Archive

Antrag 108/I/2023 Denk-Mal barrierefrei – Denk mal an und für alle Menschen

27.04.2023

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gilt seit 2008 in Deutschland im Rang eines Bundesgesetzes und hat Bindungswirkung für sämtliche staatliche Stellen. Zu den garantierten Menschenrechten laut UN-BRK gehört die grundsätzlich zu schaffende Barrierefreiheit. Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen dann, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) ist daher in § 8 Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr verankert: „Zivile Neu-, Um- und Erweiterungsbauten im Eigentum des Bundes einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sollen entsprechend den allgemein anerkannten Regeln der Technik barrierefrei gestaltet werden.“ Gemäß dieser Soll-Vorschrift ist barrierefreies Bauen der Regelfall. Davon kann nur in besonderen Fällen abgewichen werden, nämlich dann „wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt werden.“ Leider ist in der politischen und baulichen Praxis viel zu häufig eine Umkehr dieses menschenrechtlich gebotenen und gesetzlich verankerten Regel-Ausnahme-Verhältnisses wahrzunehmen.

 

Die Bundesländer sind im Rahmen ihrer föderalen Zuständigkeiten unmittelbar an die verbindlichen Vorgaben der UN-BRK gebunden und zu ihrer Umsetzung verpflichtet. Aus diesem Grunde haben sie in der Regel eigene Landesbehindertengesetze geschaffen. Für Berlin gilt das am 16. September 2021 vom Abgeordnetenhaus beschlossene und am 7. Oktober 2021 in Kraft getretene Gesetz zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Land Berlin (Landesgleichberechtigungsgesetz – LGBG) als rechtliche Grundlage der Politik für Menschen mit Behinderung in all ihrer Vielfalt (§ 3 LGBG).

 

Das LGBG ist inklusionspolitisch von zentraler Bedeutung. Es verpflichtet den Berliner Senat und die öffentlichen Stellen, in Umsetzung der UN-BRK und gemäß Artikel 11 der Verfassung von Berlin den vollen, wirksamen und gleichberechtigten Genuss aller Rechte durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Das LBGB garantiert den Berliner*innen mit Behinderungen das Recht auf eine umfassende Barrierefreiheit (§ 4) und die Teilhabe in allen Lebensbereichen (§ 11).

 

Auch der Denkmalschutz hat die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten

Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt die Umsetzung des konventionsübergreifenden Prinzips der Inklusion. Unbestritten ist, dass ein wichtiges Ziel der Denkmalschutzgesetze die sinnvolle Nutzung eines Denkmals ist. Sie ist häufig Überlebensbedingung und kann von der Barrierefreiheit abhängen. Bundes- und landesrechtliche Bestimmungen bilden daher ein Schnittstelle zwischen Barrierefreiheit und Denkmalschutz. Bei der Ausübung des eingeräumten Ermessens in der Entscheidungsfindung sind die Belange von Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Ja nach Bundesland sind die entsprechenden Klauseln für das Ermessen aber unterschiedlich – Berlin hat hier noch erheblichen Nachholbedarf.

 

Der Denkmalschutz stellt vor diesem Hintergrund der UN-BRK keinen nur für sich zu betrachtenden isolierten Gesetzeszweck dar. Vielmehr geht es gerade bei baulichen Anlagen um die Erhaltung im Interesse der Allgemeinheit (vergleiche § 2 Absatz 2 DSchG). Menschen mit Behinderungen sind Teil der Allgemeinheit und daher auch beim Denkmalschutz selbstverständlich mitzubeachten (vgl. Artikel 3 UN-BRK).

 

Denkmalschutz und Denkmalpflege ist Aufgabe der einzelnen Bundesländer. Entsprechend unterschiedlich sind die erlassenen Denkmalschutzgesetze, die Organisationsformen und der Aufbau der Behörden im Bereich des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege – und auch die Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Behinderungen in den jeweiligen Denkmalschutzgesetzen der Länder. Grundsätzlich ist der Denkmalschutz Thema bei barrierefreien Umgestaltungen von Denkmalen im Bestand aber auch bei neuen An- und Erweiterungsbauten sowie bei Neubauten in der Umgebung von Denkmalen. Das Verhältnis von Denkmalschutz und Barrierefreiheit ist ein immer wieder auftretender politischer Dauerkonflikt. Ursächlich ist u.a., dass die Bundesländer in ihren Denkmalschutzgesetzes die Verpflichtungen der UN-BRK noch nicht ausreichend aufgegriffen haben. Dies gilt auch für Berlin.

 

Das am 24. April 1995 vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz zum Schutz von Denkmalen in Berlin (Denkmalschutzgesetz Berlin – DSchG Bln) ist bis heute im Wesentlichen unverändert. Zumindest wurden hinsichtlich der Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt im September 2021 im § 11 die Wörter „mobilitätsbehinderter Personen“ durch die Wörter „von Menschen mit Behinderungen“ ersetzt. Weitaus klarer und umfassender garantiert das Niedersächsische Denkmalschutzgesetz (NDSchG) die Rechte von Menschen mit Behinderungen: „“Ein Eingriff in ein Kulturdenkmal ist zu genehmigen, soweit … ein öffentliches Interesse anderer Art, zum Beispiel … die Berücksichtigung der Belange von alten Menschen und Menschen mit Behinderungen, das Interesse an der unveränderten Erhaltung des Kulturdenkmals überwiegt und den Eingriff zwingend verlangt.“

 

Noch 2021 haben sich Senat und Abgeordnetenhaus gegen die Aufnahme von Rechten von Menschen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt entschieden. Die vom Land Berlin mit der Begleitung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beauftragte „Monitoring-Stelle Berlin“ hatte angesichts der Novellierung des DSchG Bln 21 auf der Grundlage der Ergebnisse einer Normenprüfung des Denkmalschutzgesetzes auf notwendige rechtliche Änderungsbedarfe hingewiesen. Auch seitens der SPD-Politik wurden Vorschläge zur Verbesserung der Rechte und vor allem der Lebensqualität im Alltag negiert.

 

Wir fordern

1. eine zügige Novellierung des Gesetzes zum Schutz von Denkmalen in Berlin, u.a. in Bezug auf:

 

§ 7 Landesdenkmalrat

Zugänglichkeit ist ein zentraler Belang für die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Der weitest mögliche Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Denkmälern ist in der UN-BRK explizit vorgegeben (Artikel 30 Absatz 1 c). Auf Grundlage der allgemeinen Verpflichtung aus Artikel 4 Absatz 3 UN-BRK braucht es dringendst der partizipatorischen Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in diesbezügliche Entscheidungsprozesse. Die Vertretung von Menschen mit Behinderungen als Expert*innen in eigener Sache sollte daher im Landesdenkmalrat gesetzlich etabliert werden. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, dass Abwägungsentscheidungen zwischen der Barrierefreiheit als öffentlichem Belang und Denkmalschutzbelangen oftmals nach einem angemessenen Ausgleich widerstreitender Interessen durch kreative Lösungen im Einzelfall verlangen und daher dringendst entsprechender Expertise dringend bedürfen.

 

§ 11 Absatz 1 und 6 DSchG (Genehmigungspflichtige Maßnahmen)

 

Aus den Vorgaben aus Artikel 9 (Zugänglichkeit) als auch aus Artikel 30 (Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport) UN-BRK ergeben sich besondere Anforderungen an die Zugänglichkeit denkmalgeschützter Gebäude und Einrichtungen. Durch explizit geeignete Maßnahmen ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu Denkmälern und Stätten von nationaler Bedeutung erhalten. Bei Einrichtungen, die der Öffentlichkeit offenstehen, muss eine gleichberechtigte Nutzbarkeit für Menschen in aller Vielfalt mit und ohne Behinderungen gesetzlich avisiert werden.

Folglich ist gesetzlich sicherzustellen, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen bei einschlägigen Abwägungsentscheidungen hinreichend beachtet werden. Die gleichberechtigte Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen stellt eine Menschenrechtsfrage von Verfassungsrang dar und ist daher auch ausdrücklich als überwiegender öffentlicher Belang in § 11 Absatz 1 DSchG zu normieren und in § 11 Absatz 6 DSchG klarzustellen. § 11 Absatz 6 DSchG muss die Verpflichtung zur barrierefreien Gestaltung von Denkmälern als Grundsatz formulieren, von dem nur in besonders begründeten Fällen abgewichen werden kann. Ausnahmen aufgrund der tatsächlichen physischen Gegebenheiten sind im Einklang mit dem Machbarkeitsvorbehalt nach dem Wortlaut, dem Sinn und Zweck und der Systematik von Artikel 30 Absatz 1 c) UN-BRK möglich so weit die faktische Realisierbarkeit im Rahmen der verfügbaren Ressourcen nicht gegeben ist.

 

§ 13 Absatz 1 DSchG (Wiederherstellung; Stilllegung)

Aufgrund der bezüglich § 11 DSchG bereits ausgeführten Gründen sowie insbesondere hinsichtlich der staatlichen Verpflichtung zum Abbau von Barrieren auch im Denkmalbestand (gemäß Artikel 9 Absatz 1 Satz 2 a) UN-BRK) ist es sinnvoll und zweckmäßig, bei ohnehin aus Sicht des Denkmalschutzes erforderlichen Wiederherstellungsmaßnahmen zugleich Verbesserungen hinsichtlich der Zugänglichkeit des wiederherzustellenden Denkmals für Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen.

 

§ 15 DSchG (Öffentliche Förderung)

Aufgrund der zu § 11 DSchG bereits ausgeführten Rechtsgründen ist es insbesondere auch aufgrund der allgemeinen staatlichen Verpflichtung zum Ergreifen geeigneter Maßnahmen (vergleiche Artikel 4 Absatz 1 UN-BRK) sinnvoll und zweckmäßig, die staatliche Förderung von Denkmalschutzmaßnahmen mit Anforderungen an die Barrierefreiheit bzw. die Vornahme angemessener Vorkehrungen zu verknüpfen und die Möglichkeit hierzu in Form einer gebundenen Ermessensentscheidung explizit gesetzlich zu verankern.

 

2. eine Überwindung des in der Politik noch viel zu häufig anzutreffenden „politischen Silo-Denkens“. Es braucht eine stärkere Gewährleistung u.a. der gesetzlich verankerten frauen- und menschenrechtlichen Querschnittsaufgaben wie es die UN-Behindertenrechtskonvention und die Frauenrechtekonvention (CEDAW) erfordert. Diese sind Maßstab für jedes Gesetz, jede Richtlinie, jede Verordnung einer jeder Regierung und Parlamentes auf allen föderalen Ebenen. Hierfür sind entsprechende Kompetenzschulungen vorzusehen.

 

3. die Einbeziehung von Expert*innen bzw. Sachverständigen zum Barrierefreien Bauen. Dem hier noch zu beobachtendem eklatantem Fachkräftemangel für „Design für all“ ist aktiv durch Aus-, Fort- und Weiterbildung entgegenzuwirken. Entsprechende Förderprogramme sind aufzulegen, entsprechende Fachstellen auf allen behördlichen Ebenen der Verwaltung sind zu schaffen und zu finanzieren.

 

4. einen inklusiven Eingangsbereich für das Museum für Naturkunde als aktuelles Beispiel

Etliche der oben beschriebenen unzureichenden Gewährleistungen der Rechte von Menschen mit Behinderungen führen aktuell und vor allem künftig jahrzehntelang andauernden gravierenden Benachteiligungen und Diskriminierungen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Aufgrund des demographischen Wandels ist hier mit einer deutlichen Zunahme zu rechnen.

 

Der Zukunftsplan des Museums für Naturkunde zielt unter anderem darauf ab, den historisch begründeten Campusgedanken des im Laufe der 1870er und 1880 erstellten Wissenschaftsforum für Forschung, Lehre und Wissenstransfer (drei Gebäude) in die Gegenwart zu überführen und die Außenflächen der Liegenschaft so umzugestalten, dass ein aktiver Austausch zwischen Besuchenden aus Berlin und der ganzen Welt und Mitarbeitenden auch hier wieder möglich werden kann. Bewilligt sind u.a. für die Sanierung des Museumsgebäudes Zuwendungen von Bund und Land in Höhe von 660 Millionen Euro – Steuergeld, welches von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gezahlt worden ist.

 

Das Museum für Naturkunde möchte mithilfe des Zukunftsplans erreichen, ein inklusives offenes und integriertes Forschungsmuseum zu werden. Zu diesem Zweck soll der historische Haupteingang umgestaltet werden, so dass alle Besuchenden auf dem gleichen Wege das Museumsinnere erreichen können. Dabei geht es nicht nur um das Überwinden der großen Haupttreppe, sondern auch das der zahlreichen weiteren Stufen die außen wie innen folgen.

 

Die aktuelle Position des Gartendenkmalamtes sieht allerdings ein anderes Konzept vor. Eine Erweiterung des Eingangsbereichs in den Vorplatzbereich wird abgelehnt, was bedeutet, dass das Recht von Menschen mit Beeinträchtigungen auf Barrierefreiheit verwehrt ist. Ihnen wird mit dieser Entscheidung nicht erlaubt, das Museum für Naturkunde „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“ zu betreten.

 

Dies ist ein gesellschaftspolitischer, keineswegs nur ein behindertenpolitischer Skandal. Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft wird heute anders definiert als im späten 19. Jahrhundert. Damals war es noch gang und gäbe, dass Menschen mit Beeinträchtigungen, seien es Behinderungen in der Mobilität oder den Kommunikationsformen, sei es wegen Kinderwagen, Rollstühle oder Rollatoren, in der Planung neuer Gebäude nicht vorkamen, ja sie teilweise auch bewusst exkludiert wurden. Ihnen blieb es damals verwehrt, am öffentlichen Leben und Kulturangebot in voller Gänze teilzuhaben. Ein solcher Missstand darf sich heute nicht wiederholen: Neue Gebäude sind inklusiv zu planen und historische Gebäude entsprechend baulich barrierefrei zu verändern.

 

Unverständlich ist auch, dass Gebäudesubstanz vor dem immateriellen aber wesentlichen historischen Auftrag, das Wissen in die breite Öffentlichkeit hineinzutragen, gestellt wird.

 

Im Juni 2023 wird der laufende Architekturwettbewerb zum Abschluss kommen. Um eine attraktive und den Denkmalbestand respektierende Lösung zu finden, wurde die Umgestaltung des Portals als zentraler Bestandteil in diesen aufgenommen. Ein Ideenteil wird den teilnehmenden Büros die Möglichkeit geben, kreative Entwürfe einreichen zu können. Bisher hat das Landesdenkmalamt im Vorfeld des Wettbewerbs jedoch lediglich seitlichen Anrampungen zugestimmt. Eine Lösung für die Überwindung der weiteren Stufen konnte nicht gefunden werden. Andere Lösungsansätze für die Umgestaltung wurden abgelehnt, da der Eingriff in die Bausubstanz oder in das Gartendenkmal zu groß und die Maßnahme daher nicht mit der Kunst- und Baudenkmalpflege vereinbar sei.

 

Ein Blick auf die ersten beiden Bauabschnitte und die Pläne für den laufenden 3. Bauabschnitt zeigt, wie verantwortungsvoll mit dem Denkmalbestand und der Historie bislang umgegangen worden ist. Es wurde stets dafür Sorge getragen, so substanzschonend wie möglich vorzugehen. Der Haupteingang nimmt jedoch eine besondere Stellung ein. Er soll für ein inklusives und integratives Museum stehen und gleichzeitig ein Statement mit Vorbildcharakter für eine inklusive Gesellschaft werden. Daher ist es von essenzieller Bedeutung, die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen höher einzustufen als den Schutz wertvoller historischer Bausubstanz. Noch verhindert das Landesdenkmalamt Architektur und Außenanlagen inklusiv umzugestalten und zukunftsfähig zu machen.

 

5. Ein Förderprogramm zur Ermöglichung von mehr Klagen zur Erreichung der Barrierefreiheit

Es braucht ein Mehr an gerichtlichen Entscheidungen zur Barrierefreiheit. Während es – soweit ersichtlich – kaum Entscheidungen gibt, in denen das Fehlen barrierefreier Einrichtungen gerügt wird, zeigt sich umgekehrt eine großzügige denkmalschutzrechtliche Genehmigungspraxis. Auch zur gerichtlichen Durchsetzung von Barrierefreiheit braucht es neuaufzulegender Förderprogramme.

 

 

Antrag 101/I/2023 Kein catchiger Titel, aber dafür catchige Krankheiten: für Testmöglichkeiten von STIs

27.04.2023

Sexuell übertragbare Krankheiten (STIs) kommen immer häufiger vor: In Deutschland hat sich die Zahl der Syphilis-Fälle in den Jahren von 2009 bis 2019 verdoppelt und seit 2001 sogar vervierfacht. Dass einige STIs auch über Oralsex übertragbar sind, ist oft unbekannt. Aufgrund der leichten Übertragbarkeit wäre es wichtig, sich vor allem bei wechselnden Sexualpartner*innen regelmäßig auf STIs zu testen, auch wenn keine Symptome auftreten. Leider ist das aufgrund verschiedener Hindernisse nicht die Lebensrealität vieler Menschen:

Zum einen sind STIs weiterhin tabuisiert. Zudem sind STI-Tests nicht leicht zugänglich: Wenn man im Internet nach STI-Tests in Berlin sucht, erhält man viele kommerzielle Angebote wie private Testzentren oder Testkits für zu Hause, die über 100 Euro kosten.

Zwar gibt es bereits einige sehr gute Angebote, zum Beispiel von der Berliner Aidshilfe oder dem Checkpoint (einem Zentrum für sexuelle Gesundheit mit Test- und Behandlungsangebote für STIs sowie Beratungsangebote zu sexueller Gesundheit, Chemsex/Substanzkonsum und queeren Themen), bei dem die Kosten für HIV-Tests, die meist zwischen 5 und 25 Euro liegen, erstattet werden können.

Bislang gibt es außerdem die Möglichkeit von STI-Tests in den Gesundheitsämtern von vier Bezirken (Mitte, Marzahn-Hellersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf) mit telefonischer Voranmeldung. HIV-Tests dort kosten 10 Euro für Zahlungsunfähige.

Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist allerdings in der Regel an das Vorliegen von Anzeichen einer STI gebunden bzw. wenn bei dem*der Sexpartner*in bereits eine STI festgestellt wurde. Es ist allerdings nicht immer so, dass die Anzeichen einer STI bemerkt oder als solche wahrgenommen werden. So können diese unbemerkt an weitere Personen übertragen werden. Es ist daher wichtig präventiv die Möglichkeit zu haben, unabhängig vom Geldbeutel, einen STI-Test zu machen bevor es zur unbemerkten Verbreitung bzw. auch Schäden durch Nicht-Behandeln der Infektion kommt. Auch die vorhandenen Strukturen und Angeboten müssen gestärkt und ausgebaut werden, um Hürden wie lange Anfahrtswege und überlastete Testkapazitäten zu senken.

Ein anonymes Testangebot bereitzustellen ist heutzutage noch für viele Menschen wichtig. Offene, niedrigschwellige Testangebote bieten in der Regel anonyme Tests an. Sie auszubauen ist daher ein wichtiges Anliegen. Gerade auch, weil es ebenso Menschen gibt, die ohne gesetzliche Krankenversicherung ihr Leben bestreiten müssen und daher diese niedrigschwelligen Testangebote benötigen.

Epidemiologische Kennziffern verdeutlichen, dass FINTA*-Personen sowie queere Menschen am häufigsten an STIs leiden. Hinzu kommt auch, dass selbige oftmals sowieso schlechteren Zugang zu medizinischer Infrastruktur haben. Die Ausweitung der Testmöglichkeiten stellt auch eine Möglichkeit da, die bestehende Stigmatisierung durch sexuell-übertragbare Krankheiten weiter einzudämmen und mehr Aufmerksamkeit für STIs zu erzeugen.

Aus diesem Grund fordern wir, dass…

  • das Testangebot für sexuell-übertragbare Krankheit so ausgebaut wird, dass in jedem Bezirk mindestens eine Möglichkeit zur Testung besteht. Dies soll möglich sein, durch unabhängige, gemeinnützige und finanzierte Stellen, um die Kostenlosigkeit zu gewährleisten. Entsprechend soll § 1 Gesundheitsdienst-Zuständigkeitsverordnung (GDZustVO) angepasst werden.
  • Es soll ein gesetzlicher Anspruch geschaffen werden, sodass STI-Tests auch ohne Anlass, also ohne Symptome bzw. STI-Nachweis bei Sexpartner*in, von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden.
  • Das Land Berlin wird aufgefordert die Förderung von Projekten, welche STI-Tests anonym und niedrigschwellig anbieten in dem Maße zu erhöhen, sodass diese zukünftig höhere Kapazitäten für Tests bereitstellen können und diese kostenfrei in Anspruch genommen werden können
  • die STI-Testung in ärztlichen Praxen mit infektiologischem Schwerpunkt für alle jederzeit zugänglich ist und die Kosten für die Tests vollständig von der Krankenkasse getragen werden.
  • der Zugang zur HIV-Prophylaxe PrEP (Präexpositionsprophylaxe) und die dauerhafte und vollständige Kostenübernahme durch Krankenkassen allen, unabhängig vom Sexualverhalten, ermöglicht wird.
  • Zielgruppenspezifische finanzielle Mittel für mehr Aufklärung und Informationen zu Testzentren.

zusätzlich in allen Bildungseinrichtungen nicht-stigmatisierende Bildungsangebote und Ansprechpersonen eingerichtet werden und auch außerhalb von Bildungseinrichtungen Aufklärungsangebote ausgebaut werden.

Antrag 67/I/2023 Sozialdemokratische Friedenspolitik: Außen- und Sicherheitspolitik gestalten

27.04.2023

1. Unsere Ausgangslage

Der brutale Überfall Russlands auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 markierte eine Zäsur für die deutsche, europäische und internationale Außen- und Sicherheitspolitik. Der Krieg und die Verübung grausamer Kriegsverbrechen durch die russischen Besatzer führen dazu, dass Millionen Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen. Laut den Vereinten Nationen sind insgesamt rund acht Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Es gibt rund sechs Millionen Binnenvertriebene (jew. Stand 14.1.2023). Die russische Kriegsführung trifft zielgerichtet die ukrainische Bevölkerung und zerstört die zivile Infrastruktur. Es gilt – gemeinsam und abgestimmt im Verbund der EU und NATO – die Ukraine bei der Selbstverteidigung zu unterstützen, der ukrainischen Bevölkerung zu helfen und Russland völkerrechtlich für seinen imperialistischen Angriffskrieg  zur Verantwortung zu ziehen.

 

Die durch den Angriffskrieg entstandenen Herausforderungen an Deutschland und seine Partner hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem Begriff “Zeitenwende” betitelt. Zeitenwende wird hierbei als eine grundlegende Änderung der europäischen Sicherheitsordnung verstanden. Der Begriff Zeitenwende ist nicht unumstritten. Unstrittig dürfte jedoch sein, dass die Sozialdemokratie intensiver diskutieren muss, welchen außenpolitischen Weg sie in Zukunft einschlagen muss. Hierzu gehört unzweifelhaft nicht nur eine Aufarbeitung der Russlandpolitik, sondern auch eine kritische Überprüfung der gesamten Außen- und Sicherheitspolitik der letzten Jahrzehnte. Hinterfragt werden muss das Hinnehmen des Sterbens von geflüchteten Menschen an Europas Außengrenzen. Auch Auslandseinsätze wie zum Beispiel in Afghanistan oder Mali müssen im Hinblick auf Zielsetzung, Folgen und Konsequenzen sowie die Qualität der nationalen und europäischen Kapazitäten zur Landes- und Bündnisverteidigung analysiert werden.

 

Die SPD muss als Friedenspartei die Leitplanken und Möglichkeiten der aktuellen Außen- und Sicherheitspolitik überprüfen und festlegen, wie sie sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aufstellen möchte. Dieser Prozess muss durch einen umfassenden Diskussionsprozess in der Partei begleitet werden. Dieser Antrag ist ein Beitrag zur notwendigen breiten Debatte um die zukünftige Ausrichtung sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik.

 

2. Unsere Säulen sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik

Die Friedens- und Sicherheitspolitik der Sozialdemokratie ruht auf einem festen Fundament, wie es in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit dem Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit aller Menschen festgeschrieben wurde. Willy Brandt hat das Ziel der weltweiten „Freiheit von Not und von Furcht“ abgeleitet. Dies bleibt unser Anspruch.

 

Diese Freiheit wird im Kern gefährdet durch weltweite Entwicklungen: durch wachsende soziale Ungleichheiten – national und global -, humanitäre Krisen, die Rückkehr von Autokratien und Diktaturen. Sie ist ebenso bedroht durch den systematischen Abbau bürgerlicher Freiheiten und die Untergrabung der Menschenrechte, durch existenzielle Bedrohungen für diejenigen, die unabhängig journalistisch arbeiten, und Einschränkungen in der Unabhängigkeit von Gerichten, Rechtsprechung und Wahlverfahren für Richterinnen und Richter. Grundlage einer gedeihlichen Entwicklung sind offene Gesellschaften, die ihren Mitgliedern den Kampf für ihre Rechte ermöglichen. Ohne die Gleichheit der Rechte aller Menschen bleibt Freiheit von Not und Furcht nur Stückwerk.

 

Die Freiheit von Not und Furcht wird auch bedroht durch die fortschreitende Klimakrise, die Menschen ihre Existenzgrundlage nimmt und vielen Millionen weiteren zu nehmen droht.

 

Unser Verständnis von Außen- und Sicherheitspolitik ist breit, weil wir nicht auf eine kurzfristige sektoral begrenzte, sondern eine langfristige und werteorientierte Perspektive setzen, die ein friedliches, respektvolles Miteinander ermöglichen: Es muss neben den u.U. lebensrettenden Erfordernissen von Schutz und Verteidigung stets die langfristige menschliche Sicherheit aller – insbesondere von Frauen, Kindern und marginalisierten Gruppen – mitdenken, die Folgen für Energieverbrauch und fortschreitenden Klimawandel, die Folgen für wirtschaftliche Beziehungen und den Ausbau von sozialen und politischen Menschenrechten gerade auch im globalen Süden.

 

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat Russland das internationale Völkerrecht gebrochen und die kollektive Sicherheitsordnung Europas nach der Schlussakte von Helsinki 1975 verlassen. Spätestens seit 2014 ist deutlich, dass die Verflechtung durch Wirtschaftsbeziehungen keinen Frieden in Europa und auch anderswo garantiert.

 

Eine sozialdemokratische Friedens- und Sicherheitspolitik erfordert also eine stetig entlang transparenter Kriterien und Werte weiterzuentwickelnde und anpassungsfähige Strategie. Ihr zugrunde liegt eine ganzheitliche Herangehensweise, in die Sachstände, Bewertungen und strategische Vorausschau aus allen relevanten Ministerien kontinuierlich einfließen und auf allen Ebenen miteinander abgestimmt werden (sog. Vernetzter Ansatz). Für sein Gelingen muss die Bundesregierung die notwendigen institutionellen Strukturen schaffen.

 

Wir sehen folgende Prüfsteine als wesentlich für eine langfristig erfolgreiche sozialdemokratische Friedens- und Sicherheitspolitik an:

  • Aus den historischen deutschen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gespeiste bewährte Zurückhaltung im Einsatz militärischer Mittel, eine Stärkung und Weiterentwicklung des Völkerrechts sowie eine langfristige und vorausschauende Friedenssicherung.
  • Enge und frühzeitige, kontinuierliche Abstimmung mit den Bündnispartnern in EU und NATO unter Einbeziehung der jeweiligen Interessen der Partner sowie eine in Absprache mit den Partnern komplementäre und arbeitsteilige Schwerpunktsetzung der deutschen Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung.
  • Strategisch breit fundierte und jeden Einzelfall abwägende Entscheidungsfindung. Offene Kommunikation, gerade auch über das Lernen aus Fehlern und Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur.
  • Aufrechterhaltung von Gesprächskanälen auch mit politischen Akteuren, die nicht entsprechend unserem Wertesystem oder sogar völkerrechtsverletzend handeln, um zu jedem wünschenswerten Zeitpunkt diplomatische Schritte gehen zu können, bei gleichzeitiger maximaler Klarheit über den eigenen politischen Standpunkt. Die Aufrechterhaltung von Gesprächskanälen darf einer entschlossenen Politik nicht im Wege stehen.
  • Die zunehmende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verlangt weiterhin eine konsequente Politik der effektiven Rüstungskontrolle mit dem langfristigen Ziel der Rüstungsbegrenzung und der Perspektive einer Abrüstung. Wir setzen uns weiterhin für eine internationale Ächtung des Einsatzes von Atomwaffen ein und bekräftigen unser Ziel einer atomwaffenfreien und entmilitarisierten Welt. Dies wird allerdings nur in einem internationalen Kontext stattfinden können.
  • Ein von der Bundesregierung umzusetzender Vernetzter Ansatz: Bei jedem Einsatz zur Friedenssicherung werden von Beginn an alle einschlägigen Ressorts beteiligt und auf Gegebenheiten und Perspektiven vor Ort wird eingegangen. Die Entwicklungszusammenarbeit darf dabei neben sicherheitspolitischer Planung keine untergeordnete Rolle einnehmen.
  • In der Entwicklungszusammenarbeit muss die qualitative Nachhaltigkeit der Erfolge zentral sein. Wir wirken darauf hin, dass die Entwicklungszusammenarbeit Wirtschaften stärkt und Arbeitsmärkte aufbaut, die insbesondere Frauen, jungen Menschen und marginalisierten Gruppen langfristige Perspektiven zum sozialen Aufstieg in ihren Heimatländern bieten. Die Verpflichtung, mindestens 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe bereitzustellen, muss eingehalten werden.
  • Zielorientierte Einpassung in die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele, welche die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015 einmütig verabschiedet hat: z.B. Armut und Hunger beenden (1, 2), inklusive und gute Bildung für alle sichern (4), Geschlechtergerechtigkeit (5) sowie sauberes Wasser und saubere, bezahlbare Energieverfügbarkeit (5,6) sichern.
  • Verfolgung des Ziels des Pariser Klimaabkommens – das heißt, die Begrenzung der Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad, und möglichst auf 1,5 Grad.

 

3. Internationale Organisationen stärken

Die Zeitenwende global zu verstehen, bedeutet auch, dass wir seit Jahren bestehende Paradigmen der deutschen Positionierung im multilateralen Raum überdenken und gemäß unserem Anspruch einer gerechten und kooperativen Welt anpassen müssen. Hierfür benötigt es strategische Partnerschaften und Allianzen mit Ländern aller Regionen und Kontinente, die geprägt sein müssen von gegenseitigem Respekt und Glaubwürdigkeit.

 

  • Die EU soll wichtigster Orientierungs- und Handlungsrahmen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik werden. Um die rüstungs- und verteidigungspolitischen Ziele der Zeitenwende nachhaltig und politisch tragbar umzusetzen, braucht es eine engere Verzahnung der Beschaffungspolitik mit den EU-Partnern als bisher. Es gilt, eine gemeinsame Beschaffungsstrategie so anzugestalten, dass Interoperabilität der Rüstungssysteme und Lastenteilung in den Produktions- und Verteidigungskapazitäten der gesamten EU sichergestellt sind. Hierfür benötigt es kurz- und mittelfristig höhere politische und finanzielle Investitionen.
  • Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch die zentrale Rolle der NATO, zumal die USA, als Garanten für die europäische Sicherheit deutlich gemacht. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir die Anhebung der Verteidigungsausgaben durch die Mitgliedsstaaten. Mittelfristig muss an die Stelle des 2%-Ziels eine mehrjährige, an den wirtschaftlichen und beschaffungstechnischen Kapazitäten der Mitgliedstaaten orientierte arbeitsteilige Investitionsstrategie treten, welche die demokratische Wehrhaftigkeit und Einsatzfähigkeit des Bündnisses garantiert und bestehende Lücken schließt.
  • Eine Stärkung der Vereinten Nationen als wichtigstes Gremium der internationalen Verhandlungen und Konfliktlösung kann nur durch ein aktives und kooperatives Verhalten Deutschlands und der EU innerhalb der Vereinten Nationen erfolgen. Dazu gehört der strategische und am globalen Gemeinwohl orientierte Austausch mit den Staaten des Globalen Südens, die sich innerhalb der Vereinten Nationen zur G77 zusammengeschlossen haben. Vertrauensbildende Maßnahmen könnten u.a. die aktive Beteiligung der EU an den Verhandlungen eines verpflichtenden Abkommens über Wirtschaft und Menschenrechte, Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen, Schuldenerlasse sowie der Einsatz für eine Zinsabsenkung in der Kreditvergabe der internationalen Entwicklungsbanken an Staaten des globalen Südens sein.
  • Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland gegen die in der Schlussakte von Helsinki beschlossenen und durch die Charta von Paris (1990) bekräftigen Prinzipien der OSZE verstoßen. Das Gremium kann in Folge der russischen Aggression derzeit seiner Aufgabe als Dialogforum der paneuropäischen Sicherheit nicht ausreichend nachkommen. Mittelfristig – nach einem Rückzug russischer Truppen aus den ukrainischen Gebieten – könnte die OSZE in einer signifikant veränderten sicherheitspolitischen Landschaft abermals ihre Aktivitäten wieder aufnehmen, vor allem in Bereich des Vertrauensaufbaus und der Transparenz.
  • Nur wenige Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine schloss der Europarat als Organisation für Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Demokratie Russland aus den eigenen Reihen aus. Nichtsdestotrotz soll der Europarat und die Parlamentarische Versammlung des Europarates weiterhin ein Ort für die russische Zivilgesellschaft sein, um die Möglichkeit zu bieten, sich international Gehör zu verschaffen und zu vernetzen.
  • Die G7 und G20 müssen als diplomatische Foren gestärkt werden. Hierzu gehören klare Strategien und gemeinsame Zielsetzungen mit den nicht-westlichen Mitgliedsstaaten in der G20, z.B. im Bereich des Klimawandels, des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen oder der globalen Bekämpfung von Steuerflucht. Sowohl der von Olaf Scholz im Rahmen der G7 angeregte Klimaclub als auch die Initiative der G20 einer globalen Mindestbesteuerung von Unternehmen sollten forciert werden.

 

4. Konfliktursachen bekämpfen, Stabilität fördern und Perspektiven schaffen

Internationale Solidarität, Verantwortung und Führung muß fußen auf dem skizzierten Kontext der demokratischen Wertebindung – Menschenwürde, Freiheit von Not und Furcht, Rechtssicherheit, Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Stabilen Fortschritt können sie nur bewirken, wenn die Folgen einer solidarischen und verantwortungsvollen Politik für Frauen und Kinder, für die Klimaentwicklung, für die Armen der Welt mitgedacht sind.

 

Unsere Forderungen sind:

  • Wir wollen die Selbstverteidigung der Ukraine wirksam unterstützen, um ihre Existenz zu sichern. Davon hängt ab, wie sich das Verhältnis zwischen dem demokratischen Europa und Russland entwickeln wird.
  • Wir wollen eine Feministische Außenpolitik zur Unterstützung von Sicherheit, Freiheit, Inklusion und Teilhabe.
  • Wir wollen offene Gesellschaften, Rechtssicherheit und Meinungsfreiheit global unterstützen. Hierzu gehört die internationale Förderung einer freien Pressearbeit sowie der Kampf gegen die zunehmende Verbreitung von Fake News, etwa durch den Ausbau staatlicher Medienprogramme und einer stärkeren schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit zum Thema internationale Beziehungen.
  • Wir wollen klare Regelungen für eine gute EU-Migrationspolitik. Kommunen, die Geflüchtete aufnehmen, sollen finanziell unterstützt werden.
  • Ursachen und Folgen der Klimakrise stehen unmittelbar im Zusammenhang mit ökonomischen und sozialen Bedrohungen in Gesellschaften. Wir unterstützen es, dass westliche Staaten Schwellenländern mit einem hohen Kohleanteil bei der Stromerzeugung, wie Südafrika, Indonesien und Vietnam, durch “Energiewende-Partnerschaften” finanziell dabei helfen, auf erneuerbare Energien umzusteigen. Wir fordern, solche Partnerschaften mit weiteren Staaten einzugehen. Die eingesetzten öffentlichen Gelder dürfen nicht zu einer weiteren Verschuldung der Länder führen und müssen als Hebel für die Mobilisierung von privaten Investitionen genutzt werden. Wir wollen einen stärkeren finanziellen Einsatz für den Lastenausgleich bei den Klimaveränderungen und eine Stärkung der internationalen Katastrophenhilfe. Deutschland muss seinen gerechten Anteil an den versprochenen 100 Milliarden leisten, die jedes Jahr Ländern im globalen Süden zur Verfügung gestellt werden sollen, um Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel zu finanzieren.
  • Eindeutige politische Unterstützung der Protestbewegung im Iran gegen die Regierung in ihrem mutigen Kampf um Frauen- und Freiheitsrechte; diese politische Unterstützung sollte auch konkrete Maßnahmen wie wirksame Sanktionen politisch Verantwortlicher einschließen.
  • Politische Unterstützung aller Maßnahmen der Staatengemeinschaft, die den unangefochtenen Fortbestand und die selbstbestimmte demokratische Weiterentwicklung Taiwans verfolgen.
  • Bei den Wirtschaftsbeziehungen mit China sind einseitige deutsche und europäische Abhängigkeiten bei wichtigen Rohstoffen, Vorprodukten etc. zu reduzieren. Solchen Abhängigkeiten, die unsere politischen Spielräume beispielsweise in Bezug auf Menschenrechte entscheidend einengen, ist durch Diversifizierung u.a. in der Rohstoff- und Industriepolitik zu begegnen, auch wenn dies zu Mehrkosten führt.
  • Auch und gerade angesichts der jüngsten Regierungsbildung in Israel gelten für uns weiterhin die Sätze aus unserem Grundsatzprogramm von 2007: “Deutschland hat eine besondere Verantwortung für das Existenzrecht Israels. Auch deswegen engagieren wir uns für einen umfassenden Frieden im Nahen Osten auf der Grundlage internationaler Verträge. Wir setzen uns für die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes und die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates ein.”

 

5. Ausblick

Auch jenseits der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit muss die Zeitenwende sich in der deutschen EU-Politik in eine stärkere Integration und einer Beschleunigung des stockenden Erweiterungsprozesses übersetzen. Um das seit Jahren angestrebte Ziel qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik endlich zu erreichen, muss die Bundesregierung sich für eine Kompromissfindung öffnen. Das gilt auch in Hinblick auf Forderungen der Partner hinsichtlich der gemeinsamen Schuldenaufnahme und dauerhaft höherer Investitionen. Deutschland muss seine Rolle im Gefüge einer nationalen, europäischen und globalen Sicherheitsordnung finden. Das heißt Verantwortung zu übernehmen.

Antrag 174/II/2022 Für Medien ohne Kapitalismus: Öffentlich-rechtlichen Rundfunk zukunftssicher und gerecht finanzieren

10.10.2022

Nach dem zweiten Weltkrieg, in dem Propaganda über die neu aufkommenden Massenmedien eine zentrale Rolle bei der Verbreitung des menschenfeindlichen und antisemitischen Weltbildes der Nationalsozialist*innen hatte, wurde das Rundfunksystem in Deutschland neu aufgebaut. Nach dem Vorbild der britischen BBC entstand auch in der Bundesrepublik ein duales Rundfunksystem. Das bedeutet, dass es neben kapitalistisch finanzierten Medienunternehmen auch Rundfunkmedien gibt, die nicht primär den Logiken des Kapitalismus unterworfen sind, sondern größtenteils durch die Öffentlichkeit finanziert werden.

 

Die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird vertraglich zwischen den Bundesländern in einem Staatsvertrag geregelt. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung auch in der Medienbranche wurde dieser 2020 als Medienstaatsvertrag neu abgeschlossen – früher hieß es nur Rundfunkstaatsvertrag. In diesem Medienstaatsvertrag wird die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks definiert als “Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen”. Damit wird an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk höhere gesellschaftliche und demokratische Ansprüche gestellt als an privatwirtschaftlich finanzierte Medienunternehmen.

 

Zu Beginn des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beschränkte sich das Angebot vor allem auf Radiosender sowie das Fernsehprogramm der ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland). Zur Umsetzung des rechtlichen Auftrags wurde das Angebot stetig ausgeweitet. Mittlerweile umfasst es diverse Fernsehprogramme, Radiosender, sowie Angebote wie funk, die ausschließlich im Internet ausgestrahlt werden.

 

Mit dieser Ausweitung und der gestiegenen Konkurrenz durch private Rundfunkanbieter*innen sowie den zunehmenden feindlichen Bewegungen gegen freie Medien und deren Berichterstattung – insbesondere gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – entbrennen immer wieder Diskussionen über die Sinnhaftigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Diese machen sich ebenfalls oft an der Finanzierung fest, sowie an der angeblich mangelnden Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Obwohl der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen klaren rechtlichen Auftrag durch die Bundesländer bekommt, ist er dennoch unabhängig von politischer Einflussnahme. Dies ergibt sich aus Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Staatsferne des Rundfunks sowie die Pressefreiheit schützt. Zwar gibt es immer wieder – berechtigte – Kritik an der Zusammensetzung der Aufsichtsgremien, wie dem ZDF-Fernsehrat, in dem auch Politiker*innen vertreten sind. Dennoch ist die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unabhängig von politischer – und auch weitestgehend auch kapitalistischer – Einflussnahme.

 

Diese Staatsferne zeigt sich auch in der Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die im Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag geregelt wird. Die Höhe des finanziellen Bedarfs des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird von der Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) festgelegt. Die Kommission, deren Mitglieder unabhängige Sachverständige sind und von den Regierungschef*innen der Länder berufen werden, gibt den Regierungen der Bundesländer alle zwei Jahre Auskunft über die finanzielle Situation der Bundesländer. Dabei gibt sie abwechselnd einen Zwischenbericht oder eine Empfehlung zur Beitragshöhe ab. Die Beitragshöhe wird nach der Empfehlung der KEF durch die Landesparlamente verabschiedet. Allerdings wird auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk teilweise (unter zehn Prozent) durch Werbung und Sponsoring mitfinanziert. Somit werden ca. 90 Prozent der Einnahmen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus den Gebühren der Allgemeinheit generiert.

 

Wer diese Gebühr entrichten muss, hat sich in der Vergangenheit ebenfalls geändert. Zunächst musste die Gebühr nur entrichtet werden, wenn es ein Rundfunkgerät in einem Haushalt gab. Durch die Digitalisierung und der Tatsache, dass die meisten Menschen mindestens ein Endgerät zur Verfügung haben, um Rundfunk zu empfangen, wurde dies 2010 in eine Haushaltspauschale – unabhängig von der Anzahl der Rundfunkgeräte – umgestellt. Seit 2013 muss jeder Haushalt in Deutschland den gleichen Rundfunkbeitrag errichten. Ausnahmen gibt es dabei u.a. für Sozialhilfeempfänger*innen, sowie Bafög-Empfänger*innen, Empfänger*innen der Grundsicherung. Menschen, die Wohngeld beziehen oder Arbeitslosengeld I sind allerdings zur Entrichtung der Gebühr verpflichtet. Zwar gibt es die Möglichkeit einen Härtefallantrag zu stellen. Das Problem, dass alle – unabhängig vom Einkommen – die gleiche Gebühr entrichten müssen, bleibt dennoch. Für Menschen mit geringem Einkommen können die monatliche Abgabe von 18,36€ durchaus eine massive finanzielle Belastung darstellen, während es für andere überhaupt kein Problem darstellt.

 

Trotz dieser Ungerechtigkeit in der Finanzierung ist für uns klar, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein zentraler Pfeiler der Demokratie ist. Ohne freie Medien ist ein demokratischer Diskurs und demokratische Entscheidungen nicht möglich. Anders als private Rundfunkanbieter muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht um ausbleibende Finanzierung fürchten, wenn kritisch über Wirtschaftsthemen berichtet wird oder bestimmte Einschaltquoten verfehlt werden. Durch die öffentliche Finanzierung wird darüber hinaus eine Themen- und Programmvielfalt sichergestellt, die im privat-finanzierten Rundfunk aufgrund des Drucks der Einschaltquoten keinen Bestand hätten. Durch die sichergestellte Finanzierung wird außerdem Journalist*innen die Möglichkeit gegeben, langfristig und investigativ zu recherchieren. So können seriöse Informationen generiert werden, die insbesondere in den heutigen Zeiten, in denen Fake News zur Tagesordnung gehören, von besonderer Relevanz sind. Wir sprechen uns entschieden gegen neoliberale Ideen aus, die die Privatisierung oder Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fordern. Diese Tendenzen sind allerdings durchaus ernst zu nehmen. So wird nach Willen der britischen Regierung die BBC ab 2027 nicht mehr über Gebühren finanziert, sondern durch Abonnements und Teilprivatisierung. Auch in Deutschland kam es 2020 zu einem Eklat, als sich der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Reiner Haseloff (CDU) gegen die von der KEF beschlossene Erhöhung der Rundfunkgebühr stellte und dies nicht im Landtag zur Abstimmung brachte. Erst nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde der Beitrag vorläufig erhöht.

 

Wir erkennen an, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk auch in Deutschland nicht frei von Fehlern ist. Anstatt ihn aber aufgrund seiner ungerechten Finanzierung abschaffen zu wollen, wollen wir die Finanzierung reformieren, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerechter und unabhängiger zu finanzieren. So wollen wir sicherstellen, dass der wichtige Beitrag, den der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die Demokratie leistet, auch weiter geleistet werden kann.  

 

Die offensichtlichste Lösung wäre es, den Rundfunkbeitrag in eine Steuer umzuwandeln. Dies ist allerdings nicht möglich, da eine ‘normale’ Steuer, gegen die in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschriebene und enorm wichtige Staatsferne des Rundfunks verstoßen würde. Allerdings gibt es in Deutschland bisher eine ‘Steuer’, deren Höhe ebenfalls nicht von der Politik festgelegt wird – die Kirchensteuer. Die Höhe dieser wird seitens der jeweiligen Religionsgemeinschaft selbst festgelegt und von den Finanzämtern gegen eine Gebühr eingezogen. Diesen Weg wollen wir auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einschlagen. Die Einflussnahme des Staates ist dabei weiterhin so gering wie möglich zu halten. Besonders vor dem Hintergrund, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch die Allgemeinheit finanziert wird und eine tragende Säule unserer Demokratie ist, ist Vorwürfen von Missbrauch der Rundfunkgelder entschieden nachzugehen. Dies betrifft insbesondere die aktuelle Situation um die ehemalige Intendantin des rbb, Patricia Schlesinger. Die mutmaßliche Ausgabe von Rundfunkgeldern für private Luxusessen und teure Dienstwägen ist nicht hinzunehmen. Hier bedarf es einer nachhaltigen Aufklärung der Vorwürfe sowie einer Analyse und einer Reflexion der Prozesse, die die Nutzung und Verteilung von finanziellen Mitteln im rbb genehmigen und kontrollieren sollen. Es muss klar sein, dass die größtmögliche Transparenz in der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks notwendig ist. Die Gelder, die durch die Rundfunkbeiträge generiert werden, müssen zwingend transparent, verantwortungsbewusst und bedarfsgerecht verteilt werden.

 

Konkret fordern wir daher die sozialdemokratischen Mitglieder der Landesparlamente auf, darauf hinzuwirken, dass

 

  • die KEF den Rundfunkbeitrag zukünftig als Prozentzahl in Relation zum Einkommen festlegt wird. Der Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag ist entsprechend zu ändern.
  • die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks so zu gestalten, dass zukünftig eine Finanzierung ohne Werbe- und Sponsoringeinnahmen möglich ist.
  • die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch zukünftig sichergestellt wird.
  • ein transparenter, verantwortungsvoller und bedarfsgerechter Umgang mit den Beitragsgeldern gewährleistet wird.