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Antrag 71/II/2015 Fasst Euch ein Herz - Organspendepraxis verbessern

16.10.2015

Die Etablierung der Organtransplantation in den 1950er Jahren ist zweifellos ein Meilenstein in der Medizingeschichte und rettete bis heute ungezählten Menschen das Leben. Eine Reihe von Skandalen in der Zuweisung von Organen um das Jahr 2012 führte aber zu einem alarmierenden Einbruch der Spendenzahlen, der bis heute nicht überwunden ist. Um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und insgesamt einen höheren Erfolg bei Organtransplantationen zu erreichen, sollen daher folgenden Maßnahmen beschlossen werden:

 

1) Widerspruchslösung einführen

 

Forderung: Das Transplantationsgesetz soll dahingehend überarbeitet werden, dass alle in Deutschland verstor­benen Personen grundsätzlich als Organspender*innen gel­ten und diesen Status erst durch einen schriftlichen Widerspruch verlieren. Alle Staatsbürger*innen mit Wohnort in Deutschland müssen in regelmäßigen Abständen über die relevanten medizinischen und organisatorischen Aspekte der Organspende informiert sowie deutlich erkennbar auf die Mög­lichkeit zum Widerspruch hingewiesen werden.

 

Zu prüfen ist auch die Einführung einer separaten Information und Widerspruchsmöglichkeit für Personen, die sich nur kurzzeitig im Bundesgebiet. Vor jeder Organentnahme muss überprüft werden, ob zu Lebzeiten ein Widerspruch eingelegt wurde. Jede*r muss einen Widerspruch unkompliziert und kostenfrei erklären können. Die Widerspruchslösung wird gültig mit Eintritt in die Volljährigkeit. Bei potentiellen minderjährigen Organspender*innen sollen die nächsten Angehörigen dem mutmaßlichen Willen des oder der Minderjährigen entsprechend über eine Organspende entscheiden. Bei Personen, die wegen geistiger Behinderung, langfristiger Bewusstlosigkeit o. ä. zu keinem Zeitpunkt als Erwachsene Widerspruch einlegen konnten, entscheiden die Angehörigen über eine Organspende.

 

Analyse: Im Jahr 2013 standen in Deutschland 876 tatsächlichen Organspenden über 10.000 bedürftige Patienten*innen gegenüber. Dieses Missverhältnis ist hauptsächlich durch eine geringe Mobilisie­rung der Bevölkerung zu erklären: Obwohl 68 % der Menschen zu einer Organspende bereit sind, besitzen nur 28 % einen Spendenausweis und gaben damit eine eindeutige Entscheidung ab. Von 1.370 potentiellen Organspenden 2013 wurden 402 durch die Ablehnung der Angehörigen verhin­dert. Um diesen umfassenden Mangel zu beheben und für klare Entscheidungen zu sorgen, wird gemäß des Votums des 113. Ärztetag aus dem Jahr 2010 eine Widerspruchslösung nach Vorbild Österreichs, Belgiens und anderen Ländern eingeführt.

 

2) Werbung für Organspende intensivieren

 

Forderung: Angesichts der rückläufigen Spendebereitschaft müssen auf allen Ebenen die Aufklärung über und Werbung für eine größere Aufmerksamkeit in der breiten Bevölkerung umgesetzt werden. Dazu soll eine Verstärkung der physischen Präsenz durch Informationsstände und Vorträge an Schulen erwogen werden.

 

3) Qualitätsmanagement im medizinischen Bereich stärken

Forderung: Das Bundesgesundheitsministerium wird in Zusammenarbeit mit Fachverbänden der Pflege und Medizin bereits in medizinischen Ausbildungen ein stärkeres Bewusstsein für problematische Arbeitsabläufe sowie die Bereitschaft zu deren Kritik und Verbesserung schaffen. Ansatzpunkte kann eine vertiefende Einführung oder Weiterentwicklung von Fehlermeldesystemen sein.

 

4) Überstundenregelungen für Krankenhauspersonal durchsetzen

Forderung: Das Bundesgesundheitsministerium wird in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften eine effektive Er­fassung und Begrenzung von Überstunden für ärztliches und pflegerisches Personal durchsetzen. Dazu sollen die Einführung von elektronischen Arbeitszeiterfassungssystemen vorgeschrieben und die Gewerbeaufsichtsämter zu einer stärkeren Kontrolle motiviert werden. Ebenfalls muss die Krankenhausfinanzierung entsprechend geändert werden, um die durch die Reduzierung der Überstunden nötigen zusätzlichen Arbeitskräfte einstellen zu können.

Analyse: Im MB-Monitor 2013 gaben von den dort befragten Ärzt*innen etwa 75 % an, mehr als 48 Stunden pro Woche zu arbeiten; 3 % davon sogar 80 Stunden oder mehr. 71 % der Beschäftigten verspürten Krankheitserscheinungen wie Schlafstörungen oder Übermüdung als Folge von Überstunden.Im Pflege-Thermometer 2009 gaben von den dort befragten Pflegekräften 40 % der Befragten an, zwischen 46 und 70 Überstunden geleistet zu haben. „Hochgerechnet auf alle Gesundheits- und Krankenpflegenden in Krankenhäusern in Deutschland wurden damit in den letzten sechs Monaten vor der Befragung Überstunden für rund 15.000 zusätzliche Vollzeitkräfte in Deutschland geleistet.“ Die Folgen solcher Belastungen für die menschliche Leistungsfähigkeit können bei der Arbeit im Krankenhaus zu schwerwiegenden Fehlern führen: Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung MDK stellte in seiner Behandlungsfehler-Begutachtung für das Jahr 2014 insgesamt 155 Todesfälle und 1.294 Fälle von verschieden ausgeprägten Dauerschäden durch medizinische Behandlungsfehler fest. Der MDK-Leiter Patientensicherheit Max Skorning stellt unter den vielfältigen Ursachen für Behandlungsfehler auch Übermüdung fest. In Umfragen unter Ärzt*innen aus Japan 2005 und Neuseeland 2007 räumten 42 % bzw. 26 % ein, Fehler aus Schlafmangel begangen zu haben. Auch um erfolgreiche Organtransplantationen zu gewährleisten, muss die Ausbeutung durch Überstundenarbeit beseitigt werden. Ansatzpunkt bildet dabei die mangelhafte Verwaltung: Bei 53 % der im MB-Monitor 2013 Befragten werden Überstunden nicht einmal ausreichend dokumentiert, womit die Grundlage für eine berechtigte Abgeltung fehlt.

 

Zur Lösung trägt zunächst die Einsetzung von elektronischen Arbeitszeiterfassungssystemen bei, die im Vergleich zu handschriftlichen Alternativen meist weniger leicht manipulierbar sind. Selbst wenn nachweislich mehr Arbeit als erlaubt geleistet wird, sehen sich viele Beschäftigte nicht in der Lage, ihr Anrecht gegenüber den Vorgesetzten einzufordern, weil dies nur mit einer verringerten Betriebsfähigkeit der Klinik und damit auf Kosten der Patienten*innen einher gehen würde. Daraus ergeben sich zwei Anforderungen: Zum Einen müssen stärkere Kontrollen der Arbeitszeitvereinbarungen durch die zuständige Gewerbeaufsicht durchgeführt werden, wie sie der Marburger Bund seit Langem fordert. Zum Anderen wird eine angemessene Neuregelung der Krankenhausfinanzierung nötig, weil das deutsche System diagnosebezogener Fallgruppen („German Diagnosis Related Groups“, G-DRG), die Investitionskostenzuschüsse der Länder und andere Finanzierungsquellen der Krankenhäuser gegenwärtig unzureichend sind – es ist zu befürchten, dass bei einer angemessenen Begrenzung von Überstunden die derzeitige Personalstärke in den meisten Krankenhäusern nicht ausreichen würde, um einen ordnungsgemäßen Betrieb zu leisten.

Antrag 61/II/2015 Jungen Geflüchteten helfen – statt Menschenbeschau!

16.10.2015

Wir fordern die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, die zuständigen Stadträt*innen in den Bezirken und die Mitglieder des Abgeordnetenhauses auf, dafür zu sorgen, dass keine demütigenden, die Menschenwürde verletzenden Altersfeststellungen bei jungen (unbegleiteten) Geflüchteten mehr stattfinden. Es sind insbesondere die Ganzkörperbeschauung – einschließlich des Genitalbereiches – und medizinisch nicht notwendigen Röntgenaufnahmen sofort einzustellen. Stattdessen muss die Altersangabe der*des Geflüchteten maßbeglich sein.

 

Eine demütigende Praxis in Berlin und Hamburg

In Berlin – wie auch in Hamburg – finden Untersuchungen statt, die den Genitalbereich der Geflüchteten einschließt. Außerdem werden in beiden Städten Röntgenaufnahmen – z.B. der Handwurzelknochen und dem Schlüsselbein-Brustbein-Gelenk – angefertigt. Die Charité nimmt diese Prozeduren im Auftrag der Jugendämter vor. Die Jugendämter nehmen offensichtlich die hohen Kosten für die Untersuchungen in Kauf, um den Geflüchteten die Leistungen der Jugendhilfe verweigern zu können. Ihren eigenen Angaben wurde in diesen Fällen nicht geglaubt. In den letzten Jahren berichteten Medien wiederholt davon, wie so Ämter versuchten, für junge Geflüchteten von der Jugendhilfe fernzuhalten.

 

Medizinisch hochfragwürdige Untersuchungen

Diese Altersfeststellungen sind medizinisch mindestens fragwürdig, wenn nicht ganz und gar unhaltbar. Die Kritik von anerkannten Mediziner*innen wurde bisher in Berlin leider bisher gänzlich ignoriert. Schon wenn nur ein Zweifel an den Untersuchungen bestünde, dürften sie nicht über Schicksale entscheiden.

 

Eine scheinbare „Freiwilligkeit“

Die hin und wieder suggerierte „Freiwilligkeit“ ist ein Trugschluss. Sich den Untersuchungen zu verweigern, bedeutet schlicht nicht die Unterstützung als anerkannter Minderjähriger zu erhalten. Entsprechende Papiere, mit denen sie ihr Alter beweisen könnten, führen die Jugendlichen nach einer beschwerlichen, lebensgefährlichen Flucht häufig nicht mit sich – wenn sie diese Nachweise im Herkunftsland überhaupt bekommen konnten.

 

Fehlende Rücksicht gegenüber Jugendlichen

Viele von ihnen sind traumatisiert. Sie haben nicht selten Gewalt erfahren – darunter möglicherweise auch sexualisierte Gewalt. Es kann deshalb nicht verantwortet werden, sie derartigen Situationen auszusetzen. Zudem sind die betroffenen jungen Geflüchteten noch in einer Sexualentwicklung, sodass sie die Untersuchungen als besonders demütigend wahrnehmen könnten.

 

Ungerechtfertigte Röntgenaufnahmen

Unter Mediziner*innen ist es anerkannte Lehrmeinung, dass medizinisch unbegründete Röntgenstrahlungen zu vermeiden sind. Eine Altersfeststellung stellt nach unserer Auffassung keinen hinreichenden Grund da, Jugendliche dieser Gesundheitsgefährdung gezielt auszusetzen.

 

Zügige Hilfe ist möglich

Vielmehr müssen die Jugendhilfe-Angebote für Geflüchtete genutzt und ausgeweitet werden. Weil ohnehin individuelle Entwicklungsstände der Ansatz für alle diese Maßnahmen sein sollten, besteht gar keine Notwendigkeit das exakte Alter auf den Monat oder Jahr genau – was wie gesagt gar nicht möglich wäre – zu bestimmen.

 

Andere Bundesländer sehen keine Notwendigkeit solcher Altersfeststellungen

Alle anderen Bundesländer – außer Hamburg – verzichten gänzlich auf nicht medizinisch gesicherten Altersfeststellungen und stellen in der Regel jungen Geflüchtete nicht unter Generalverdacht, falsche Altersangaben zu machen. Die Vorgaben sind in den meisten Bundesländern, den Aussagen der Geflüchteten zu glauben. In massiven Zweifelsfällen werden Gespräche mit Sozialpädagog*innen oder anderen Expert*innen herangezogen. Fehlerhafte Beurteilungen können dabei zwar auftreten, aber die Demütigung fällt weg. Schlussendlich hilft nur, dass die Behörden die Geflüchteten nicht als Problem ansehen, sondern die Chancen einer sofortigen, individuellen Unterstützung sehen.

Antrag 125/I/2015 Höhere finanzielle Förderung von Freizeitaktivitäten für bedürftige Kinder und Jugendliche im Rahmen des „Bildungspakets“

15.05.2015

Die sozialdemokratischen Mitglieder des Bundestags mögen sich für eine finanzielle Erhöhung, mindestens aber eine Verdopplung des Beitrages zur Förderung der Teilnahme an Sport, Musik, Kultur etc. im Rahmen des „Bildungspaketes“ für bedürftige Kinder und Jugendliche, deren Eltern leistungsberechtigt nach dem SGB II sind (insbesondere Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld) bzw. Leistungen nach § 2 AsylbLG, Sozialhilfe, den Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen, einsetzen.

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Auch die Mitglieder des sozialdemokratisch geführten Berliner Senats sind dazu aufgefordert zu eruieren, wie sie dies durch einen Eigenanteil kofinanzieren können.

Antrag 172/I/2015 Für eine Hauptstadt der Versammlungsfreiheit!

15.05.2015

Die Versammlungsfreiheit – Eckpfeiler der Demokratie

„Eines der elementarsten Menschenrechte ist die Versammlungsfreiheit und das muss sie auch bleiben. Im Grundgesetz (GG) wird sie in Art. 8 als Grundrecht abgesichert.“  Sie ist kein Übel, sondern eine Bedingung der Demokratie. Mit allen Mittel muss sie geschützt werden und darf nur bei scherwiegenden Gründen minimal eingeschränkt werden. Hürden, die die Teilnahme erschweren oder einschränken könnten, dürfen nicht aufgebaut und – wenn möglich – müssen sie aktiv beseitigt werden. Dieser Aufgabe sind alle Verfassungsorgane verpflichtet.

 

Die Versammlungsfreiheit ist aber kein selbstverständlich gesichertes Recht: So musste 1985 das Bundesverfassungsgerichts angerufen werden. In dem bekannten Brokdorf-Urteil stellte es klar, dass keinesfalls leichtfertig Hand an die Versammlungsfreiheit gelegt werden darf. Seit dem (und schon davor) beschäftigen sich aber immer wieder Gerichte damit, dass Behörden unzulässig Versammlungen einschränkten.

 

Die nicht gewährleistete Versammlungsfreiheit

Jüngere Beispiele: Den „Mahngang Täterspuren“ des Bündnisses „Dresden nazifrei“ verboten das Dresdner Ordnungsamt faktisch, indem sie sie ihn willkürlich verlegten, um den Neonazis Raum für ihre menschenverachtende Propaganda zu schaffen. Die konservative „Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)“ titelte „Teheran, Damaskus, Minsk – Dresden“. 2013 erklärte das Verwaltungsgericht Dresden die Verlegung für rechtswidrig. Hinzu kam eine massive Repressionswelle, die Menschen vom Protest gegen Neonazis abhalten sollte. Dafür überzogen sächsische Behörden einzelne Personen mit haltlosen Strafanzeigen und stellten alle Demonstrierenden (per Funkzellenabfrage) unter einen Generalverdacht strafbarer Handlungen.

 

Ebenso skandalöse Fälle spielten sich 2012 und 2013 in Frankfurt ab: Im ersten Jahr verboten die hessischen Behörden alle Versammlungen des Bündnisses „Blockupy“. Im zweiten Jahr kesselte die Polizei willkürlich einen Teil der Großdemonstration ein, sodass der restliche Demonstrationszug daran gehindert war, den Weg fortzusetzen. So sollte Kritik an der aktuellen Wirtschaftspolitik und dem Kapitalismus unterbunden werden. Zudem mussten die Demonstrierenden unverhältnismäßig lange ausharren. Diese Eskalationslinie setzte die Polizei 2015 fort.

 

Nein zu Abfilmen von Demonstrationen, polizeilicher Vorratsspeicherung und „Unterbindungsgewahrsam“

Berlin schlägt momentan die gleiche gefährliche Richtung ein: So wurde es 2014 der Polizei erlaubt, Demonstrationen – ohne das eine Straftat vorliegt – grundlos abzufilmen. (Schon bei der ersten Anwendung am 1. Mai verstieß die Polizei gegen die Einschränkung, indem sie nicht alle Veranstaltungsleiter*innen über ihre Filmaufnahmen informierte.) Erklärtermaßen soll diese Regelung in kommendes Versammlungsgesetz übernommen werden. Selbst der Landesverfassungsgerichtshof hat festgestellt, dass das Abfilmen Menschen davon abhalten kann, für ihre Positionen zu demonstrieren. Das ist für uns und laut Beschluss des Landesparteitags für die Berliner SPD nicht hinnehmbar! Schon seit mehreren Jahren speichert die Berliner Polizei in einer Datenbank personenbezogene Daten von Versammlungsanmelder*innen. Diese polizeiliche Vorratsspeicherung lehnen wir entschieden ab! Sie könnten Menschen davon abhalten, eine Versammlung überhaupt erst anzumelden. Zudem soll der sogenannte „Unterbindungsgewahrsam“ von zwei Tagen auf vier Tage verdoppelt werden. Für uns ist es nicht mit einem Rechtsstaat und einer Demokratie hinnehmbar, dass Menschen ohne Verdacht einer Straftat inhaftiert werden, sodass sie nicht an Versammlungen teilnehmen können!

 

Für ein progressives Landesversammlungsgesetz

Berlin steht als größte Stadt der Bundesrepublik Deutschlands und als die Bundeshauptstadt besonders im Fokus: Hier wird am besten demonstriert, weil ihr viele Adressat*innen des Protestes sitzen. Dieser Verantwortung muss die Berliner Landespolitik gerecht werden. Seit der Föderalismusreform von 2006 hat jedes Bundesland die Möglichkeit, ein eigenes Versammlungsgesetz zu erlassen – ansonsten gilt das Bundesversammlungsgesetz 1953 weiter.

Einige Bundesländer haben genau das in Angriff genommen. Das Ergebnis: gruselig, bedenklich und verfassungs-„feindlich“. Bekannte Beispiele des Scheiterns sind Sachsen, Bayern und Niedersachsen. Die Bundesländer nutzten ihre neue Kompetenz meist dazu, das Versammlungsrecht weiter einzuschränken. Das widerspricht dem sozialdemokratischen Politikverständnis. Berlin sollte jetzt vorangehen und in der kommenden Legislaturperiode das erste progressive Versammlungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland vorlegen!

 

Was macht ein progressives Versammlungsgesetz aus und was muss unternommen werden?

 

a) Die Bannmeilen müssen abgeschafft oder so weit wie möglich verkleinert werden. Die Nähe zum Objekt der Demonstration muss gesichert sein, das heißt nicht weiter als 50 Meter Entfernung. Es darf außerdem keine überschneidenden Bannmeilen geben – wie es beim Berliner Abgeordnetenhaus und dem Bundesfinanzministerium der Fall ist. Die Schutzbereiche um Gedenkstätten müssen selbstverständlich erhalten bleiben.

 

b) Die Internetwache der Berliner Polizei sorgt grundsätzlich für leicht durchzuführende Versammlungsanmeldungen. Es darf jedoch nicht sein, dass beispielsweise in Form von Sondernutzungsanträgen weitere Anmeldungen notwendig werden, wenn Bahnhofsvorplätze oder andere öffentliche Orte von den Anmeldungen berührt sind. Eine zentrale Stelle (mit entsprechender Website) muss als One-Stop-Agency fungieren. Sobald sie Zeitpunkt und geplanter Verlauf der Versammlung erhalten hat, muss sie selbst alle weiteren Schritte erledigen. Die angemeldete Veranstaltung wird sofort in einem Art Veranstaltungskalender veröffentlicht. Zukünftig muss die Pflicht entfallen, erst eine Veranstaltung anzumelden, bevor sie beworben werden darf. Diese Regelung ist überflüssig. Die Anmeldefristen dürfen sich nur noch nach einem festgelegten, möglichst kurzen Zeitaufwand für Information der Öffentlichkeit, verkehrstechnische Maßnahmen oder Ähnliches richten. Hierbei darf sich die aktuelle Frist nicht verlängern.

 

c) Die Auflagen haben ein überbordendes Ausmaß angenommen. Dazu wird der Versammlungsleitung noch mit horrenden Straften bei Verstößen gedroht. Auflagen müssen auf ein Minimum reduziert werden. Sie schrecken wiederum ab, überhaupt das Recht eine Demonstration anzumelden zu nutzen. So dürfen beispielsweise Demonstrationsrouten nur mit Einwilligung der Versammlungsleitung geändert werden. Generell müssen die Rechte der Anmelder*innen und der Versammlungsleitung ausgebaut und ihre Pflichten abgebaut werden. Für einzelne Handlungen auf Demonstrationen können sie nicht verantwortlich gemacht werden, sondern ausschließlich der*die jeweilige Demonstrierende. Das momentane Verständnis ihrer Rolle erinnert mehr an einen autoritären Obrigkeitsstaat. Verpflichtende Anmeldegespräche sind folgerichtig ebenso abzuschaffen wie die Auflage, Ordner*innen zu stellen. Jedoch sollen Anmelder*innen die Möglichkeit behalten, Ordner*innen anzumelden. Trotz des grundsätzlichen Abbaus von Auflagen muss eine neue Regelung in das Versammlungsgesetz integriert werden, dass ein Durchgreifen bei rassistischen, antisemitischen, antiziganistischen, LGBTIQ*-feindlichen und sonstigen Äußerungen, die in den Bereich der gruppenbezogen Menschenfeindlichkeit fallen, ermöglicht werden. So muss es die Möglichkeit geben, Teilnehmer*innen, die sich entsprechend geäußert haben, von der Versammlung auszuschließen. Bei wiederholten Verstößen und systematischer Weigerung der Veranstalter*innen gegen diese Verstöße vorzugehen, muss auch eine Auflösung der Versammlung in Betracht gezogen werden können.

 

d) Die Daten zu Demonstrierenden, mitgeführten Sachen oder zu den Anmelder*innen dürfen nicht gespeichert werden. Es gibt keinerlei Gründe, warum Menschen bei der Ausübung dieses Grundrechtes erfasst werden müssen. Wieder besteht die Gefahr eines abschreckenden Generalverdachts. Es dürfen auf dem Weg zur Versammlung oder auf ihr selbst keine Personalien festgestellt werden, wenn keine Straftat vorliegt. So muss es der Polizei auch untersagt sein, Personen auf ihren Aufenthaltsstatus hin zu überprüfen.

 

e) Es dürfen keine angemeldeten Kundgebungen oder Versammlungen (beispielsweise von Neonazis) mehr verheimlicht werden. Gegendemonstrationen dürfen weder untersagt oder unterbunden werden. Denn die Demonstrationsfreiheit beinhaltet das Recht auf Gegendemonstration. Vielmehr muss darauf geachtet werden, dass das Versammlungsrecht nicht zu menschenverachtender Propaganda missbraucht wird. Der Gegenprotest muss in Hör- und Sichtweite stets aktiv durch die Polizei ermöglicht werden (50-Meter-Regel). Blockaden, auch Blockaden auf Versammlungsstrecken, werden nicht als Straftat verfolgt.

 

f) Das Vermummungsverbot muss ebenso wie Reglungen zur „Passivbewaffnung“ ersatzlos aufgehoben werden. Es wird häufig willkürlich gehandhabt und von der Polizei nicht selten als Vorwand genutzt, um eine Demonstration zu behindern. Das Recht auf anonyme Meinungsäußerung wiegt weit mehr als der polizeiliche Wunsch nach Strafverfolgung. Folglich existiert das Vermummungsverbot in kaum einer Demokratie der Welt. Menschen müssen beispielsweise in Folge von Demonstrationen für Arbeitnehmer*innenrechten, gegen Homophobie oder gegen Neonazis mit negativen Folgen rechnen.

 

g) Die Vorfeldkontrollen stellen alle Versammlungsteilnehmer*innen unter Generalverdacht. Wir lehnen sie ab. Weil ein Demonstrationszug in der Regel weder permanent von Polizist*innen eingekesselt wird noch das erstrebenswert wäre, sind die Vorfeldkontrollen rein symbolisch und bringen keine Mehrwert für die Sicherheit. Sie sind deshalb auch ein unnötiger Aufwand für die Polizist*innen.

 

h) Die Teilnahme darf niemanden untersagt werden, sondern muss im Sinne des Grundrechtes aktiv ermöglicht werden. Reiseverbote, willkürliche Platzverweise oder „Unterbindungsgewahrsam“ sind weder verhältnismäßig noch mit dem Grundrecht vereinbar. Gleiches gilt für Gefährder*inansprachen, die betreffende Personen von einer Teilnahme abhalten soll.

 

i) Alle Polizist*innen, auch diejenigen, die im Rahmen der Amtshilfe aus anderen Bundesländern nach Berlin entsendet werden, haben bei der Begleitung von Versammlungen gut sichtbare und leicht erkennbare Kennzeichnungen zu tragen sowie ihre Kennzeichnungsnummern auf Anfrage unverzüglich herauszugeben. Die Berliner Polizei hat hierfür Kennzeichnungsnummern vorrätig zu halten und soll eine Liste darüber führen, an welche*n Beamt*in die Nummer ausgegeben wurde.

 

j) Eine Abschaffung der bisher in einem anderen Gesetz geregelten Übersichtsaufnahmen

 

k) Bild- und Tonaufnahmen dürfen durch die Polizei nur dann angefertigt werden, wenn es konkrete Anhaltspunkte gibt, dass von Teilnehmer*innen der Versammlung eine erhebliche Gefahr für besonders geschützte Rechtsgüter, insbesondere Leib, Leben, körperliche Unversehrtheit oder Sachen von bedeutendem, historischem oder gesellschaftlichem Wert ausgeht.

 

l) Der Einsatz von Pfefferspray darf nur in Ausnahmefällen erfolgen und ist nur zulässig, wenn kein milderes Vorgehen zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben anwendbar ist. Jeder einzelne Einsatz ist zu protokollieren und bedarf einer nachträglichen Prüfung. Es soll grundsätzlich nur zur Selbstverteidigung der Beamt*innen eingesetzt werden und insbesondere nicht als sogenanntes Riot Control Agency. Vor dem Pfefferspray-Einsatz, der immer von der Einsatzleitung begründet angeordnet werden muss, müssen Orte für medizinische Versorgung eingerichtet und verständlich bekannt gegeben werden.

 

m) Der Unterbringungsgewahrsam gehört abgeschafft. Eine Inhaftierung von Menschen aufgrund des Verdachtes der Möglichkeit einer Straftatbegehung verstößt nicht nur gegen unser Menschenbild, sondern auch gegen den dem Strafrecht immanenten Grundsatz, keine Strafe ohne Straftat und dem Resozialisierungsgedanken.

 

Das Berliner Landesversammlungsgesetz muss versammlungsfreundlich angelegt werden und damit am Grundrecht orientiert. Häufig vorgeschobene Sicherheitsbedenken stehen in keinem Verhältnis zum hohen Gut der Versammlungsfreiheit und sind meist unbegründet. Damit wollen wir wieder eine sozialdemokratische Innenpolitik stärken.

 

Antrag 175/I/2015 Aus Hamburger Fehlern lernen: Sonderrechtszonen ablehnen!

15.05.2015

Wir fordern die sozialdemokratischen Mitglieder des Senats und des Abgeordnetenhauses auf, die Einrichtung von Sonderrechtszonen in Berlin strikt abzulehnen. Die Aufhebung der Berliner Freimengen-Regelung in Bezug auf den Besitz von Cannabis im Görlitzer Park oder Alkoholverbote auf öffentlichen Plätzen haben dafür gesorgt, dass in Berlin aus guten Gründen gefundene Regelungen nicht mehr an jedem Ort gleichermaßen Gültigkeit besitzen. Wir halten diesen Umstand insbesondere nach den Erfahrungen der Hamburger „Gefahrengebiete“ rechtspolitisch für nicht wünschenswert und erwiesenermaßen auch für nicht zielführend. Die gewünschten Effekte haben sich nachweislich nicht eingestellt, stattdessen wird andernorts dringend benötigtes Personal zur Durchsetzung des Sonderrechts gebunden und es stellen sich massive Verdrängungs- und Verlagerungstendenzen in andere Stadtteile ein, was sogar von Polizeigewerkschaften energisch moniert wird.

 

Die Verdrängung vermeintlicher oder tatsächlicher gesellschaftlicher Probleme an weniger prominente Orte unserer Stadt sollte niemals Teil sozialdemokratischer Innen- und Rechtspolitik sein, da sie Missstände nicht behebt sondern nur zu verstecken versucht.