Antrag 77/I/2021 Gegen Institutionellen Rassismus – Arbeitshilfe zurücknehmen

Im April 2018 hat die Bundesagentur für Arbeit eine Arbeitshilfe zur „Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“ herausgegeben. Seitdem sind drei weitere, rhetorisch entschärfte, Auflagen erschienen. Zuletzt kam im Februar 2021 die Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ heraus. Das Papier soll Mitarbeiter*innen der JobCenter dabei unterstützen, Leistungsmissbrauch zu erkennen und zu bekämpfen. Keines der Papiere ist öffentlich einsehbar. Auch für Betroffene oder Beratungsstellen ist die Arbeitshilfe unzugänglich.

 

Gleichzeitig stellen Sozialverbände und Beratende eine verstärkt abweisende Praxis und Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit von Antragssteller*innen fest. Im November 2020 adressieren elf Verbände, darunter die GGUA Flüchtlingshilfe, Tacheles e.V., das Komitee für Grundrechte und Demokratie und die Landesarmutskonferenz Berlin einen Brief an das Bundesarbeitsministerium. Sie fordern unter anderem die Rücknahme der Arbeitshilfe und beschreiben die Praxis in den JobCentern.

 

So werden Leistungen unberechtigt abgelehnt, Antragsunterlagen zurückgehalten und Nachweise in unverhältnismäßigem Umfang gefordert. Ob Antragssteller*innen ihre Arbeitnehmer*inneneigenschaft glaubhaft machen können, liegt dabei oft auch bei ihren Arbeitgeber*innen. Vorzulegende Nachweise können außerdem Mietverhältnisse, Krankenversicherung und die Sicherung des Lebensunterhalts sein. Entsprechende Belege können über Jahre hinweg eingefordert werden. Bei Zweifeln kann die Entscheidung über Grundsicherung ausgesetzt werden.

 

Die Arbeitshilfe verkennt die Lebensrealität prekär Beschäftigter im Niedriglohnsektor in zweifacher Hinsicht: Für Betroffene bedeutet die Verweigerung von Leistungen eine verstärkte Abhängigkeit von ausbeuterischen Verhältnissen. Ihre Existenzängste bei fehlender Grundsicherung finden keine Berücksichtigung. Außerdem gelten Kündigungen nach kurzer Zeit, das Fehlen eines schriftlichen Arbeitsvertrages, eine fehlende Anmeldung bei der Unfallversicherung seitens des Betriebs, überhöhte Mieten und Wohnabhängigkeit als Kriterien um „bandenmäßigen Sozialleistungsmissbrauch“ zu erkennen. Diese Merkmale deuten aber gleichzeitig bzw. vielmehr auf ausbeuterische Arbeitsverhältnisse hin.

 

Die Situation wird dadurch verschärft, dass fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache und des deutschen Arbeitsrechts die Verhandlungsmacht der Betroffenen gegenüber Arbeitgeber*innen und JobCentern weiter einschränken. Wer dringend auf Grundsicherung angewiesen ist, diese aber nur spät oder gar nicht erhält, erlebt Existenzängste, das Risiko von Wohnungsverlust und soziale Verdrängung. Außerdem werden mit der Leistungsverweigerung auch andere integrative Angebote versperrt. Dazu gehören Krankenversicherung, Intergrations- und Sprachkurse und weitere Bildungsangebote.

 

Insbesondere Menschen mit rumänischer oder bulgarischer Staatsangehörigkeit sind betroffen. So gibt die Arbeitshilfe in diesen Fällen spezifische Handlungsempfehlungen zur Überprüfung der Identität der Antragssteller*innen. Hier werden Menschen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft stigmatisiert und Betroffene werden nicht mehr vorurteilsfrei behandelt. Prekär lebende rumänische und bulgarische Arbeiter*innen müssen bei einem Antrag auf Grundsicherung mit dem Vorwurf der „missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ rechnen. Belastbare Daten zu „kriminellen Banden“, ein weiter stigmatisierender Begriff, kann die Bundesagentur für Arbeit aber nicht vorlegen.

 

Dass Menschen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft oder zugeschriebenen sozialen Gruppenzugehörigkeit der Zugang zu dringend notwendigen Leistungen erschwert wird, widerspricht den grundlegenden Prinzipien eines sozialen Staates. Wer von Arbeitsausbeutung betroffen ist und nicht von seinem*ihrem Lohn leben kann, braucht Unterstützung, keine Kriminalisierung – auch um Abhängigkeitsverhältnisse zu durchbrechen.

 

Deshalb fordern wir:

  • Die Rücknahme der Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“
  • Dass sich künftige Arbeitshilfen der Bundesagentur für Arbeit an der Realität des prekären Arbeitsmarktes orientieren und öffentlich einsehbar sind
  • Sonderempfehlungen aufgrund von Staatsangehörigkeit oder zugeschriebener Herkunft ohne rechtliche Grundlage zu unterlassen
  • Statt aus Betroffenen Täter*innen zu machen: Verlässliche Hilfen und Informationen zur Unterstützung gegen ausbeuterische Arbeits- und Wohnverhältnisse in den JobCentern
  • Die Überprüfung und Bekämpfung von Mechanismen, die systematisch dazu führen, dass Menschen ihre Ansprüche auf Sozialleistungen vorenthalten werden
  • Regelmäßige Workshops und Schulungen für Mitarbeitende zum diskriminierungs- und rassismusfreien Umgang mit Klient*innen
Empfehlung der Antragskommission:
Annahme (Konsens)
Beschluss: Annahme
Text des Beschlusses:

Im April 2018 hat die Bundesagentur für Arbeit eine Arbeitshilfe zur „Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“ herausgegeben. Seitdem sind drei weitere, rhetorisch entschärfte, Auflagen erschienen. Zuletzt kam im Februar 2021 die Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ heraus. Das Papier soll Mitarbeiter*innen der JobCenter dabei unterstützen, Leistungsmissbrauch zu erkennen und zu bekämpfen. Keines der Papiere ist öffentlich einsehbar. Auch für Betroffene oder Beratungsstellen ist die Arbeitshilfe unzugänglich.

 

Gleichzeitig stellen Sozialverbände und Beratende eine verstärkt abweisende Praxis und Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit von Antragssteller*innen fest. Im November 2020 adressieren elf Verbände, darunter die GGUA Flüchtlingshilfe, Tacheles e.V., das Komitee für Grundrechte und Demokratie und die Landesarmutskonferenz Berlin einen Brief an das Bundesarbeitsministerium. Sie fordern unter anderem die Rücknahme der Arbeitshilfe und beschreiben die Praxis in den JobCentern.

 

So werden Leistungen unberechtigt abgelehnt, Antragsunterlagen zurückgehalten und Nachweise in unverhältnismäßigem Umfang gefordert. Ob Antragssteller*innen ihre Arbeitnehmer*inneneigenschaft glaubhaft machen können, liegt dabei oft auch bei ihren Arbeitgeber*innen. Vorzulegende Nachweise können außerdem Mietverhältnisse, Krankenversicherung und die Sicherung des Lebensunterhalts sein. Entsprechende Belege können über Jahre hinweg eingefordert werden. Bei Zweifeln kann die Entscheidung über Grundsicherung ausgesetzt werden.

 

Die Arbeitshilfe verkennt die Lebensrealität prekär Beschäftigter im Niedriglohnsektor in zweifacher Hinsicht: Für Betroffene bedeutet die Verweigerung von Leistungen eine verstärkte Abhängigkeit von ausbeuterischen Verhältnissen. Ihre Existenzängste bei fehlender Grundsicherung finden keine Berücksichtigung. Außerdem gelten Kündigungen nach kurzer Zeit, das Fehlen eines schriftlichen Arbeitsvertrages, eine fehlende Anmeldung bei der Unfallversicherung seitens des Betriebs, überhöhte Mieten und Wohnabhängigkeit als Kriterien um „bandenmäßigen Sozialleistungsmissbrauch“ zu erkennen. Diese Merkmale deuten aber gleichzeitig bzw. vielmehr auf ausbeuterische Arbeitsverhältnisse hin.

 

Die Situation wird dadurch verschärft, dass fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache und des deutschen Arbeitsrechts die Verhandlungsmacht der Betroffenen gegenüber Arbeitgeber*innen und JobCentern weiter einschränken. Wer dringend auf Grundsicherung angewiesen ist, diese aber nur spät oder gar nicht erhält, erlebt Existenzängste, das Risiko von Wohnungsverlust und soziale Verdrängung. Außerdem werden mit der Leistungsverweigerung auch andere integrative Angebote versperrt. Dazu gehören Krankenversicherung, Intergrations- und Sprachkurse und weitere Bildungsangebote.

 

Insbesondere Menschen mit rumänischer oder bulgarischer Staatsangehörigkeit sind betroffen. So gibt die Arbeitshilfe in diesen Fällen spezifische Handlungsempfehlungen zur Überprüfung der Identität der Antragssteller*innen. Hier werden Menschen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft stigmatisiert und Betroffene werden nicht mehr vorurteilsfrei behandelt. Prekär lebende rumänische und bulgarische Arbeiter*innen müssen bei einem Antrag auf Grundsicherung mit dem Vorwurf der „missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ rechnen. Belastbare Daten zu „kriminellen Banden“, ein weiter stigmatisierender Begriff, kann die Bundesagentur für Arbeit aber nicht vorlegen.

 

Dass Menschen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft oder zugeschriebenen sozialen Gruppenzugehörigkeit der Zugang zu dringend notwendigen Leistungen erschwert wird, widerspricht den grundlegenden Prinzipien eines sozialen Staates. Wer von Arbeitsausbeutung betroffen ist und nicht von seinem*ihrem Lohn leben kann, braucht Unterstützung, keine Kriminalisierung – auch um Abhängigkeitsverhältnisse zu durchbrechen.

 

Deshalb fordern wir:

  • Die Rücknahme der Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“
  • Dass sich künftige Arbeitshilfen der Bundesagentur für Arbeit an der Realität des prekären Arbeitsmarktes orientieren und öffentlich einsehbar sind
  • Sonderempfehlungen aufgrund von Staatsangehörigkeit oder zugeschriebener Herkunft ohne rechtliche Grundlage zu unterlassen
  • Statt aus Betroffenen Täter*innen zu machen: Verlässliche Hilfen und Informationen zur Unterstützung gegen ausbeuterische Arbeits- und Wohnverhältnisse in den JobCentern
  • Die Überprüfung und Bekämpfung von Mechanismen, die systematisch dazu führen, dass Menschen ihre Ansprüche auf Sozialleistungen vorenthalten werden
  • Regelmäßige Workshops und Schulungen für Mitarbeitende zum diskriminierungs- und rassismusfreien Umgang mit Klient*innen
Beschluss-PDF:
Überweisungs-PDF: