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Antrag 22/II/2022 Pandemie als Katalysator: Digitale Grundausstattung, Digitale Teilhabe und Inklusion mobiler Lebensstile

19.10.2022

Lasst uns die Pandemie als Katalysator für den Fortschritt nutzen! Lasst und aus der vergangenen Not einen Fortschritt machen! Lasst uns aus dem Fortschritt vielfältige Lebensweisen ermöglichen und einbeziehen! Lasst uns unsere Kreisbüros digitalisieren!

 

Daher fordern wir zur Digitalen Grundausstattung der Kreisbüros:

 

  1. Einrichtung der Kreisbüros mit einer einheitlichen digitalen Grundausstattung: WLAN (Router ein- und ausschaltbar), Tablet oder ähnliches Gerät (wegschließbar aber zugänglich)
  2. Einrichtung der Kreisbüros entsprechend Ihren räumlichen Gegebenheiten: entsprechende Kameras und Mikros mit Aufnahme aller Teilnehmenden (bspw. Kameras mit Weitwinkel)

 

Außerdem fordern wir zur digitalen Teilhabe und Inklusion mobiler Lebensstile:

  1. Arbeitsgemeinschaften, Gliederungen und Abteilungen sollen einen permanenten Raum für Videokonferenzen (kurz Viko) erhalten.
  2. Das Erstellen von regelmäßigen wiederkehrenden Viko muss intuitiv möglich sein.
  3. Die Teilnahme am passiven und aktiven Wahlrecht muss ermöglicht werden.
  4. Erstellen eines Leitfadens zur Nutzung der Videokonferenz: bspw. Umgang mit Redelisten, Handzeichen, GO-Anträgen, Nachweis der Teilnahmeberechtigung
  5. Eine Empfehlung zur Führung hybrider Sitzungen
  6. Digitale Teilnahme und Teilnahme in Präsenz dürfen sich gegenseitig nicht benachteiligen (siehe Punkt 6)

 

Antrag 321/II/2022 Wohnraumversorgung sozialverträglich und klimagerecht gestalten

12.10.2022

Wohnraumversorgung klimagerecht gestalten:

Die SPD fordert den Berliner Senat auf, bei der Lösung der Wohnraumproblematik stärker als bisher Aspekte des Klimaschutzes zu beachten. Neubau verursacht vielerlei ökologische Schäden. Neben der Verwendung möglichst umweltschonender Materialien und der Anwendung von Konzepten der Niedrigenergiebauweise und Begrünungskonzepten muss dringend auch die Problematik des Flächenverbrauchs und der Flächenversiegelung beachtet werden.

 

So sollen die großen neuen Stadtquartiere höher und dichter konzipiert werden als bisher geplant. Die Problematik des Flächenverbrauchs durch zusätzlichen Wohnraum ist erkannt. Gleichwohl: Das reduziert den perspektivisch durch Neubau verursachten Schaden geringfügig, vermeidet ihn jedoch nicht. Der Koalitionsvertrag sieht vor, Versiegelungsflächen durch die Gesamtstädtische Ausgleichskonzeption (GAK) auszugleichen und ab spätestens 2030 eine Netto-Null-Versiegelung zu erreichen. Wir fordern ehrgeizigere Ziele, die Netto-Null-Versiegelung muss durch eine geeignete Strategie deutlich früher erreicht werden.

 

Wohnraumversorgung sozialverträglich gestalten:

Für Berlin ist die zentrale Aufgabe neben dem Neubau die Umverteilung von Wohnraum. Dafür muss, soweit erforderlich zusammen mit der Bundesregierung, ein geeignetes Instrumentarium entwickelt werden. Die Rechte von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen sind gleichberechtigt zu behandeln.

 

Der Berliner Senat sollte darum parallel zu seinem Neubauprogramm alle Möglichkeiten der Umverteilung von Wohnraum ausschöpfen und das Instrumentarium der Umverteilung ausbauen. Dazu gehören z.B. die schärfere Verfolgung und Sanktionierung aller Arten von Zweckentfremdung wie z.B. Leerstand, gewerbliche Nutzung von Wohnraum, Anbieten von Ferienwohnungen. Die Wirksamkeit des Zweckentfremdungs-Gesetzes muss überprüft werden. Wir halten wirksamere Kontrollen, schärfere Sanktionen und deutlich höhere Geldbußen für erforderlich. Auch der Tausch einer größeren gegen eine kleinere Wohnung ohne höhere Monatsmiete sollte möglich gemacht werden. Besonders geeignet als Steuerungsinstrument ist die drastische Erhöhung der Zweitwohnungssteuer, weil sie ausschließlich positive Effekte und keine unerwünschten Nebenwirkungen hat: Erhöhung des Steueraufkommens, Verlegung des ersten Wohnsitzes nach Berlin (und somit Einkommensteuerpflicht in Berlin) oder Aufgabe der Zweitwohnung.

 

Ein enger Erfahrungsaustausch mit anderen deutschen Städten wie München, Hamburg oder Köln ist amzustreben.

Antrag 17/II/2022 Kostenübernahme der Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher*innen für Menschen mit Hörbehinderungen (Gehörlose/Taube und Schwerhörige)

10.10.2022

Gehörlose /taube sowie schwerhörige Menschen verwenden die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die als eigenständige Sprache anerkannt ist. Untereinander benutzen gehörlose/taube und schwerhörige Menschen die DGS problemlos. Die meisten schwerhörigen Menschen nutzen die Lautsprache.

 

Es gibt durchaus auch Gehörlose/Taube, Schwerhörige bzw. Menschen mit Behinderungen, die sich politisch in den Parteien engagieren wollen und gegebenenfalls auch für das Europäische Parlament, den Bundestag, das Abgeordnetenhaus oder die Bezirksverordnetenversammlung kandidieren möchten. Gehörlose/taube Menschen können sich in dieser Arbeit vor allem durch ihre eigenen Erfahrungen für das Gemeinwohl der Gesellschaft und insbesondere für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung einsetzen. Ihre Teilnahme am politischen Geschehen ist aber stark dadurch erschwert, dass gehörlose und hörende Menschen unterschiedliche Wege der Kommunikation haben. Da wenige hörende Menschen Gebärdensprachkompetenz haben, funktioniert Kommunikation häufig schriftlich, zum Beispiel via Chat. Das dauert aber länger und ist frustrierend für die Beteiligten. Das sind Barrieren, die mithilfe von Gebärdensprach- und/oder Schriftdolmetscher*innen gelöst werden können. Die gehörlose/taube bzw. schwerhörige Menschen haben den Bedarf auf die Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher*innen, um mit den Politiker*innen auf der Augenhöhe zu kommunizieren.

 

Durch Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher*innen kann die Kommunikation flüssiger und zeitsparender gestaltet werden.

 

Gehörlose/taube und schwerhörige Menschen haben ein Recht auf politische Teilnahme; sie haben ein Recht darauf, Informationen auf für sie verständliche Weise vermittelt zu kriegen. Das politische Geschehen muss für sie zugänglicher werden und daher offener und inklusiver gestaltet werden.

 

Auch innerhalb der Jusos und der SPD gibt es noch gigantische Barrieren für gehörlose/taube und schwerhörige Menschen. Sollten diese an Partei-veranstaltungen teilnehmen, müssen sie sich oft selbst um Dolmetscher*innen kümmern und die damit verbundenen Kosten womöglich auch noch selbst tragen. Das hält gehörlose/taube Menschen vom politischen Engagement zurück und ist alles andere als inklusiv.

 

Die Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher*innen werden nach dem JVEG (Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz) inkl. 85 EUR, Anfahrt, Abfahrt und Fahrkosten ÖPNV geregelt. Für die Teilhabe entstehen somit Kosten, die allerdings auf keinen Fall durch die gehörlosen/tauben Menschen selbst getragen werden können.

 

Es muss daher klar geregelt sein, wer die Kosten für Gebärdensprachdolmetscher*innen bzw. Schriftdolmetscher*innen übernimmt. Wir fordern, dass für Parteiveranstaltungen der SPD sowie ihrer Arbeitsgemeinschaften die Kosten von Dolmetscher*innen von der SPD auf sämtlichen Ebenen übernommen werden. Auch die Übernahme von technischen Hilfsmitteln muss klar geregelt werden und niedrigschwellig zugängig sein. Bei Anfrage sollen sich die Organisator*innen um Dolmetscher*innen und/oder technische Hilfsmittel kümmern. Außerdem müssen die Organisator*innen der Veranstaltungen auf die verschiedenen Bedürfnisse für gehörlose/taube sensibilisiert werden und sie bei der Vorbereitung ihrer Teilnahme an den Veranstaltungen aktiv unterstützen. In Einladungen muss explizit auf diese Möglichkeit hingewiesen werden.

Antrag 21/II/2022 Für echte Parität in unserer Partei – FINTA-Quote von 50%!

10.10.2022

Bisher wird in der SPD und bei den Jusos eine Geschlechterquote von 40% verfolgt. In unserer Gesellschaft leben aber nun mal nicht 40%, sondern knapp über 50% FINTA, also Frauen, Inter-, nicht-binäre-, Trans–, und Agenderpersonen.

 

Unser Ziel muss es sein, die gesellschaftliche Realität in unserer Partei abzubilden. Daher wird es Zeit, alle Geschlechter endlich angemessen in unseren parteiinternen Quoten zu berücksichtigen!

 

Es darf nicht sein, dass in einer Welt, in der cis-Männer in Entscheidungspositionen in der Politik, Wirtschaft und anderen Schlüsselpositionen in der Gesellschaft so überrepräsentiert sind, die Geschlechterquote in unserer Partei so unzeitgemäß und unambitioniert bleibt.

 

Wenn sich mehr FINTA als cis-Männer für ein Gremium in der SPD oder bei den Jusos bewerben, darf dies nicht länger ein statutarisches Problem sein, wie es aktuell der Fall ist. Wenn sich FINTA in der Partei engagieren wollen, sollten sich diese unterstützt und empowered fühlen, anstatt wegen einer Geschlechterquote an ihrem Engagement gehindert zu werden.

 

Es darf nicht unser Anspruch sein, dass die Gremien und Listen in unserer Partei nicht paritätisch, sondern nur mit 40% Frauen besetzt sein sollen. Für uns als feministische Partei sollte es selbstverständlich sein, mindestens absolute Parität parteiintern zu fordern.

 

In anderen feministischen Parteien ist es bereits geübte Praxis, dass es eine FINTA-Quote von 50% gibt und die übrigen Plätze geschlechteroffen, statt wie in der SPD für cis-Männer reserviert, sind. Diese Regelung fordern wir auch für die SPD.

 

Daher fordern wir eine parteiinterne FINTA-Quote von 50%, statt der bisherigen Geschlechterquote von 40%, in allen Gremien der SPD und der Jusos, sowie bei Listenaufstellungen für Wahlen. Die übrigen Plätze in Gremien und auf Listen sollen geschlechteroffen, also auch an FINTA vergeben werden können.

Antrag 84/II/2022 Zwischen „Solidaritätsmechanismus“ und systematischer Haft an den europäischen Außengrenzen

10.10.2022

Mit dem neuen Migrations- und Asylpaket („New Pact on Migration and Asylum“) der Europäischen Kommission vom September 2020 sollte eine Weichenstellung für die Reformbemühungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gelegt werden. In der offiziellen Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 23. September 2020 hieß es damals, man würde mit dem Paket verbesserte und schnelle Verfahren festlegen und ein Gleichgewicht zwischen den Grundsätzen der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten und der Solidarität schaffen.

 

Heute, knapp zwei Jahre später, lässt sich kein „Meilenstein“ in der europäischen Asylpolitik verzeichnen, wir können weder von einem solchen Gleichgewicht sprechen, noch können wir der europäischen Asyl- und Migrationspolitik einen schlichten Fortschritt attestieren. Denn im Juni 2022 fand der Rat der Europäischen Union  eine Einigung zu einigen Legislativvorschlägen des Reformpakets: Die EU-Innenminister*innen einigten sich auf eine gemeinsame Position zur Screening-Verordnung und zur EURODAC-Verordnung, sowie auf die Etablierung eines freiwilligen Solidaritätsmechanismus und auf eine Reform des Schengener Grenzkodex. Die EURODAC- und SCREENING-Verordnung sind sogenannte Grenzmanagement-Instrumente. Dabei regelt die EURODAC-Verordnung den Fingerabdruckvergleich von Asylsuchenden, Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen. Ziel dieser Verordnung ist, durch einen Datenabgleich irreguläre Fluchtbewegungen in der EU besser überwachen und verhindern zu können. Mit dem Vorschlag zu einer Screening-Verordnung sollen Drittstaatsangehörige an den EU-Außengrenzen einem Screening unterzogen werden, mit dem ein Identifikationsverfahren sowie Gesundheits- und Sicherheitschecks durchgeführt werden. Im Anschluss soll dann geklärt werden, ob die Betroffenen dem gängigen Asylverfahren oder dem Asylgrenzverfahren auf Basis der Asylverfahrensverordnung zugeteilt werden. Der Schengener Grenzkodex wiederum umfasst Bestimmungen für Personenkontrollen an den Außengrenzen der EU-Staaten, der mit den Reformvorschlägen diese Außengrenzen besser stärken und schützen soll. Und letztlich wurde mit dem Solidaritätsmechanismus ein Instrument etabliert, mit dem Mitgliedstaaten entlastet werden sollen, die besonders von Migrationsbewegungen betroffen sind. Der Mechanismus sieht ein Umsiedlungsprogramm vor, mit dem Schutzsuchende innerhalb der EU umverteilt werden sollen oder aber auch die finanzielle Unterstützung der Mitgliedstaaten, die am stärksten von den Fluchtbewegungen betroffen sind und dessen Asylsystem damit am stärksten belastet wird Medial wird dabei zutreffend festgestellt, dass dieser “Schwung” und diese zügigen Entwicklungen maßgeblich auf dem Druck der französischen Ratspräsidentschaft beruhen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Reformvorschläge der Kommission voranzutreiben, um diese als eigenen Erfolg innerhalb ihrer Amtszeit zu proklamieren.

 

Dabei begrüßen wir zunächst die Etablierung eines Solidaritätsmechanismus, welcher nun eine erste neue Perspektive nach einer jahrelangen Blockade bezüglich der Bemühungen um einen proportionalen und gerechten Verteilungsschlüssel darstellt. Ein solcher Mechanismus ist vor allem vor dem Hintergrund des defizitären, bisher geltenden Dublin-Systems dringend erforderlich, der zu einer übermäßigen Belastung europäischer Grenzstaaten geführt hat und unsolidarische Effekte begünstigte, von denen vor allem die Staaten im inneren Kern der EU profitieren konnten und die südlichen Mitgliedstaaten belastet wurden. Denn nach dem Dublin-System muss sich der EU-Staat, über den ein*e Schutzsuchende*r in die EU eingereist ist, für diese Person verantworten und es ihm*ihr gewähren, einen Asylantrag zu stellen. Daher stehen Mitgliedsstaaten, die die Außengrenze der EU bilden, öfter in der Verantwortung. Entsprechend haben sie einen höheren Anreiz, das Betreten des eigenen Hoheitsgebiets durch Asylsuchende zu verhindern. Jetzt können Ersteinreisestaaten für die Dauer von einem Jahr durch verschiedene Solidaritätsbeiträge anderer Mitgliedstaaten entlastet werden.

 

Hingegen lassen die übrigen Reformvorschläge jegliche Vernunft vermissen: Denn anstatt aus den bisherigen Fehlern des europäischen Asylsystems zu lernen und Lehren aus den menschenunwürdigen Zuständen im Geflüchtetencamp Moria zu ziehen, lassen die Reformvorschläge der Kommission und die Entwicklungen im Rat erkennen, dass das bisherige Asyl- und Migrationssystem gescheitert ist. Die einstigen Grundwerte der europäischen Union, wie die Achtung der Menschenwürde, werden bereits von dem bisherigen Asylrechtssystem jeden Tag verletzt und werden es mit der anstehenden Reform auch in Zukunft.

 

Denn mit Blick auf die Screening-Verordnung sind Gesundheits- und Sicherheitschecks zwar wichtig, aber: Im Asylgrenzverfahren wird die Nicht-Einreise der Schutzsuchenden „fingiert“. Das bedeutet, obwohl sich der*die Schutzsuchende also möglicherweise bereits im Hoheitsgebiet der EU und eines Mitgliedstaats befindet, wird dies durch die Verordnung in rechtlicher Hinsicht verneint. Damit gelten zwar trotzdem europäisches und internationales Recht sowie das Recht des Mitgliedsstaats. Es ist jedoch zu befürchten, dass die Mitgliedstaaten die Weiterreise von Schutzsuchenden verhindern werden und damit in ihre Bewegungsfreiheit eingreifen.

 

Ziel hier ist zweifelsohne, die erneute Stellung eines Asylantrags in einem weiteren EU-Land innerhalb der EU zu vermeiden und Betroffene daran zu hindern, in die EU zu gelangen und andere Mitgliedstaaten aufzusuchen. Denn es steht bereits seit geraumer Zeit fest, dass Asylsuchende innerhalb der EU nicht gleich behandelt werden und die Erfolgsaussichten eines Asylantrags erheblich zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten schwanken.

 

Fest steht auch: Um diese Weiterreise in andere EU-Mitgliedstaaten zu verhindern, wird man nicht darum herumkommen, schutzsuchende Personen in Ihren Unterkünften festzuhalten. Damit würden ohnehin vulnerable und traumatisierte Personen Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen ausgesetzt, die mehrere Monate andauern können und systematische Haftzustände begründen würden, denn das Asylgrenzverfahren kann bis zu zwölf Wochen andauern und im Falle eines ablehnenden Bescheids würde sich ein Rückführungsgrenzverfahren anschließen, das seinerseits wiederum zwölf Wochen umfassen kann.

 

Besonders fatal ist dabei, dass gegen die Zuteilung zum Asyl- oder Asylgrenzverfahren kein Rechtsweg vorgesehen ist und die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen dazu verpflichtet werden, das Asylgrenzverfahren zu wählen. Zu diesen Fällen gehören beispielsweise Schutzsuchende aus einem Drittstaat, dessen Anerkennungsquote unter 20% liegt.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass die Möglichkeit, rechtlich gegen einen Ablehnungsbescheid vorzugehen, nur auf eine Instanz begrenzt ist, also nur von einer „Prüfstelle“ kontrolliert wird. Normalerweise sind dafür jedoch mehrere Ebenen vorgesehen, wie beispielsweise ein erster Widerspruch und dann die stufenweise Weitergabe an das nächsthöhere Gericht. Daneben ist es auch nicht vertretbar, dass die Entscheidung keine aufschiebende Wirkung haben soll. Im deutschen Recht ist es in den meisten Fällen so, dass mit einem Widerspruch die Wirkung und angeordnete Folge durch eine Behörde „aufgeschoben“, also pausiert wird. Davon kann in bestimmten Fällen und Konstellationen abgewichen werden. Im konkreten Fall würde ein negativer Bescheid die Rechtsfolge mit sich bringen, dass der*die Asylsuchende zum Beispiel dem Rückführungsverfahren zugeteilt wird, weil kein Asyl gewährt wird. Legt der*die Asylsuchende dagegen Widerspruch ein, so würde er*sie trotzdem dem Rückführungsverfahren zugeordnet werden können, weil der Widerspruch die Wirkung des Bescheids nicht pausiert. Allein dies stellt bereits einen massiven Bruch mit jeglichem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit dar. Auch die Bereitstellung von Informationen während des Screening-Verfahrens als entscheidender erster Ansatzpunkt zur Ermittlung aller relevanten Umstände wird durch den bisherigen Vorschlag nicht ausreichend gewährleistet: So sieht die Screening-Verordnung vor, dass Schutzsuchende “kurz” über den Zweck des Screenings informiert werden. Es werden zudem nur “gegebenenfalls” wesentliche Informationen zu Einreisebestimmungen und Verfahren bereitgestellt und Mitgliedstaaten “können” nationalen, internationalen oder nichtstaatlichen Organisationen und Stellen gestatten, den Schutzsuchenden im Verfahren Informationen zu erteilen, was einen unangemessen und völlig deplatzierten Ermessensspielraum einräumt, die der Tragweite eines solchen Verfahrens und dessen Bedeutung für die Erfolgsaussichten eines Asylgesuches in keinster Weise gerecht werden!

 

Die ohnehin durch die Asylverfahrensverordnung und durch die Screening-Verordnung erwachsenden Aushöhlungen für das Recht auf Asyl werden dabei durch die Vorschläge für eine Krisenverordnung verschärft: Denn in bestimmten Fällen sollen Mitgliedstaaten von den Regelungen des Reformpaketes abweichen können. Während zum Beispiel vorher ein Asylgrenzverfahren für Geflüchtete verpflichtend werden sollte, die eine Anerkennungsquote unter 20 % haben, können diese Grenzverfahren auch auf Schutzsuchende ausgeweitet werden die aus einem Land mit einer Anerkennungsquote von bis zu 75 % kommen. Voraussetzung dafür wäre, dass der Mitgliedstaat mit „höherer Gewalt“ oder eine hohe Zahl von Schutzsuchenden konfrontiert ist. Daneben soll es den Mitgliedstaaten auch möglich sein, Verfahrens-, Registrierungs- und Zuständigkeitsfristen massiv zu verlängern, was unweigerlich zu einer Verlängerung von massiven und vor allem unverhältnismäßigen Freiheitsentziehungen in Haftlagern an den EU-Außengrenzen führen wird. Die noch geltende Dublin-III-Verordnung, die das Prinzip der Ersteinreise für Asylsuchende festlegt, soll durch die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung abgelöst werden. Es wird jedoch weiterhin am Prinzip der Ersteinreise festgehalten und der effektive Rechtsschutz von Asylsuchenden wird weiter ausgehöhlt, indem gerichtliche Überprüfungen von Menschenrechtsverstößen sich lediglich auf einen Verstoß gegen das Folterverbot und das Verbot unmenschlicher Behandlungen beschränken.  Zudem soll die Dublin-Haft, also die Inhaftierung einer Person in einem Dublin-Verfahren, zur Rücküberstellung der*des Schutzsuchenden künftig unter einfacheren Voraussetzungen angewandt werden können.

 

Mit dem Vorschlag für eine Reform des Schengener Grenzkodex werden weiterhin Regelungen im Falle einer Instrumentalisierung von Migration etabliert, mit denen der Schengenraum widerstandsfähiger gemacht werden soll. So soll es im Falle von Situationen, in denen ein Drittstaat oder nichtstaatlicher Akteur zur Destabilisierung der EU Fluchtbewegungen von Schutzsuchenden an die EU-Außengrenzen oder in einen Mitgliedstaat erleichtert oder vorantreibt, möglich sein, Grenzkontrollen von bis zu sechs Monaten einzuführen. Dies stellt nicht nur eine weitere Aushöhlung des Rechts auf Asyl dar, sondern ein eklatanter Bruch mit dem völkerrechtlichen Non-Refoulment-Prinzip: Nach diesem Prinzip ist es verboten, Schutzsuchende auszuweisen oder abzuschieben, wenn ihnen im Zielland Folter, schwere Menschenrechtsverletzungen oder unmenschliche Behandlungen drohen könnten.

 

Insgesamt ist dabei festzuhalten, dass durch die geplante Asylverfahrensverordnung in Verbindung mit der vom Rat gebilligten Screening-Verordnung Schutzsuchende bereits dann in die Gefahr einer systematischen Haft gelangen, weil sie internationalen Schutz beantragen. Dabei werden Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen abstrakt geregelt, es wird weder eine Angemessenheits- oder Einzelfallprüfung vorgesehen, noch wurden alternative wirksame Möglichkeiten aufgenommen oder in Erwägung gezogen, um den Umgang mit Schutzsuchenden während eines Grenzverfahrens nach dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit zu regeln. Denn die nahtlose Verzahnung von Asyl- und Rückführungsverfahren kommt einzig und allein jenen Mitgliedstaaten zugute, die Migrationsbewegungen kriminalisieren und bereits in der Vergangenheit gezeigt haben, dass Menschen- und Grundrechte im Umgang mit Schutzsuchenden nicht von oberster Priorität sind. Freiheitsentziehungen sollten jedoch stets nur ultima ratio sein und auch nur, wenn dies erforderlich und angemessen ist, nicht jedoch das aktuelle Mittel zum Zweck, um ein gescheitertes Asylsystem zu retten! Bei alledem soll auch lediglich im Rahmen des Screening-Verfahrens ein Monitoring-Mechanismus durch die einzelnen Mitgliedstaaten etabliert werden, der Grundrechtsverstöße untersuchen soll und aufgrund seiner Begrenzung völlig ineffektiv bleiben würde. Die gute Nachricht ist, dass die Screening-Verordnung einen Monitoring-Mechanismus während des Screening-Verfahrens vorsieht, der durch die Mitgliedstaaten angewandt werden soll. Mit diesem Mechanismus sollen Grundrechtsverstöße untersucht werden. Dadurch, dass dieser Mechanismus allerdings nur für das Screening und eben nicht für das Asylgrenzverfahren oder Rückführungsverfahren vorgesehen ist, würde er völlig ineffektiv bleiben! Denn die Gefahr von Grundrechtsverstößen in Form von beispielsweise illegalen Push-Backs oder anderen menschenunwürdigen Behandlungen finden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht im Rahmen eines Screening-Verfahrens sondern eher in den geplanten Asylgrenz- und Rückführungsverfahren statt.

 

Klar wird dabei also insbesondere vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Krisen-Verordnung und der Reform des Schengener Grenzkodex: Mit den Vorschlägen wird der Fokus auf Abschreckung und Grenzsicherung gesetzt, statt sich mit einer menschenrechtskonformen Ausgestaltung des Asyl- und Migrationssystems zu befassen! Das Ersuchen von internationalem Schutz und Asyl wird kriminalisiert und die Gründe dafür sind klar: Bisher konnten keine Regelungen zur Reform des GEAS getroffen werden, mit denen die Probleme des herrschenden Dublin-Systems und die ungerechten Lastenteilungen behoben werden konnten. Die Europäische Kommission und die Mitgliedsstaaten nehmen am “race to the bottom” teil, bei dem ein Wettbewerb um die möglichst schlechtesten Bedingungen für Asylsuchende gefahren wird.

 

Wir sind empört über die geplanten Vorhaben zur Reform des GEAS und den damit einhergehenden, eklatanten Bruch sämtlicher rechtsstaatlicher und menschen- sowie grundrechtlicher Wertungen und stellen uns entschieden gegen die Reformvorschläge der Kommission! Es kann nicht sein, dass die Fehler und Versäumnisse in der bisherigen Asyl- und Migrationspolitik nun auf den Rücken unschuldiger, schutzsuchender Menschen ausgetragen und Rechtsgrundlagen etabliert werden, die nichts weiter tun, als eine Politik der Abschottung weiterzuführen und eine Festung Europa 2.0 zu schaffen. Die geplanten Verordnungen könnten außerdem in einem akuten Spannungsverhältnis mit der EU-Grundrechte-Charta stehen und sie gehen von einem einheitlichen Verständnis von Asyl und Rechtsstaatlichkeit in der EU aus, das schlichtweg nicht existiert.

 

So soll es nun weitergehen: Im März 2022 einigte sich der Rat Justiz und Inneres auf einen schrittweisen Ansatz, nach dem zunächst erst gewisse Fortschritte in einzelnen Bereichen des Reformpaketes erzielt werden sollen. Das Europäische Parlament wird sich mit den Vorschlägen erst im Herbst 2022 befassen und unter einigen Parlamentarier*innen wird ein Paketansatz nach dem Motto “Ganz oder gar nicht“ angestrebt, mit dem das gesamte Verfahren entschleunigt werden kann. Deshalb muss nun der politische Druck sowohl auf das Europäische Parlament, auf die deutsche Innenministerin als auch auf die nun folgende tschechische Ratspräsidentschaft erhöht werden, um die Reformvorhaben des GEAS zu stoppen. Denn aus einem Joint Roadmap der europäischen Mitgesetzgeber*innen geht hervor, dass die Umsetzung der GEAS-Reform oberste Priorität genießt und eine Einigung und der Abschluss vor Ende der Legislaturperiode 2019-2024 anvisiert wird. Das gilt es zu verhindern.

 

Wir fordern daher die sozialdemokratischen Regierungen in den Europäischen Mitgliedsstaaten, die sozialdemokratischen Fraktionen in den nationalen Parlamenten der Europäischen Mitgliedsstaaten sowie die sozialdemokratischen Abgeordneten im Europäischen Parlament auf:

 

  1. die Verabschiedung des Reformpakets entschieden zu verhindern
  2. vor diesem Hintergrund sich im Europäischen Parlament explizit gegen die Verabschiedung der Screening-Verordnung zu stellen, da diese durch die Fiktion der Nichteinreise und als Vorschaltung zu etwaigen Asylgrenz- und Rückführungsverfahren als Einfallstor für die weiteren Reformvorschläge fungiert
  3. sich im Rat gegen die Asylverfahrens-Verordnung, die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung und die Krisen-Verordnung in ihrer aktuellen Form zu stellen, zu denen noch keine Verhandlungsmandate im Rat der Europäischen Union existieren
  4. sich an die umfassenden Menschen- und Grundrechte der EU-Grundrechte-Charta zu erinnern und ihren Auftrag im Rahmen ihrer Rolle bei der Erarbeitung einer Reform des GEAS entsprechend dieser Rechte und Wertungen zu überdenken
  5. sich im Rahmen weiterer Verhandlungen zur Reform des GEAS insgesamt entschlossen gegen Außengrenzverfahren und Verfahrensregeln einzusetzen, die zu de facto Haftlagern an den europäischen Außengrenzen führen würden
  6. sich im Rahmen weiterer Verhandlung primär für eine solidarische und wirksame Entlastung der Ersteinreisestaaten einzusetzen, die das Recht auf Asyl wahren und menschenwürdige Behandlungen sowie das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz gewährleisten
  7. sich im Rahmen weiterer Verhandlungen analog dazu gegen eine Auslagerung der EU-Migrationspolitik einzusetzen, die unweigerlich zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen führen würde
  8. den etablierten freiwilligen Solidaritätsmechanismus zeitlich weiter auszubauen und hinsichtlich der beteiligten Mitgliedstaaten und Solidaritätsbeiträge auszuweiten sowie zu intensivieren, sodass Ersteinreisestaaten entlastet werden können und der politische Druck von Hardliner-Staaten in der europäischen Asylpolitik nicht mehr richtungsweisend wirkt
  9. sich an Stelle einer Kriminalisierung von Schutzsuchenden und unter Strafe stellen von Flucht für die Etablierung und den Ausbau sicherer und legaler Einreisemöglichkeiten von Schutzsuchenden einzusetzen
  10. sich für eine menschenrechtsorientierte Reform des GEAS einzusetzen, mittels welcher migrationsbezogene Haftzustände in jedem Bereich abgeschafft werden können, wirksame Alternativen bereitgestellt werden und das Asylsystem funktional statt auf Abschottung und Abschreckung auf Solidarität und Verantwortung hinsichtlich der Schutzsuchenden setzen kann
  11. sich für einen, auf jeden Bereich des GEAS anzuwendenden, umfangreichen europäischen Monitoring-Mechanismus für die Beobachtung und Ahndung von Grundrechtsverletzungen einzusetzen, statt diese Verantwortung den Mitgliedstaaten zu überlassen, die in der Vergangenheit klar gezeigt haben, dass ihr Bekenntnis zu der Achtung von Grundrechten nicht vollumfänglich und ohne Vorbehalt gilt und zwangsläufig nur zu uneinheitlichen Schutzstandards und verwaschenen Rechenschaftspflichten führen würde.
  12. sich im Fall, dass die Pläne nicht auf politischem Wege verhinderbar sind, dafür einzusetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof Nichtigkeitsklage gegen die im Rahmen des Reformpakets erlassenen Regeln erhebt.

 

Es bleibt unser Ziel, dass alle geflüchteten Menschen, die nach Europa fliehen, in einem Land ihrer Wahl aufgenommen werden, ohne bürokratische oder weitere Drangsalierung. Statt einer „Festung Europa“ die bereits tausende Tode zur Folge hatte, und unvertretbare Zustände in Camps wie Moria hervorbringt, brauchen wir endlich sichere Fluchtrouten und ein wirkliches, europaweit geltendes Recht auf Asyl. Dies ist mit dem aktuellen Asylsystems sowie dem Handeln der europäischen Grenzpolizei Frontex und dem vorliegenden Reformvorschlag unvereinbar.