgelegene Gasse“ ist für viele, insbesondere FLINT* Personen, keine Alternative und somit kein angemessener Fußgängerweg. Zu Fuß Gehende brauchen auch einen besonderen Wetterschutz, in Form von funktionierender Entwässerung und Sonnenschutz. Mehr Bäume und weniger versiegelte Flächen in der Stadt haben dabei gleich mehrere Nutzen. Beim Schneeräumen sind Fußwege zu priorisieren.

 

Die wenigen verfügbaren Daten zur Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs zeigen, dass dieser überwiegend von FLINT* Personen genutzt wird. In Frankreich etwas sind zwei Drittel der Fahrgäste im ÖPNV FLINT* Personen. Politische Entscheidungen, die das Autofahren gegenüber dem ÖPNV attraktiver und günstiger machen, treffe somit vor allem FLINT* Personen. Obwohl die meisten Fahrgäste in Bussen FLINT* Personen sind, entsprechen ihre Fahrpläne dagegen meist den Bedürfnissen von Männern. Wie in vielen Städten ist auch das Berliner Verkehrsnetz eher strahlenförmig aufgebaut und entspricht somit nicht den Bedürfnissen von Frauen* mit ihren vielen, kurzen Wegen. Orthogonal verlaufende Buslinien, also wie ein „Spinnennetz“, werden diesen eher gerecht und sind daher anzustreben. Auch an weniger stark frequentierten Orten müssen Busse fahren, Dort sind vermehrt Kleinbusse einzusetzen.

 

Bei der Auswahl von Bushaltestellen ist besonders auf die Nähe zu Kindergärten, Schulen, Supermärkten, Apotheken und Krankenhäusern zu achten. Haltestellen sollten vorzugsweise an belebten Orten, Gebäuden und Eingängen liegen. Wichtige Kriterien für Haltestellen sind, dass sie hell, einsehbar, sicher und wettergeschützt sind.

 

Während der Nachtstunden fordern wir flexible Haltemöglichkeiten. So können längere Fußwege vermieden werden. Im öffentlichen Raum fühlen sich FLINT* Personen vor allem nachts unsicherer als Männer, was zur Einschränkung der Mobilität von FLINT* Personen führt. Fast jede zweite Frau fühlt sich nachts sowohl in Bussen und Bahnen unsicher, daher fordern wir zusätzlich den Einsatz von Nachttaxen für FLINT* Personen. FLINT* Personen sollen in Berlin zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr bei jeder Taxifahrt einen städtischen Zuschlag erhalten. Vorbildcharakter hat München, wo es dieses Angebot bereits gibt. Eine enge Zusammenarbeit der Stadt Berlin mit den Taxiunternehmen ist eine wichtige Voraussetzung zur erfolgreichen Umsetzung des Projekts. Die Anstellung weiblicher Taxifahrer*innen ist zu fördern, ein Konzept für sichere Taxifahrten für FLINT* Personen zu erarbeiten.

 

Berlins S- und U-Bahnstationen sind noch immer nicht alle barrierefrei.  Aktuell sind bei der U-Bahn rund 80 Prozent der Bahnhöfe mit Aufzügen ausgestattet. Bei der S-Bahn sind innerhalb Berlins mehr als 93 Prozent der Haltestellen barrierefrei. Wir fordern 100% bis 2025 und unterstützen das Pilotprojekt Mobilitätsgarantie, welches bei Ausfall von Fahrstühlen oder da, wo sie noch nicht vorhanden sind, mit einem Shuttle Service aushelfen soll.

 

Bei der zukünftigen Planung von weiteren U- und S-Bahnstationen und -linien sind geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Fortbewegung zu beachten. Bestehende Haltestellen sind sicherer und attraktiver zu gestalten. Wir fordern an allen Stationen eine ausreichende Beleuchtung und digitale Anzeigetafeln. Außerdem eine stärkere Präsenz von Personal, vor allem in den Nachtstunden.

 

Weiter fordern wir in Berlins Bahnen und Bussen die verstärkte Kontrolle und Durchsetzung des Alkoholverbots. Alkoholkonsum mindert die Impulskontrolle von Menschen und trägt somit erheblich zur Entstehung von Bedrohungssituationen bei. Der Konsum von Alkohol im ÖPNV macht diesen für jene unattraktiver, die auf ihn im Alltag angewiesen sind und trägt zu dessen Verschmutzung bei. Das Verbot muss konsequent kontrolliert werden.

 

Nicht zuletzt hat die Corona-Krise gezeigt, wie wichtig der Fahrradverkehr in Berlin ist, wenn die Nutzung des ÖPNV wegfällt. 40% der FLINT* Personen benutzen das Fahrrad täglich bzw. mehrmals die Woche. Die Zahl der Fahrradfahrer*innen weiter an und muss dementsprechend auch noch mehr in den Fokus der Berliner Verkehrspolitik rücken. Während die Anzahl der Pkw in Berlin weiter steigt, ist Studien zufolge lediglich ein Drittel der derzeit 1,2 Mio. Autos wirklich nötig, um die Bedürfnisse der Berliner*innen zu erfüllen. Mit dem Mobilitätsgesetz haben wir 2018 in Berlin bereits einen guten Schritt in die richtige Richtung getätigt, jedoch spielt die Gleichstellung der Geschlechter nur minimal eine Rolle.  Fahrradfahrer*innen sind mitunter die vulnerabelsten Verkehrsteilnehmer*innen und bedürfen besonderen Schutz.
Am häufigsten wird das Rad von FLINT* Personen für kurze Erledigungen bzw. zum Einkaufen genutzt. Um dies mit dem Fahrrad sicher erledigen zu können, benötigen wir eine bessere räumliche Trennung zwischen Radfahrer*innen, PKW-Fahrer*innen und Fußgänger*innen im vorhandenen Verkehrsraum. Vom Straßenverkehr abgegrenzte und farblich markierte Fahrradwege müssen konsequent und bezirksübergreifend umgesetzt werden.

 

Um die Nutzung des Fahrrads für die täglichen Erledigungen attraktiver zu gestalten, benötigen wir ausreichend sichere, gut beleuchtete und wettergeschützte Fahrradabstellanlagen vor allem bei Kitas, Kindergärten, Schulen, Einkaufsläden, Apotheken und Krankenhäuser. In besonders belebten Bereichen der Stadt fordern wir mehr finanzielle Mittel der Bezirke für die Planung von Fahrradparkhäusern. Um die Sicherheit der Nutzer*innen zu gewährleisten, müssen Fahrradparkhäuser mit ausreichend erreichbaren Alarmknöpfen ausgestattet werden.

 

Mit dem Ziel, die Parkplatzsituation an die wachsende Anzahl von – vor allem bei jungen Familien beliebten – Lastenrädern anzupassen, fordern wir die verpflichtende Installation von Lastenradparkplätzen überall dort, wo bereits Parkplätze vorhanden sind. Außerdem fordern wir bei der zukünftigen Planung von Radwegen und Fahrradparkplätzen die Berücksichtigung von E-Fahrrädern und Sonderbau-Fahrrädern. Sowohl Handfahrräder, Rollstuhlfahrräder und Dreirad-Fahrräder benötigen oft mehr Platz auf den Straßen und Parkplätzen. Vor allem rund um Einkaufsläden, Apotheken und Krankenhäuser, als auch Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen gilt dies verstärkt zu berücksichtigen.

Um die sichere Fortbewegung und Teilhabe aller am Straßenverkehr zu gewährleisten, fordern wir ein allgemeines Tempolimit von 30km/h in Berlins Innenstadt.

 

Zum motorisierten Individualverkehr gehören sowohl Pkw und Krafträder als auch Mietfahrzeuge, Carsharing und Taxis. Der MIV ist trotz aller mit ihm einhergehender Probleme aktuell vor allem in Bezirken von Bedeutung, in denen tägliche Besorgungen nicht oder nur sehr schwer zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt werden können und viele Menschen leben, die auf den MIV als Fortbewegungsmittel angewiesen sind. Um jedoch zu ermitteln, wer wirklich auf den MIV angewiesen ist und wie er genutzt wird, fehlen Studien über die tatsächliche, nach Geschlechtern differenzierte Nutzung des MIV in Berlin. So ist der derzeit einzige Anhaltspunkt die Zahl der zugelassenen Pkw, welche stark nach Bezirken variiert.

 

Um die Mobilität aller zu verbessern und Menschen, die kein eigenes Auto besitzen, Zugang zu dieser Mobilitätsform zu gewähren, fordern wir die Förderung flächendeckender Car-Sharing Modelle in ganz Berlin. Insbesondere die Außenbezirke, die bisher nicht am Angebot teilnehmen können, werden dadurch besser angebunden. Parallel dazu fordern wir die Errichtung von Mobilitätsstationen. Car-Sharing- Angebote sollen nur noch zugelassen werden, wenn sie ebenfalls auch die Gebiete außerhalb des S-Bahn-Rings abdecken.

 

In Parkhäusern und auf Parkplätzen haben sich Frauen*parkplätze im Bereich der Stadtplanung als wirkungsvolles Instrument herausgestellt, um Sicherheit und Sicherheitsempfinden im öffentlichen Raum für beide Geschlechter zu verwirklichen. Wir fordern den verstärkten Ausbau, überall dort, wo es zu wenig Frauen*parkplätze gibt und die stärkere Kontrolle dieser. Ebenso muss die Präsenz von Sicherheitspersonal in Parkhäusern ausreichend gegeben sein.

 

Wir fordern: 

  • Eine ausgeweitete Erfassung von geschlechtsspezifischen Verkehrs- und Mobilitätsdaten
  • Mehr Querungsmöglichkeiten an von Autos dominierten Straßen. Außerdem müssen verkehrsberuhigte Straßen ausgebaut werden
  • Eine erhöhte Kontrolle und Ahndung von Parksünder*innen, vor allem rund um Wohngebiete, Kitas, Einkaufsläden, Schulen und Krankenhäusern
  • Eine Verlängerung der Ampelzeiten für Fußgänger*innen , wo dies notwendig ist
  • Breitere Gehwege und die Nutzung von sicheren Bodenbelägen
  • Den flächendeckenden Ausbau von Rampen an allen Treppen
  • Mehr Orientierungshilfen an Gehwegen und Radwegen
  • Den Einsatz von Wetterschutz, in Form von funktionierender Entwässerung und Sonnenschutz auf stark frequentierten Gehwegen
  • Die Priorisierung von Gehwegen und Radwegen beim Schneeräumen
  • Den Ausbau des Busnetzes um Orthogonal verlaufende Buslinien
  • Flexible Haltemöglichkeiten der Busse in den Nachtzeiten
  • Den Einsatz von vergünstigten Nachttaxen für FLINT* Personen. Dabei soll durch eine Kooperation zwischen der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung und der Innung des Berliner Taxigewerbes e.V. sichergestellt werden, dass Fahrerinnen geschult und sensibilisiert sind auf die besondere Gefahr, die für FLINT*Personen besteht, wenn sie nachts alleine reisen.
  • 100% barrierefreie S- und U-Bahnstationen bis 2025
  • Flächendeckend ausreichend Beleuchtung und digitale Anzeigetafeln an den ÖPNV- Haltestellen
  • Verstärkte Präsenz von Sicherheitspersonal in den Nachtstunden
  • Ein Alkoholverbot im ÖPNV
  • Vom Straßenverkehr abgegrenzte und farblich markierte Fahrradwege müssen konsequent und bezirksübergreifend umgesetzt werden
  • Flächendeckend sichere, gut beleuchtete und wettergeschützte Fahrradabstellanlagen
  • Mehr finanzielle Mittel für den Bau von Fahrradparkhäusern mit Alarmknöpfen
  • Die Schaffung von Lastenradparkplätzen überall dort, wo bereits Parkplätze vorhanden sind.
  • Die Berücksichtigung von Sonderbaufahrrädern (z.B. Handfahrräder) in der weiteren Planung.
  • Ein Tempolimit von 30km/h für den gesamten Innenstadtverkehr
  • Die Förderung von stationären Carsharing-Angeboten in den Außenbezirken
  • Die weiter Schaffung von neuen Frauenparkplätzen, überall dort, wo es zu wenige gibt und die verstärkte Kontrolle

 

Sicherheit im öffentlichen Raum

 

Für FLINT* Personen stellt der öffentliche Raum aufgrund von alltäglicher sexualisierter Gewalt einen Hürdenlauf da. Ein subjektives Unsicherheitsgefühl auf dem Heimweg oder bei Dunkelheit gehört für viele Betroffene zum Alltag. Leider kommt es immer wieder zu Vorfällen, die dieses Gefühl bestätigen. In einer Stadt sollten sich Personen egal welchen Geschlechtes zu jeder Tageszeit sicher fühlen. Dafür lassen sich neben entsprechenden Beleuchtungskonzepten weitere Maßnahmen treffen.

 

Die Schaffung von Safe Spaces ist wichtig, da hierdurch Betroffene im Fall einer akut bedrohlichen Situation im öffentlichen Raum Ansprechpartner*innen und sichere Orte zur Verfügung haben. Dies kann beispielsweise durch Programme wie „Luisa ist hier“ (entwickelt in Münster) garantiert werden. Gastronomiebetrieben und Geschäften wird die Möglichkeit zu einer Personalschulung gegeben, welche darauf abzielt, Personal auf den Umgang mit Personen in einer bedrohlichen Lage vorzubereiten. Betroffene können sich beispielsweise mit der Frage „Ist Luisa hier?“ an Thekenpersonal wenden, welches die betroffene Person dann aus der Situation begleitet und bei Bedarf Hilfe organisiert. Wir fordern ein solches Programm zur Schaffung sicherer Orte im öffentlichen Raum auch für das Land Berlin zu entwickeln. Darüber hinaus fordern wir die Entwicklung und Umsetzung von Schutzkonzepten für FLINT* Personen in allen Einrichtungen der öffentlichen Hand.

 

Wir benötigen eine App für mehr Sicherheit auf dem Heimweg. Denn insbesondere der Heimweg bei Dunkelheit gehört für viele Menschen zu den gravierendsten Unsicherheitsfaktoren in ihrem Alltag. Heimweg-Apps können eine Möglichkeit darstellen das Unsicherheitsgefühl zu verringern und schnelle Hilfe in Notsituationen zu garantieren. Dort können Personen angeben, wenn sie sich auf dem Heimweg befinden und im Notfall einen Notruf auslösen, der dann an Privatkontakte oder Sicherheitsbehörden inklusive des Aufenthaltsortes verschickt wird. Wir fordern die Förderung der Entwicklung einer solchen Heimweg-App durch das Land Berlin. Allgemein sollte sich die Smart-City-Strategie der Stadt Berlin mit dem Einsatz digitaler Technologien zur Förderung der Sicherheit von FLINT* Personen im öffentlichen Raum befassen. Dabei muss absolut sichergestellt sein, dass der Zugriff auf diese Bewegungsdaten durch Dritte nicht möglich ist.

 

Wir fordern:  

  • Die Etablierung eines Programms zur Schaffung von Safe Spaces im öffentlichen Raum, in der Gastronomie sowie im Einzelhandel
  • Die Entwicklung von Schutzkonzepten für FLINT* Personen in allen Einrichtungen der öffentlichen Hand
  • Die Entwicklung einer Heimweg-App durch das Land Berlin
  • Die Einbindung der Sicherheitsbedürfnisse von FLINT* Personen in die Smart-City- Strategie der Stadt Berlin

 

 

Barrierefreiheit

 

Nur eine barrierefreie Stadt ist auch eine Stadt für alle. Barrierefreiheit ist nicht nur für Menschen mit Behinderungen wichtig, sondern auch für ältere und hochaltrige Menschen, Menschen mit Kindern oder Menschen, die ältere oder pflegebedürftige Personen versorgen. Intersektionale feministische Stadtplanung muss dafür sorgen, dass mehrfach diskriminierten Menschen ein gleichberechtigter Zugang ermöglicht wird.

 

Die Stadt Berlin hat mehrere Handbücher und Richtlinien für eine barrierefreie bzw. barrierearme Bauweise erstellt, die sehr detailliert auf die Bedürfnisse von behinderten oder bewegungseingeschränkten Menschen eingehen. Doch die Realität vor unserer Haustür sieht oft anders aus. Bei der Planung von neuen Quartieren, Kiezen und Neubauvorhaben können aktuelle Barrierefreiheitsrichtlinien gut eingehalten werden. Der barrierefreie Umbau von existierenden öffentlichen Räumen, Gebäuden oder der Transportinfrastruktur lässt zu wünschen übrig. Auch wenn die Betreiber*innen des Öffentlichen Personennahverkehrs bemüht sind, ihre Transportmittel barrierefrei zu machen, so ist der Abstand zwischen Bahn und Bahnsteigkante immer noch ein Hindernis, das Rollstuhlfahrer*innen oft nicht ohne Hilfe überwinden können. Öffentliche Gebäude und Plätze müssen gut ausgeschildert sein und sind oft nur an die Bedürfnisse von normal Gehenden angepasst. Auch Stadtpläne und Fahrinformationen sind für Menschen mit einer niedrigeren Augenhöhe oft nicht nutzbar. Vor allem in älteren Stadtteilen besteht oft ein Konflikt zwischen Barrierefreiem Umbau und Denkmalschutz. Es muss jedoch gewährleistet sein, dass mindestens die Hotspots barrierefrei erreichbar und miteinander vernetzt sind. Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen müssen Altstädte so zugänglich gemacht werden, dass eine Aufenthaltsqualität auch ohne Hilfe möglich ist. In Einkaufszonen häufen sich Werbeschilder und Fahrräder auf den Gehwegen und schränken den Bewegungsraum zusätzlich ein.

 

Sehbehinderte und Blinde Menschen sehen nicht das Gleiche, werden aber in einen Topf geworfen. Sie stellen unterschiedliche Anforderungen an den öffentlichen Raum. Vor allem sehbehinderte und blinde FLINT* Personen mit und ohne Kinder werden damit in eine Situation gebracht, in der sie sich zwingend Hilfe holen müssen und ggf. von sehenden Menschen diskriminiert werden. Damit sich Menschen mit Sehbehinderungen gefahrlos und ohne Hilfe im öffentlichen Raum bewegen können, muss Sichtbares besonders gut sichtbar sein.

 

Für Blinde muss Sichtbares hör- und/oder tastbar sein. Das lässt sich beispielsweise durch tastbare Orientierungselemente umsetzen, aber auch hörbare Ampelsignale, tastbare Beschriftungen und gut hörbare Durchsagen.

 

Es ist kein Geheimnis, dass die Bevölkerung immer älter wird. 2019 waren laut Angaben des Statistischen Bundesamts 72,9 % der über 90-Jährigen in Deutschland Frauen*. Hochaltrigkeit ist also vor allem weiblich*. Ältere und Hochaltrige Menschen haben besondere Bedürfnisse bezüglich Barrierefreiheit. Insbesondere ältere und hochaltrige Menschen mit Uterus und mit urologischen Einschränkungen benötigen eine gut ausgebaute, gepflegte, kostenlose und gut erreichbare Toiletteninfrastruktur. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat mit ihrer Checkliste zu „age friendly cities“ einen Leitfaden bereitgestellt, mit denen öffentliche Räume altersfreundlich umgestaltet werden können. Ein altersfreundlicher Umbau von Kommunen bedeutet eine längere Selbstständigkeit und Autonomie für ältere und hochaltrige Menschen, mit denen auch ein verringerter Bedarf an professioneller Unterstützung verbunden sein kann.

 

Wir fordern:  

  • Hinweisschilder und Notausgangkennzeichnungen müssen auf Augenhöhe für alle Menschen in dieser Stadt gebracht werden
  • Barrierefreier Umbau von denkmalgeschützten öffentlichen Räumen
  • Beim Neubau von Quartieren muss auf ausreichend breite Gehwege geachtet werden, während auf bestehenden Wegen ein Verbot für das Aufstellen von Werbeschildern gelten muss. Für Fahrräder sind gesonderte Abstellflächen bereitzustellen, beispielsweise durch die Umwidmung einzelner Parkplätze Im öffentlichen Raum müssen genügend Kontraste geschaffen, Informationen gut lesbar gemacht und für gute Beleuchtungsverhältnisse gesorgt werden
  • Hindernisse, z.B. Dekoelemente auf dem Boden oder Blumentöpfe, müssen gut sichtbar, hörbar oder fühlbar gekennzeichnet werden
  • Die Sicherstellung von gut tastbaren und hörbaren Orientierungselementen im Straßenverkehr
  • Einen Umbau Berlins zur altersfreundlichen Kommune nach WHO Standard durch das Land Berlin. Die Bezirke können das Land bei der Identifizierung von Orten mit besonderer Dringlichkeit unterstützen
  • Die Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer und hochaltriger Menschen bei der Stadtentwicklung, z.B. Fußgängerüberwege für langsam Gehende, spezielle Angebote, gepflegte Toiletteninfrastrukturen und Sitzmöglichkeiten in Parks und Einkauf-Hotspots

Antrag 77/I/2021 Gegen Institutionellen Rassismus – Arbeitshilfe zurücknehmen

18.03.2021

Im April 2018 hat die Bundesagentur für Arbeit eine Arbeitshilfe zur „Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“ herausgegeben. Seitdem sind drei weitere, rhetorisch entschärfte, Auflagen erschienen. Zuletzt kam im Februar 2021 die Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ heraus. Das Papier soll Mitarbeiter*innen der JobCenter dabei unterstützen, Leistungsmissbrauch zu erkennen und zu bekämpfen. Keines der Papiere ist öffentlich einsehbar. Auch für Betroffene oder Beratungsstellen ist die Arbeitshilfe unzugänglich.

 

Gleichzeitig stellen Sozialverbände und Beratende eine verstärkt abweisende Praxis und Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit von Antragssteller*innen fest. Im November 2020 adressieren elf Verbände, darunter die GGUA Flüchtlingshilfe, Tacheles e.V., das Komitee für Grundrechte und Demokratie und die Landesarmutskonferenz Berlin einen Brief an das Bundesarbeitsministerium. Sie fordern unter anderem die Rücknahme der Arbeitshilfe und beschreiben die Praxis in den JobCentern.

 

So werden Leistungen unberechtigt abgelehnt, Antragsunterlagen zurückgehalten und Nachweise in unverhältnismäßigem Umfang gefordert. Ob Antragssteller*innen ihre Arbeitnehmer*inneneigenschaft glaubhaft machen können, liegt dabei oft auch bei ihren Arbeitgeber*innen. Vorzulegende Nachweise können außerdem Mietverhältnisse, Krankenversicherung und die Sicherung des Lebensunterhalts sein. Entsprechende Belege können über Jahre hinweg eingefordert werden. Bei Zweifeln kann die Entscheidung über Grundsicherung ausgesetzt werden.

 

Die Arbeitshilfe verkennt die Lebensrealität prekär Beschäftigter im Niedriglohnsektor in zweifacher Hinsicht: Für Betroffene bedeutet die Verweigerung von Leistungen eine verstärkte Abhängigkeit von ausbeuterischen Verhältnissen. Ihre Existenzängste bei fehlender Grundsicherung finden keine Berücksichtigung. Außerdem gelten Kündigungen nach kurzer Zeit, das Fehlen eines schriftlichen Arbeitsvertrages, eine fehlende Anmeldung bei der Unfallversicherung seitens des Betriebs, überhöhte Mieten und Wohnabhängigkeit als Kriterien um „bandenmäßigen Sozialleistungsmissbrauch“ zu erkennen. Diese Merkmale deuten aber gleichzeitig bzw. vielmehr auf ausbeuterische Arbeitsverhältnisse hin.

 

Die Situation wird dadurch verschärft, dass fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache und des deutschen Arbeitsrechts die Verhandlungsmacht der Betroffenen gegenüber Arbeitgeber*innen und JobCentern weiter einschränken. Wer dringend auf Grundsicherung angewiesen ist, diese aber nur spät oder gar nicht erhält, erlebt Existenzängste, das Risiko von Wohnungsverlust und soziale Verdrängung. Außerdem werden mit der Leistungsverweigerung auch andere integrative Angebote versperrt. Dazu gehören Krankenversicherung, Intergrations- und Sprachkurse und weitere Bildungsangebote.

 

Insbesondere Menschen mit rumänischer oder bulgarischer Staatsangehörigkeit sind betroffen. So gibt die Arbeitshilfe in diesen Fällen spezifische Handlungsempfehlungen zur Überprüfung der Identität der Antragssteller*innen. Hier werden Menschen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft stigmatisiert und Betroffene werden nicht mehr vorurteilsfrei behandelt. Prekär lebende rumänische und bulgarische Arbeiter*innen müssen bei einem Antrag auf Grundsicherung mit dem Vorwurf der „missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ rechnen. Belastbare Daten zu „kriminellen Banden“, ein weiter stigmatisierender Begriff, kann die Bundesagentur für Arbeit aber nicht vorlegen.

 

Dass Menschen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft oder zugeschriebenen sozialen Gruppenzugehörigkeit der Zugang zu dringend notwendigen Leistungen erschwert wird, widerspricht den grundlegenden Prinzipien eines sozialen Staates. Wer von Arbeitsausbeutung betroffen ist und nicht von seinem*ihrem Lohn leben kann, braucht Unterstützung, keine Kriminalisierung – auch um Abhängigkeitsverhältnisse zu durchbrechen.

 

Deshalb fordern wir:

  • Die Rücknahme der Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“
  • Dass sich künftige Arbeitshilfen der Bundesagentur für Arbeit an der Realität des prekären Arbeitsmarktes orientieren und öffentlich einsehbar sind
  • Sonderempfehlungen aufgrund von Staatsangehörigkeit oder zugeschriebener Herkunft ohne rechtliche Grundlage zu unterlassen
  • Statt aus Betroffenen Täter*innen zu machen: Verlässliche Hilfen und Informationen zur Unterstützung gegen ausbeuterische Arbeits- und Wohnverhältnisse in den JobCentern
  • Die Überprüfung und Bekämpfung von Mechanismen, die systematisch dazu führen, dass Menschen ihre Ansprüche auf Sozialleistungen vorenthalten werden
  • Regelmäßige Workshops und Schulungen für Mitarbeitende zum diskriminierungs- und rassismusfreien Umgang mit Klient*innen

Antrag 102/I/2021 Grüne Gentechnik aus progressiver Perspektive

18.03.2021

Vorbemerkung: In diesem Papier geht es ausschließlich um grüne Gentechnik bei Nutzpflanzen. Einige Analysen und Lösungsvorschläge lassen sich jedoch auf die gesamte Saatgut- und Lebensmittelindustrie beziehen. Da es ein gewisses Vorwissen braucht, um die Forderungen verstehen zu können, widmen sich die Kapitel 1 und 2 der Begriffsklärung bzw. unserer Motivation. In Kapitel 3 befindet sich die Problemanalyse. In Kapitel 4 werden unsere Forderungen formuliert und in Kapitel 5 die Umsetzung dieser ausgeführt.

 

1.          Worüber reden wir?

Bei der grünen Gentechnik können wir grob zwischen drei Züchtungstechniken unterscheiden.

 

1.1.          Konventionelle Züchtung

Bei der konventionellen Züchtung werden diejenigen Pflanzen ausgewählt, die dem Züchtungsziel am nächsten kommen, weil sie z.B. besonders große oder viele Früchte tragen und werden gekreuzt, damit diese Merkmale bei der nächsten Pflanzengeneration noch ausgeprägter sind. Zur Auswahl der Pflanzen geht nicht der*die Landwirt*in übers Feld und sucht Pflanzen heraus, die durch zufällige Mutationen dem Züchtungsziel nahe kommen. Stattdessen werden die Pflanzen mit radioaktiver Bestrahlung oder Chemikalien so behandelt, dass Mutationen auftreten (Mutagenese). Die behandelten Pflanzen, deren Mutation zum Züchtungsziel passt, werden dann zur Weiterzüchtung ausgewählt.

 

Bei der konventionellen Züchtung wird also nicht das Genom selbst betrachtet, sondern die Ausprägungen, die es herbeiführt. Auch wenn bei dieser Züchtungsform nicht von Gentechnik gesprochen wird, ist das Genom der so neu gezüchteten Sorte im Vergleich zur ursprünglichen Sorte verändert.

 

2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die rechtliche Einstufung von Pflanzensorten, die durch konventionelle Züchtung entstehen. Der EuGH entschied, dass Pflanzensorten, die durch Bestrahlung oder Einsatz von Chemikalien entstanden sind, von der sonst üblichen Zulassungs- und Kennzeichnungspflicht für genetisch veränderte Organismen (GVO) befreit sind. Der Grund hierfür sei die seit langem übliche Anwendung dieser Methode und die daraus resultierende Einstufung als ungefährlicher Organismus. Gentechnik ist also schon lange Bestandteil unserer Agrarwirtschaft – wird aber oft nicht als solche benannt.

 

1.2.          Konventionelle Gentechnik

Bei der konventionellen Gentechnik (“genetically modified organisms”, kurz GMO, oder “genetisch veränderte Organismen”, kurz GVO) werden Erbgutteile einer ähnlichen oder einer gänzlich anderen Art in das Erbgut einer Nutzpflanze eingebaut. Wenn Organismen mit dem Erbgut ihnen ähnlicher Arten behandelt werden, spricht man von “cisgenen” GVO. Wenn Organismen mit dem Erbgut gänzlich anderer Arten behandelt werden, spricht man von “transgenen” GVO .

 

Bei der konventionellen Gentechnik kann nicht genau bestimmt werden, wo der einzufügende Erbgutteil eingebaut wird. Wurde artfremdes Erbgut (transgen) eingefügt, ist das später im Erbgut der Pflanze erkennbar und man kann klar sagen, dass diese mit Gentechnik verändert wurde. Jedoch muss im Vornherein klar sein, nach welchen Veränderungen gesucht wird. Bei cisgenetischen Veränderungen (Erbgutteil einer ähnlichen Art) können diese genetischen Veränderungen gar nicht nachgewiesen werden.

 

Ein bekanntes Beispiel für eine transgenetisch veränderte Pflanze ist der Bt-Mais. Viele Maispflanzen werden durch einen bestimmten Schädling zerstört. Es gibt ein Bakterium, das ein Protein produziert, das für den Menschen unschädlich, für genau diesen Schädling aber giftig ist. Die Formel zur Herstellung dieses Proteins steckt im Erbgut des Bakteriums. Beim Bt-Mais wurde diese Formel in das Erbgut der Mais-Pflanze eingeschleust. Der so veränderte Bt-Mais kann nun selbst das Protein gegen den Schädling produzieren.

 

Risiken bestehen hauptsächlich für “Nicht-Zielorganismen”, also zum Beispiel andere Insekten als den Schädling selbst, die mit der gentechnisch veränderten Pflanze in Berührung kommen.

 

Der rechtliche Umgang mit und die Regulierung genetisch veränderter Organismen unterscheiden sich stark zwischen den Staaten. Die EU reguliert hier anhand der sogenannten Freisetzungsrichtlinie (Zulassung zum Anbau) und einer separat geregelten Zulassung als Futter- und Lebensmittel. Die EU reguliert prozessbezogen und stuft so die Sorten nach dem Verfahren, durch das sie entstanden sind, ein. Währenddessen handeln Staaten wie die USA und Kanada produktbezogen, wo die Eigenschaft „genetisch modifiziert“ an bestimmten Eigenschaften eines Organismus festgemacht wird. Zudem haben Staaten auch innerhalb der EU verschiedene Umgangsweisen mit genetisch veränderten Organismen. Dies führt unter anderem zu uneinheitlichen Regelungen innerhalb der EU und weltweit.

 

1.3.          Neue Gentechnik

Die neue Gentechnik wird auch moderne Gentechnik oder “genome editing” (GE) genannt. GE gibt es seit ca. 20 Jahren. Das Genom der Pflanze wird aufgeschlüsselt, damit eine Änderung an einer genau bestimmten Stelle vorgenommen werden kann. Darin liegt der große Unterschied zur konventionellen Gentechnik, in der diese Genauigkeit nicht möglich ist.

 

“Crispr/cas9”, auch bekannt als “Genschere”, ist eine besondere GE-Technik, die es seit ca. fünf Jahren gibt und den GE-Prozess um ein Vielfaches beschleunigt. Mit dieser Technik können einzelne Bereiche des Erbguts spezifisch verändert werden. Somit ist auch die Formulierung komplexerer Züchtungsziele möglich, die Veränderungen von mehreren Genen gleichzeitig (polygenetisch) beinhalten können.

 

Solche cisgenetischen Veränderungen von Pflanzen mit dem Erbgut waren auch mit der konventionellen Gentechnik möglich – allerdings waren sie so aufwendig, dass sie fast nie durchgeführt wurden. In der Praxis gibt es also erst durch “genome editing” und die effizientere GE-Technik “crispr/cas9” cisgenetisch verändertes Saatgut.

 

Es gibt durch GE nun also zum ersten Mal gentechnisch verändertes Saatgut, das man nicht von konventionell erzeugtem Saatgut unterscheiden kann.

 

1.4.          Biodiversität bei Nutzpflanzen

Alle diese drei Züchtungsarten erschaffen neue Pflanzensorten, die ein eigenes Genom haben. Das bedeutet zunächst einmal mehr Biodiversität. Alle Sorten von Nutzpflanzen, egal, wie sie entwickelt wurden, können sich im Feld mit anderen Sorten kreuzen. Mit Gentechnik entwickelte Sorten bedrohen andere Pflanzen und damit die Biodiversität nicht mehr als konventionell erzeugte Sorten.

 

2.          Warum reden wir darüber?

 

Als Sozialist*innen und Internationalist*innen können wir mit den aktuellen Regelungen rund um das Thema Gentechnik nicht zufrieden sein. Dafür haben wir mehrere Gründe.

 

2.1.          Wissenschaftliche Erkenntnisse leiten unsere politische Arbeit.

Wir sehen, dass die Debatten um Ernährung, Landwirtschaft und Gentechnik oft auf emotionaler Ebene geführt werden und neue wissenschaftliche Erkenntnisse dabei nur unzureichend berücksichtigt werden. Das ist nicht überraschend, denn die eigene Ernährung ist etwas sehr Persönliches und wir respektieren das in all unseren Überlegungen zu diesem Bereich und tragen gleichzeitig dem Vorsorgeprinzip Rechnung.

 

Wir beobachten, dass im Bereich der Landwirtschaft Veränderungen und Innovationen oft kritischer gesehen werden als in anderen Bereichen. Außerdem gibt es in der EU aber auch in anderen Industriestaaten eine starke Agrarlobby, was dazu führt, dass die Landwirtschaft stärker als andere Sektoren subventioniert wird, was auch bei vielen Wähler*innen Unterstützung findet.

 

Dass emotionale Argumente die gesellschaftliche Diskussion und damit die Politik leiten, sehen wir auch im Bereich Gentechnik. Konventionelle Züchtung setzte früher auf zufällige Mutation im Genom, heute auf Mutationen durch radioaktive Bestrahlung oder den Einsatz aggressiver Chemikalien. Bei diesen Techniken kann und konnte nie ausgeschlossen werden, dass auch unabsichtliche und gar unbemerkte Veränderungen an anderen Eigenschaften der Pflanzen auftreten. So gab es beispielsweise Fälle, in denen der Gehalt eines bestimmten Stoffes (Glycoalkaloid) in den Pflanzen erhöht wurde, um sie besser vor Insekten und Krankheiten zu schützen. Erst später wurde entdeckt, dass dieser Stoff in erhöhter Menge zu Krankheiten beim Menschen führt.

 

Dieses Risiko gibt es selbstverständlich auch bei Sorten, die durch GM oder GE entwickelt wurden. Es ist bei diesen Verfahren jedoch kleiner, weil die Veränderungen, die vorgenommen werden, zielgerichteter sind und die Forscher*innen wissen, welche Gene verändert werden. Weshalb ist also das Misstrauen aus Verbraucher*innenperspektive gegenüber gentechnisch veränderten Pflanzen so viel höher als gegenüber konventionell gezüchteten? Auf wissenschaftlichen Fakten beruht dieser Unterschied in der Bewertung zumindest nicht. Für uns ist es nicht hinnehmbar, wenn politische Entscheidungen, hier die Bevorzugung einer Züchtungsart, auf irrationalen Annahmen und gefühlten Wahrheiten beruhen und damit für viele Menschen das Ergebnis dieser Politik weniger gut ist als es sein könnte.

 

2.2.          Welternährung sichern und den Klimawandel bekämpfen

Der Klimawandel ist die große Bedrohung der Menschheit im 21. Jahrhundert. Die Weltbevölkerung wächst. Beides stellt uns vor große Herausforderungen. Unsere Entscheidungen betreffen nicht nur uns, sondern auch Menschen an anderen Orten der Welt und künftige Generationen. Auch diesen Menschen gegenüber haben wir eine Verantwortung. Daher dürfen wir nicht einfach eine Maßnahme, eine technologische Möglichkeit, um diese Herausforderungen anzugehen von vornherein ausschließen ohne das Für und Wider rational zu bewerten.

 

Gesunde Nahrungsmittel und eine ausgewogene Ernährung dürfen kein Luxus sein. Entsprechend können wir das Gefälle beim Zugang zu gesunder Ernährung, das es innerhalb Deutschlands, aber auch global gibt, nicht akzeptieren.

 

2.3.          Das Urteil des EuGH zeigt den dringenden Handlungsbedarf.

Gentechnik wird in Deutschland seit den 1970er Jahren genutzt. 1990 wurde das Gentechnikgesetz (GenTG) als Rahmen für die Nutzung und Entwicklung von Gentechnik verabschiedet. Es soll vor allem Verbraucher*innen vor potentiellen Gefahren schützen.

 

Das GenTG definiert einen genetisch veränderten Organismus als „ein[en] Organismus, mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material in einer Weise verändert  worden ist, wie sie unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzungen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt“ (GenTG §3 Abs. 2a)). Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens fiel unter diese Definition die konventionelle Gentechnik. Jedoch werden im Begriff „gentechnische Arbeiten“ alle Methoden zur „Erzeugung gentechnische veränderter Organismen“ eingeschlossen (GenTG §3 Abs. 3). Das GenTG gilt in dieser Form auch heute noch, obwohl sich die Forschung stark weiterentwickelt hat und eine Differenzierung der Methoden nötig wäre.

 

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Jahr 2018 hat dem Thema neue Aktualität und Aufmerksamkeit verschafft. Es besagte, dass GE-Pflanzen in der EU genauso behandelt werden sollen wie mit konventioneller Gentechnik entwickelte Pflanzen (GVOs) und entsprechend gekennzeichnet werden müssen. Eine Unterscheidung zwischen GE- und nicht-GE-Pflanzen ist im Nachhinein nicht möglich und eine Kennzeichnungspflicht daher auch nicht umsetzbar. Andere wichtige Agrarexportländer wie die USA, Kanada oder Brasilien haben hingegen produktorientierte Regelungen, bei denen GE-Sorten nicht als Gentechnik eingeordnet werden und entsprechend nicht als solche gekennzeichnet werden müssen.

 

3.          Was ist das Problem?

 

3.1.          Der Markt für Lebensmittel auf Seite der Produzierenden in Deutschland und der EU.

 

3.1.1.          Eine kapitalistische Marktwirtschaft verfolgt nie unsere gesellschaftlichen Ziele.

Im Kapitalismus ist stets die Erwirtschaftung von Profiten das Ziel. Ein Unternehmen kann nach dieser Logik Profite nur durch Verkauf seiner Entwicklung, also dem neuen Saatgut und den damit verbundenen Produkten, wie Pestiziden erwirtschaften. Entsprechend wird ausgewählt, woran geforscht und was entwickelt wird. Dabei leiten folgende Prinzipien:

 

  1.  Die Entwicklung soll so günstig wie möglich sein.
  2.  Es sollten viele Landwirt*innen/Verbraucher*innen diese so veränderte Sorte nachfragen.
  3.  Es sollten zahlungskräftige Landwirt*innen/Verbraucher*innen nachfragen.

 

Daraus ergibt sich, dass Landwirt*innen, die ja wiederum selbst im Kapitalismus wirtschaften, Sorten nachfragen von deren verbesserten Eigenschaften sie finanziell profitieren. Als Beispiel hierfür zählen z.B. höhere Erträge durch größere Früchte oder durch einen geringeren Bedarf an Inputs wie Pestiziden oder Dünger, für die die Landwirt*innen zahlen müssten. Eigenschaften, für die die Landwirt*innen nicht vergütet werden, sind ökonomisch uninteressant.

 

Selbst wenn es eine große Gruppe an Verbraucher*innen gibt, die eine veränderte Sorte nachfragen würde, aber keinen entsprechend hohen Preis zahlen kann, wird diese nicht entwickelt.

 

Einige Forschungsziele werden daher von privaten Unternehmen gar nicht verfolgt, wie beispielsweise ein erhöhter Gehalt von Vitaminen oder Nährstoffen. Diese Eigenschaften sind nämlich nicht nur in einem Gen veranlagt (monogenetisch), sondern in mehreren (polygenetisch). Eine zielgerichtete Veränderung an mehreren Genen durchzuführen ist aufwendiger und entsprechend kostspieliger. Ein solches Beispiel öffentlicher Forschung ist der golden rice, einer Reissorte, die einen gesteigerten Gehalt von Vitamin A aufweist und  somit Mangelerscheinungen bekämpfen kann und von der ETH Zürich und dem International Rice Research Institute (IRRI) entwickelt wird.

 

3.1.2.          Die Aufteilung des Marktes unter wenigen Großkonzernen, die die Patente halten, ist problematisch.

Aktuell sehen wir eine hohe Konzentration auf dem Markt für Saatgut. Einige wenige Konzerne haben den Markt unter sich aufgeteilt und üben eine entsprechende Macht aus. Dies betrifft nicht nur Preise oder Konditionen zu denen Saatgut an Landwirt*innen in Deutschland und weltweit verkauft wird, sondern auch die Frage an was überhaupt geforscht und bis zur Zulassung entwickelt wird. Ein entscheidender Grund hierfür ist, dass die Entwicklung bislang aufwendig und die Kosten entsprechend hoch waren. Eine neue Sorte zu entwickeln lohnt sich nur, wenn sie an einen Großteil des Markts verkauft werden kann, weil es keine oder nur wenige konkurrierende Unternehmen gibt.

 

Die Genschere crispr/cas9 lässt einen Paradigmenwechsel erwarten. Diese Technologie macht es deutlich schneller und günstiger, das Genom einer Pflanze zu verändern und ermöglicht es auch in einem kapitalistischen Markt kleineren Unternehmen, die die hohen Fixkosten nicht tragen könnten, neue Sorten zu entwickeln.

 

Eine weitere Eigenschaft dieses Marktes ist die Verbindung des Verkaufs von Saatgut mit dem von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln. Viele der großen Konzerne haben sowohl eine Sparte für Saatgut, als auch für Dünge- oder Pflanzenschutzmittel. Wenn eine Sorte also beispielsweise auf ihre Toleranz hinsichtlich eines bestimmten Herbizids (=Unkrautvernichtungsmittel) entwickelt wird, wird genau dieses Mittel auch durch das entsprechende Unternehmen verkauft. Dies erhöht die Marktmacht des einzelnen Konzerns abermals.

 

3.2.          Gentechnik ist eine Frage internationaler und intergenerationaler Solidarität.

Die Industriestaaten leisten sich mit bio und gentechnikfreien Lebensmitteln eine verhältnismäßig ineffiziente Produktion dieser. Damit beanspruchen sie mehr Flächen und Ressourcen als notwendig wäre.

 

3.3.          Der Markt für Lebensmittel auf Seite der Konsumierenden in Deutschland und der EU.

Aktuell gibt es nur die Kennzeichnung “ohne Gentechnik”. Für viele Verbraucher*innen ist diese Kennzeichnung gleichbedeutend mit “natürlich” und “sicher”. Die Kennzeichnung in dieser Form wertet Produkte “ohne Gentechnik” bei den Verbraucher*innen auf – allerdings zu Unrecht. Konventionelle Züchtung mit Chemikalien oder Radioaktivität, die das Erbgut der Pflanze verändern, ist nicht “natürlicher” oder “sicherer” als Gentechnik. Für konventionelle Züchtung gibt es jedoch kein gibt es kein entsprechendes Siegel.

 

Da hier jedoch die nötige Aufklärung der Verbraucher*innen fehlt, unterstützt das “Ohne Gentechnik”-Siegel eher ein Bauchgefühl und keine Unterscheidung, die nach wissenschaftlichen Kriterien sinnvoll ist. Gerade jetzt, da belegte wissenschaftliche Erkenntnisse von Verschwörungsgläubigen als falsch verunglimpft werden und breite Teile der Bevölkerung für “fake news” und “alternative Fakten” zugänglich sind, sollten die politischen Akteur*innen besonders aufmerksam und sorgfältig sein.

 

4.          Was wollen wir?

Wissenschaftlicher Fortschritt soll dem Wohle aller dienen. Daraus ergeben sich für uns im Bereich Gentechnik zwei Hauptforderungen:

 

Wir wollen die Demokratisierung aller Lebensbereiche und den Schutz von Umwelt, Klima und Tieren

 

Was wie, wo und von wem produziert wird, muss demokratisch bestimmt werden. Das gilt für die Landwirtschaft wie für andere Bereiche der Produktion. Für die Landwirtschaft schließt das u.a. die Fragen ein, welches Saatgut und welche Dünge- und Pflanzenschutzmittel entsprechend genutzt werden oder auch wie viel Wasser und welches Land genutzt werden soll.

 

Als Internationalist*innen denken wir global und verfolgen diese Ziele für alle Menschen, ob in Deutschland, der EU oder an anderen Teilen der Welt. Unsere gesamtgesellschaftlichen Ziele sind folgende:

 

  • Ernährungssicherheit: Ernährungssicherheit ist gegeben, wenn alle Menschen zu jeder Zeit physischen und ökonomischen Zugang zu genügend und sicherer Nahrung haben und die ernährungsbezogenen Bedürfnisse sowie die Präferenzen für ein gesundes und aktives Leben sichergestellt werden können.
  • gute Arbeitsbedingungen für diejenigen, die in der Landwirtschaft und verbundenen Wirtschaftszweigen arbeiten und gute Lebensbedingungen für diejenigen, die direkt oder indirekt von der Landwirtschaft betroffen sind, weil sie beispielsweise als Anwohner*innen mit ihr in Kontakt kommen.
  • effiziente Nutzung der Ressourcen. Wir wollen schonend mit den Ressourcen unseres Planeten umgehen und uns solidarisch mit Menschen an anderen Teilen der Welt und künftigen Generationen zeigen. Keine Ressource, sei es Wasser, Boden oder die natürlichen Senken des Ökosystems, soll übernutzt werden. Neben der Produktion von Lebensmitteln und anderen Agrargütern sehen wir die Sicherung von Biodiversität und Klimaschutz als eins der Ziele der Landwirtschaft.

 

5.          Wie wollen wir unsere Ziele erreichen?

 

5.1.          Forschung und Produktion von Saatgut, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln in die öffentliche Hand!

Wir sehen nicht, dass man den Markt so umgestalten kann, dass diese gesamtgesellschaftlichen Ziele allein durch Marktmechanismen verfolgt werden.

 

Die öffentliche Hand muss sich stärker der Forschung und Entwicklung in den Bereichen Saatgut, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln annehmen. Dies muss zum einen über finanzielle Mittel geschehen. Zum anderen müssen die Regelungen, die aktuell Forschung an grüner Gentechnik unterbinden, gelockert werden. Die Forschung auf dem offenen Feld muss in Deutschland bzw. der EU erlaubt werden. Ohne diese ist keine anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung an Nutzpflanzen mithilfe von Gentechnik möglich.

 

Bei der Neustrukturierung des Marktes können wir uns vorstellen, dass die Forschung und die anwendungsorientierte Entwicklung bis hin zur Marktreife über Drittmittelprojekte finanziert wird, bei denen der Staat Ziele formuliert und ausschreibt und entsprechende Forschungsinstitute sich auf diese bewerben. Auch können wir uns vorstellen, dass staatliche Institute und öffentliche Unternehmen direkt mit der Forschung und Entwicklung betraut sind. Die Ziele der Forschung, die Methoden, die Sicherheit und gute Arbeitsbedingungen müssen selbstverständlich Teil der Vergabekriterien bzw. der Praxis in staatseigenen Unternehmen sein.

 

Wir sprechen uns klar gegen oligopole (die konzentrierte Marktmacht auf einige wenige Akteur*innen) Strukturen auf dem Markt aus. Die Entstehung von Oligopolen muss in jedem Fall kartellrechtlich verhindert werden. Bestehende Oligopole müssen aufgespalten werden. Unternehmenssektoren von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung müssen mindestens gesellschaftlicher Beteiligung unterliegen und zur Not komplett vergesellschaftet werden können. Hierbei muss das Kartellrecht den Saatgutmarkt und den Markt für Pflanzenschutz-/Düngemittel zusammendenken und darf nicht wie bisher die Unternehmenskonzentration auf dem einen Markt getrennt von der auf dem anderen Markt bewerten.

 

Neben der Entwicklung neuer Sorten mithilfe von Gentechnik, möchten wir auch die Forschung an alten, indigenen Sorten fördern: zum Einen bieten diese einen neuen Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen durch konventionelle Züchtung oder Gentechnik. Zum Anderen ist es möglich, dass diese alten Sorten durch veränderte Klimaverhältnisse an Orten abseits der traditionellen Anbaugebiete auch ohne großartige Weiterentwicklung sehr gute Ergebnisse liefern. Daher ist es wichtig, an diesen Stellen verstärkt zu forschen, Saatgutbanken zu unterhalten, sowie den Anbau dieser Sorten zu fördern. Wir müssen die genetische Vielfalt bei Nutzpflanzen erhalten, damit die Menschheit weiterhin auf diese zurückgreifen kann.

 

5.2.          Patente und Lizenzen am Gemeinwohl ausrichten!

Entwicklungen und Erkenntnisse, die mit öffentlichen Geldern finanziert wurden, dürfen nicht unentgeltlich an Private weitergegeben und von diesen kommerziell genutzt werden. Aktuell passiert das oft durch Ausgründungen aus nicht-kommerziellen Forschungsinstituten. Wir finden: Finanzielle Gewinne durch Erkenntnisse, die die Öffentlichkeit finanziert hat, sollen auch der Öffentlichkeit zufließen. Der Staat soll also Eigentümer sein von öffentlich finanzierten Erkenntnissen.

 

Wir möchten Rechte an Sorten bzw. Grundlagenforschung analog zu nicht-kommerziellen Creative Commons- und Open Source-Lizenzen im digitalen Bereich organisieren: So könnten nicht-kommerzielle Einrichtungen weiterhin öffentlich finanzierte Erkenntnisse als Basis nehmen, diese weiterentwickeln und müssen dafür kein Geld bezahlen. Aber sobald die Erkenntnisse kommerziell genutzt werden, müssten die Unternehmen Gelder an den Staat zur Nutzung der öffentlich finanzierten Forschung zahlen. So wird sichergestellt, dass es nicht wie aktuell den Anreiz für Unternehmen gibt, “bugs” (also Probleme oder ungenutzte Potentiale) versteckt zu halten und dass stattdessen viele verschiedene Einrichtungen weiterforschen um möglichst gute Nutzpflanzen für die Allgemeinheit zu entwickeln.

 

Ein erster Schritt kann hier sein, die Möglichkeit einer Patentierung von gentechnisch erzeugten Sorten abzuschaffen und diese mit konventionell erzeugten Sorten gleichzustellen. Für letztere gilt nämlich nur der Sortenschutz.

 

Außerdem setzen wir uns für eine Standardisierung von Saatguteigenschaften, Dünger, Pestiziden durch die Forschenden selbst ein. Ziel davon ist, dass nicht wie bisher nur ein Unternehmen den zum eigenen Saatgut passenden Dünger und die passenden Pestizide verkauft und damit allein schon Marktmacht ausüben kann, sondern dass auch andere Akteur*innen ansetzen und die entsprechenden ergänzenden Produkte entwickeln können.

 

Wir brauchen außerdem Rechtssicherheit für alle Landwirt*innen. Wenn sich durch Lizenzen geschützte Pflanzen z.B. durch Bestäubung über Wind mit den Pflanzen einer Landwirtin ohne deren Zutun vermischen, darf diese Landwirtin nicht rechtlich belangt werden können.

5.3.          Zulassungsverfahren angleichen!

Neue Sorten müssen zugelassen werden, bevor sie zur Nahrungsmittelproduktion angebaut werden und auch bei Pflanzenschutz- und Düngemitteln muss nachgewiesen werden, dass  sie nicht schädlich für Umwelt und Mensch sind. Tests müssen so durchgeführt werden,  wie Mensch und Umwelt mit diesen Sorten bzw. Mitteln in Kontakt kommen. So werden beispielsweise bei Glyphosat nicht die Langzeitfolgen von kleinen Dosen untersucht.

 

Aktuell müssen gentechnisch erzeugte Sorten einen viel aufwendigeren Zulassungsprozess durchlaufen als konventionell erzeugte Sorten. Dabei gibt es
 Beispiele von konventionell erzeugten Pflanzen, die erst zugelassen wurden und bei denen dann festgestellt wurde, dass sie die Gesundheit gefährden, z.B. durch einen zu hohen Glycoalkaloid-Gehalt. Die Zulassungsregeln sind also weder für konventionell noch gentechnisch erzeugte Sorten angemessen.

 

Wir wollen, dass härtere Zulassungsprozesse mit aufwendigen Testreihen für Sorten gelten, bei denen die Inhaltsstoffe der Pflanzen verändert wurden und/oder bei denen fremdes Genmaterial eingefügt wurde. Ist dies bei einer neuen Sorte nicht der Fall, soll sie wie gehabt unkompliziert zugelassen werden können. Ob sie nun konventionell oder mit Gentechnik gezüchtet wurde, soll also nicht weiter über die Art des Zulassungsverfahren entscheiden.

 

5.4.          Verbraucher*innen aufklären!

Wir brauchen mehr Aufklärung. Zum Thema Gentechnik im Vergleich zur konventionellen Züchtung herrscht an vielen Stellen noch sehr viel Unwissen. Als rationaler, wissenschaftsorientierter Verband ist es für uns wichtig, dass Information und Fakten zu diesem wie zu anderen Themen einfach und verständlich erreichbar sind und möchten dieses Feld nicht einzelnen Lobby-Vereinigungen überlassen.

 

Wir wollen mehr Informationen für Verbraucher*innen: Eine einseitige Kennzeichnung von “gentechnikfreien” Produkten ist wertend und irreführend. Wenn Züchtungsmethoden auf Produkten ausgewiesen werden, sollten alle ausgewiesen werden. Entsprechend sollte diese Information auch auf Produkten stehen, deren Züchtung mithilfe von radioaktiver Bestrahlung oder Chemikalien geschehen ist. In diesem Zusammenhang könnte auch eine Differenzierung bei der Kategorie “bio” angedacht werden. Einige Sorten, die mithilfe von Gentechnik entwickelt wurden, kommen beispielsweise besser ohne Pestizide aus, brauchen weniger Wasser oder Fläche und schonen so die Umwelt. Gentechnisch veränderte Nutzpflanzen bedrohen die Biodiversität nicht mehr als konventionell gezüchtete Sorten. Wenn aber gentechnisch veränderte Sorten mehr Ertrag pro Hektar liefern und somit Fläche stillgelegt werden kann, könnten diese Sorten einen Beitrag zum Schutz von Biodiversität leisten. Das alles sind für viele Konsument*innen von Bio-Produkten, wichtige Aspekte. Aktuell sind Sorten, die mit Gentechnik entwickelt wurden, allerdings kategorisch vom Bio-Siegel ausgeschlossen.

 

Im Sinne der internationalen und intergenerationalen Solidarität müssen wir so wenig Ressourcen wie möglich verbrauchen und dabei immer noch alle Menschen angemessen ernähren. Diese Ressourceneinsparung können wir mit neuen Sorten, auch gentechnisch veränderten Sorten vorantreiben, aber natürlich auch mit einer Verringerung der Lebensmittelverschwendung, beginnend auf dem Feld bis zum Haushalt, mit einer Verringerung des Konsums von besonders ressourcenintensiven Lebensmitteln und anderen. Die Verantwortung ist groß und wir können es uns nicht erlauben, eins dieser Instrumente kategorisch auszuschließen.

 

5.5.          Hoch die internationale Solidarität!

Wissenschaftler*innen und Erzeuger*innen können Erkenntnisse darüber liefern, was gebraucht wird. Daher wollen wir, dass Forschungs- und Entwicklungsgelder bereitgestellt werden, um Forschung in anderen Ländern zu fördern und internationalen Austausch zwischen Forschungseinrichtungen zu ermöglichen. Hierfür braucht es auch Forschungsstipendien, die einen Austausch in beide Richtungen sicherstellen.

 

 

 

Antrag 65/I/2021 “Ich glaub’ meine Katze pfeift” - Stoppt Catcalling!

18.03.2021

Im August 2020 startete die Studentin Antonia Quell eine Petition mit dem Titel “Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein.” Die Petition wird mittlerweile von UN Women, Pinkstinks Germany e.V. und The Female Company GmbH unterstützt. Doch was ist Catcalling überhaupt?

 

Das Urban Dictionary definiert Catcalling als übergriffige, sexuell aufgeladene Kommentare von Männern gegenüber Frauen. Darin enthalten sind Hinterherrufen, Hinterherpfeifen, abfällige Kommentare und andere obszöne Geräusche. In einer Online Befragung an der George Washington University gaben 809 von 811 befragten Frauen an, schon einmal Opfer von sexueller Belästigung auf der Straße gewesen zu sein. In anderen Studien auf der ganzen Welt berichten 60-90% der Frauen, Catcalling mindestens einmal in ihrem Leben erlebt zu haben. Doch von Catcalling sind nicht nur Frauen im Sinne der Zweigeschlechtlichkeit betroffen. Oft beziehen sich die Äußerungen auch erniedrigend auf äußere Merkmale, sodass von Catcalling neben vor allem weiblich gelesene Personen auch allgemein FLINT* (Frauen*, Lesben, Inter, nicht binäre und Transpersonen) betroffen sind.

 

Genderforscher*innen bezeichnen Catcalling bereits im Jahr 1993 als eine Form männlicher Herrschaft, weiblicher Unterdrückung und einen Ausdruck patriarchaler Macht. Indem Catcalling nicht als Straftatbestand geahndet wird, wird suggeriert, dass die Körper von FLINT* jederzeit verfügbar und kommentierbar sind, ihr Recht auf Privatsphäre wird verletzt und physische und geografische Mobilität eingeschränkt, da sie ihr Verhalten ändern, um Belästigungen auf der Straße zu vermeiden. Catcalling führt somit nicht nur zu Einschränkung im Alltag vieler FLINT*, es hat auch weitere negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen. Catcalling ist sexuelle Belästigung und damit Gewalt an FLINT*. Die psychischen Folgen reichen von Angststörungen und Depressionen zu schlechter Schlafqualität. Während es für die Täter meist keinerlei Konsequenzen gibt, haben Betroffene mit den Folgen von Catcalling also weit länger zu kämpfen, als nur während der Vorfälle selbst.

 

Aktuell ist Catcalling nicht strafbar. Diese fehlende Strafbarkeit zeigt auch, dass sexualisierte Gewalt viel zu oft unbeachtet bleibt  – gesellschaftlich wie rechtlich. Dies verstärkt die Normalisierung von sexulalisierter Gewalt. Die einzige Möglichkeit Catcalling zur Anzeige zu bringen, ist aktuell über den Straftatbestand der  Beleidigung. Die wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben dazu am 2. November 2020 einen Bericht abgeschlossen. Sie kommen darin zu dem Schluss, dass nach aktueller Rechtsprechung Catcalling nur dann unter den Straftatbestand der
 Beleidigung fällt, wenn neben der sexuell motivierten Äußerung auch eine “Ehrverletzung” zu erkennen ist. Somit fallen sexualisierte Äußerungen nicht unter Beleidigungen, sofern der Person nicht beispielsweise auch Geld oder anders für ihre Sexualität geboten werden würden. Damit ist die Verfolgung von Catcalling als Straftat aktuell sehr schwer umsetzbar.

 

Catcalling ist aber generell nicht gleichzusetzen mit Beleidigungen, da schon allein die verbalen Äußerungen sexuell konnotiert sind und somit sexualisierte Gewalt darstellen. Für den Strafbestand der sexuelle Belästigung setzt die aktuelle Gesetzeslage allerdings eine körperliche Berührung voraus. Somit ist es für Betroffene fast unmöglich sich gegen Catcalling rechtlich zu wehren und Täter fühlen sich somit sicher in ihrem Handeln. Catcalling muss daher endlich aus der rechtlichen Grauzone gehoben werden und juristisch handfest gemacht werden. Betroffene müssen die rechtliche Sicherheit haben, gegen dieses Verhalten vorgehen zu können. Verschiedene europäische Länder haben Catcalling bereits explizit als Straftat definiert. In Frankreich ist Catcalling nur dann zu ahnden, wenn die Tat im Beisein von Polizist*innen geschieht. Dies ist unzureichend, da Catcalling nur in seltenen Fällen bemerkt und entsprechend geahndet werden kann. In Belgien, Portugal und den
 Niederlanden ist das Beisein von Polizist*innen keine Voraussetzung für die Strafbarkeit. Catcalling wird in diesen Gesetzen als ungewollte Äußerungen oder Gesten definiert, die sexuell konnotiert sind. Die vorgesehenen Strafen reichen von Geldstrafen bis einem Jahr Gefängnis.

 

Die Strafbarkeit von Catcalling wird diese weitverbreitete Form sexualisierter Gewalt allerdings nicht allein vermindern. Breite Aufklärungskampagnen sind notwendig, um das Thema und deren negative Konsequenzen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und insbesondere ins Bewusstsein von Männer zu bringen.

 

Deshalb fordern wir:

  •  Eine entsprechende Anpassung des Strafgesetzbuchs, sodass Catcalling explizit einen Straftatbestand nach belgischen, niederländischen oder portugiesischem Vorbild darstellt.
  •  Catcalling muss eine breitere Öffentlichkeit finden. Wir fordern eine Aufklärungskampagne zum Thema Catcalling
  •  Zusätzlich zu der öffentlichen Kampagne muss das Thema Catcalling bereits in der Schule thematisiert werden, damit Kinder schon früh lernen die körperliche Autonomie von FLINT* zu respektieren. Insbesondere Jungs sollen dabei bezüglich ihrer Männlichkeitsbilder sensibilisiert werden