Der Umgang mit Moskau auf der internationalen Bühne ist in letzter Zeit immer schwieriger geworden. Europas Beziehungen zu Russland sind immer wieder Rückschlägen ausgesetzt. Innenpolitisch hat Moskau nicht erst mit der Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny seine brutale Seite gezeigt. Das wurde auch durch die zahlreichen Inhaftierungen und die massive und repressive Polizeigewalt als Reaktion auf regierungskritische Proteste nach der Verurteilung Nawalnys sichtbar. Dies reiht sich ein in eine mittlerweile lange Liste der vergifteten, getöteten, bedrohten, verhafteten oder ins Exil getriebenen Kritiker*innen.
Gleichzeitig sind bei den politischen Machthabern in Russland Korruption und Kleptokratie an der Tagesordnung, wie zuletzt auch durch die Enthüllungen der “Pandora-Papiere” belegt. Wirtschaft und Gesellschaft werden für die Eigeninteressen einer kleinen Elite instrumentalisiert. Dies führt insbesondere bei Teilen der jüngeren Generation zu Empörung. Die Parlamentswahlen im September 2021, die als die unfairsten und unfreisten Wahlen seit dem Ende der Sowjetunion bezeichnet werden können,[1] haben gezeigt, dass politische Mitbestimmung eine Illusion ist und nicht-systemtreue Kandidat*innen systematisch unter Druck gesetzt und ausgeschlossen werden. Eine neue Repressionswelle, bei der Proteste verboten und Teilnahme hoch bestraft wird, zeigt, dass die autokratische Entwicklung Russlands eine neue Qualitätsstufe erreicht hat. Dabei geraten auch zunehmend deutsche Organisationen und Medien sowie ihre Kooperationspartner, wie zum Beispiel Memorial und die Deutsche Welle, unter Druck.
Auch international befinden sich Russland und die EU sowie ihre Partner und Verbündeten im geopolitischen Konflikt. In Afrika, Osteuropa und im Nahen Osten verfolgt Russland politische und militärische Interessen, die die regelbasierte Ordnung unterminieren, und versucht eine Einflusszone sowie Machtinstrumente gegen die EU und NATO aufzubauen. Dabei werden – wie in der russischen Verteidigungsdoktrin dargelegt – nicht nur militärische, sondern auch politische und wirtschaftliche Instrumente wie zum Beispiel Desinformation eingesetzt, um Konflikte zu gewinnen.
Mit Blick auf die neusten Entwicklungen ist zu erwarten, dass die Repressionen noch zunehmen werden, je mehr gesellschaftliche Unzufriedenheit sich rührt. Klar ist: Jegliche Stärkung und Legitimation des russischen Machtsystems geht zu Lasten der russischen Bürger*innen, insbesondere Menschenrechtsverteidiger*innen, Umweltaktivist*innen und Kämpfer*innen für soziale Gerechtigkeit. Eine sozialdemokratische Russlandpolitik muss primär darauf zielen, die russische Zivilgesellschaft zu stärken und sich solidarisch zu zeigen mit den Bürgerinnen und Bürgern statt mit den Machthabern und Eliten.
Es ist unsere Verantwortung, unabhängige zivilgesellschaftliche Initiativen zu unterstützen und Kritiker*innen Schutz zu bieten, die im In- und Ausland der Gefahr von Attentaten ausgesetzt sind. Wir unterstützen das Streben nach Demokratie und politischer Beteiligung durch die russische Zivilgesellschaft, unabhängig davon, dass einzelne Oppositionspolitiker*innen wie Nawalny auch kritisch zu betrachten sind. Nur durch freie, gleiche und demokratische Wahlen kann echte Partizipation erreicht und Menschenrechte durchgesetzt werden.
Die Einbindung der Zivilgesellschaft muss ganz klar im Mittelpunkt einer sozialdemokratischen Russlandpolitik stehen, die langfristig und strategisch die Zukunft Russlands und der deutsch-russischen und europäisch-russischen Beziehungen im Blick hat. Dabei soll der schwierige Dialog mit russischen Entscheidungsträger*innen fortgesetzt werden, insbesondere bei den drängendsten Herausforderungen von heute, wie dem Klimawandel und der Erreichung globaler Nachhaltigkeitsziele wie der Agenda 2030 der Vereinten Nationen.
Trotz dieses Bekenntnisses zum Dialog reicht ein Kurs des „Weiter so“ mit Blick auf das neue Level der Autokratisierung und Repression, das in den letzten zwei Jahren erreicht worden ist, sowie der sich ausbreitenden Korruption und Kleptokratie in Russland, nicht aus. Auf Worte müssen Taten folgen! Die Bundesregierung und die Regierungskoalition unter Führung der SPD müssen entschieden für Menschenrechte einstehen, auch wenn diese möglicherweise Wirtschaftsinteressen gegenüberstehen, und sie gegen staatliche Repression verteidigen. Die personenbezogenen Sanktionen durch die Bundesregierung und weitere Staaten der Europäischen Union sind dafür alleine nicht ausreichend.
Deswegen fordern wir:
- die SPD-Bundestagsfraktion sowie die Mitglieder der Bundesregierung auf, sich klar gegen die Menschenrechtsverletzungen durch die russische Regierung zu positionieren und weitere entsprechende Maßnahmen zur Sanktionierung von verantwortlichen Eliten und Machthabern zu ergreifen. Diese sollen sich ausschließlich gegen für Menschenrechtsverletzungen Verantwortliche richten, und nicht der Bevölkerung schaden. Russische Oligarchen sind oft Komplizen der politischen Machthaber und sollten daher mit einbezogen werden. Maßgeblich dafür ist das EU-Menschenrechts-Sanktionsregime auch unter Einsatz der erst vor kurzem von der EU verabschiedeten neuen Sanktionsinstrumente zur individuellen Ahndung von Menschenrechtsverletzungen.
- als symbolische Geste der Solidarität mit unseren Nachbarn und zur Stärkung der EU als glaubwürdige Akteurin die Einbeziehung der EU Battlegroups in der NATO Enhanced Forward Presence in den baltischen Staaten.
- den Kampf gegen Korruption und Geldwäsche zu verstärken. Aus Russland exportiertes schmutziges Geld darf in der EU keinen Platz haben. Das europäische und deutsche Finanzsystem darf nicht mehr wie aktuell für die russische Geldwäsche missbraucht werden. Die EU und alle ihre Mitgliedstaaten müssen entschieden gegen Geldwäsche, organisiertes Verbrechen, Desinformation und Propaganda auf europäischem Boden vorgehen.
- mehr Räume und Förderung für kulturelle, soziale und politische Initiativen für russischsprachige Deutsche, die ein primäres Ziel russischer Desinformation sind.
- die Weiterführung des Dialogs über eine allgemeine Visaliberalisierung, insbesondere für die Jugend, zur Förderung des gesellschaftlichen Austauschs.
- besseren Schutz russischer Oppositioneller und Regierungskritiker*innen in der Bundesrepublik, beispielsweise durch ein humanitäres Visaprogramm, damit die russische Diaspora und Geflüchtete in Deutschland und Europa solange wie nötig einen sicheren, vertrauenswürdigen und willkommenen Hafen vorfinden.
- „Die Bundesregierung und den Senat von Berlin dazu auf: eine „Osteuropauniversität in Berlin“ einzurichten und zu finanzieren, die eine neue Heimstätte für unabhängige Forschung durch Wissenschaftler*innen aus Russland und Belarus außerhalb ihrer Länder ermöglichen wird und dadurch einen Beitrag zur Ausbildung der wissenschaftlichen Elite für die Zeit nach Vladimir Putin beitragen kann
- Unterstützung für unabhängige Medienprojekte aus der russischsprachigen Welt vorzusehen, die gegen die Propaganda der regierungsnahen und regierungseigenen Medien aus Russland wirken. Diese kann in Form spezieller Fortbildungsprogramme, Unterstützungsstipendien, Zuschuss- und Darlehensprogramme und weitere Instrumente erfolgen.“
[1] https://www.swp-berlin.org/publikation/russlands-dumawahl-2021