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Antrag 157/I/2020 Auskunftssperren sind kein Luxus: Melderecht reformieren

25.09.2020

Wir fordern eine Reform des Melderechts dahingehend, dass die Erteilung einer einfachen Melderegisterauskunft das individuelle Einverständnis der betroffenen Person vor der Datenweitergabe erfordert, sofern nicht ein objektives berechtigtes Interesse (Durchsetzung rechtlicher Ansprüche) nachgewiesen wird.

 

Die Voraussetzungen für die Eintragung einer Auskunftssperre soll soweit gesenkt werden, dass eine Gefährdungslage ausreichend ist.

Antrag 259/II/2019 Digitale Infrastruktur als öffentliche Daseinsvorsorge begreifen!

23.09.2019

Die digitale Infrastruktur ist eine der Schlüsselinfrastrukturen unserer Zeit. Für die Digitalisierung und Transformation von Produktionsprozessen, das Internet der Dinge, Smart Cities, Dienstleistungsangebote im ländlichen Raum oder digitalen Medienkonsum sind funktions- und leistungsfähige Breitbandnetze die zwingende Voraussetzung. Dass öffentliche Daseinsvorsorge auch in öffentliche Hand gehört ist eine Grundüberzeugung der Sozialdemokratie. Wo sich jedoch in den Bereichen Krankenversorgung, Wasserversorgung, Stromnetze, ÖPNV oder Wohnen große öffentliche Debatten und Vorschläge wiederfinden, ist es im Bereich der digitalen Infrastruktur überraschend still. Nehmen wir die Wichtigkeit der digitalen Infrastruktur jedoch ernst, müssen wir auch diese als öffentliche Daseinsvorsorge begreifen. Der aktuelle, privat kontrollierte Zustand, ist nämlich desaströs.

 

Art. 87f (1) GG verpflichtet den Bund zur „flächendeckend angemessenen und ausreichenden“ Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen. Nach Art. 87f (2) GG sind diese Telekommunikationsdienstleistungen jedoch ausschließlich durch „privatwirtschaftliche Tätigkeiten durch die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen (Deutsche Telekom) und durch andere private Träger“ zu erbringen. Was ursprünglich die vermeintlichen Kräfte des freien Marktes aktivieren sollte, hat in der Realität jedoch verehrende Auswirkungen. Die Verlagerung der Telekommunikation in die private Domäne ist der Hauptgrund dafür, dass Deutschland trotz üppiger Bundesfördermittel von 4,5 Mrd. € im Breitbandausbau immer noch Entwicklungsland ist.

 

Es gibt zwei Fördermodi: sogenannte Wirtschaftlichkeitslückenförderung, und das sogenannte Betreiber*innenmodell. Beim Wirtschaftlichkeitslückenmodell bauen die Kommunen das Breitbandnetz nicht selbst aus. Stattdessen fließen die Fördermittel als Subventionen an private Telekommunikationsunternehmen. Rentiert es sich z.B. für ein Unternehmen nicht in den Breitbandausbau eines Dorfes mit 50 Einwohnern zu investieren, schließen die Fördermittel die Lücke, sodass es sich rentiert. Beim Betreiber*innenmodell baut die Kommune das Netz selbst, und verpachtet es anschließend für 20-30 Jahre an private Telekommunikationsunternehmen. Laut Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur fließen 75% der bewilligten Fördermittel in die Wirtschaftlichkeitslückenförderung. Anstatt öffentliche Infrastruktur zu schaffen, betreibt der Staat indirekte Unternehmenssubventionen.

 

Auch beim Betreiber*innenmodell eröffnet die grundgesetzlich geschützte Hoheitsposition privater Telekommunikationsunternehmen ihnen jedoch eine Vielzahl von Wegen den staatlichen Breitbandausbau zu verhindern oder zu sabotieren. Wenn eine Kommune ihr Breitbandnetz ausbauen möchte, stellt sie zunächst einen Antrag auf Förderung. Wird dieser bewilligt, können die privaten Telekommunikationsunternehmen innerhalb von 6 Wochen während der sogenannten „Markterkundungsphase“ ein Veto einlegen, falls sie, nach Eigenaussage, in den nächsten drei Jahren im ausgeschriebenen Gebiet selbst bauen möchten. Geschieht dies, darf die Kommune nicht bauen. Oft legen Private Veto ein, nur um nachträglich Gründe anzugeben, warum sie in den nächsten drei Jahren doch nicht bauen können. Außerdem wissen die Kommunen gar nicht verlässlich, in welchen Gebieten denn überhaupt bereits Breitband liegt. Das Breitbandnetz der privaten Telekommunikationsunternehmen zählt nämlich als Geschäftsgeheimnis. Oft melden sich die privaten Telekommunikationsunternehmen erst während des Ausschreibungsprozesses für den Bau und geben an, dass sie in Teilen der ausgeschriebenen Gebiete bereits Breitband verlegt haben. Geschieht dies, ist die Ausschreibung fehlerhaft und der Verwaltungsprozess muss von Null gestartet werden.

 

Selbst wenn die privaten Telekommunikationsunternehmen kein Veto einlegen, und im ausgeschriebenen Gebiet kein Breitband von ihnen liegt, binden sie vielerorts Baufirmen per Exklusivverträgen an sich. Selbst wenn Baukapazitäten existieren, was in der aktuellen Hochkonjunkturphase der Baubranche ohnehin eine Seltenheit ist, können diese deshalb oft von den Kommunen nicht abgerufen werden.

 

Besonders problematisch ist das Geschäftsgebaren der Deutschen Telekom, die den Kommunen Steine in den Weg legt. Durch die Privatisierung der Deutschen Bundespost wurde die Telekom alleinige Inhaberin der Teilnehmeranschlussleitungen (TAL). Dieses, umgangssprachlich auch als „Letzte Meile“ bezeichnetes, Netzsegment verbindet die Vermittlungsstellen, welche grundsätzlich allen Internet Service Providern (ISPs) offenstehen, mit den Hausanschlüssen der Kund*innen. In Deutschland existieren viele sehr leistungsfähige, überregionale IP-Netze (Backbones). Betreiber*innen sind sowohl privatwirtschaftliche Unternehmen, aber auch öffentlich-rechtlich oder genossenschaftliche Träger*innen (wie z. B. das Deutsche Forschungsnetz). Praktisch profitieren Privathaushalte von dieser Infrastruktur nicht, da die TAL stets von der Telekom gemietet werden muss. Zudem ist die Zugangstechnik oft veraltet, es kommen i. d. R. die eigentlich nur für Telefonie konzipierten doppeladrigen Kupferleitungen zum Einsatz. Da die Deutsche Telekom auf neu gebaute TAL, die auf moderne Glasfasertechnik setzen (FTTC, FTTH) kein Monopol hätte, wird der Ausbau durch sie aktiv ausgebremst.

 

Wir fordern die Streichung von Art. 87f (2) GG. Damit wäre Telekommunikation im Sinne von Art. 87f (1) GG wieder als Hoheitsaufgabe des Bundes definiert.

 

Wir fordern die Re-Vergesellschaftung der „letzten Meile“. Der Ausbau und die Bereitstellung der TALs soll wieder Aufgabe des Staates werden. Dazu sind die entsprechenden Verwaltungseinheiten und Netzsegmente der Deutschen Telekom, sowie der TAL-Infrastruktur aller anderen ISPs zu vergesellschaften. Die Endpunkte sind niedrigschwellig an ISPs bereit zu stellen. Zur finanziellen Einbindung auch in den Ausbau schlagen wir langfristig eine genossenschaftliche Organisationsform vor. Als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge genießen alle Bürger*innen ein Grundrecht auf Bereitstellung einer breitbandigen TAL für ihren Haushalt. Der Ausbau hat grundsätzlich auf Basis von Glasfasertechnik zu erfolgen.

 

Wir fordern die Vergesellschaftung der Breitbandinfrastruktur weiterer privater Telekommunikationsunternehmen in jenen Gebieten, in denen sie die einzigen Anbieter*innen und Besitzer*innen von Breitbandleitungen sind. Die erworbenen Netze sind in das Netz der re-vergesellschaftlichten Telekom zu integrieren. So werden existierende regionale Monopolpositionen von privaten Telekommunikationsunternehmen aufgebrochen, und die ineffiziente parallele Verlegung mehrerer Netze vermieden.

 

Wir fordern, dass die Bundesmittel zur Breitbandförderung nur noch im sogenannten Betreiber*innenmodell ausgeschüttet werden. Öffentliche Steuermittel sollen zur Schaffung öffentlicher Infrastruktur ausgegeben werden, nicht als indirekte Unternehmenssubventionen.

Antrag 295/II/2019 Ausweitung des Pfandsystems

23.09.2019

Wir fordern die Ausweitung des Pfandsystems auf Produkte, die in Glas angeboten werden und bisher über Altglascontainer entsorgt werden. Dazu zählen sowohl Getränke als auch flüssige und eingelegte Lebensmittel.

 

Außerdem sollen Produkte, die bisher in Plastik, Konservendosen oder Tetrapaks verpackt werden, vermehrt in Glas oder anderen Mehrwegbehältnissen angeboten werden.

 

Die Umwelt leidet unter dem Verpackungsmüll, den die Menschheit erzeugt. Das bekannteste Beispiel dafür sind die Meere, in denen riesige Mengen von Plastik schwimmen und dadurch Vögel, Fische und andere Lebewesen beeinträchtigen mit der Folge von Krankheit und Tod.

 

Einwegverpackungsmaterialien sind sowohl in der Herstellung aus auch in der Entsorgung energieintensiv. Plastik wird teilweise aus Erdöl hergestellt, das sowohl in der Förderung als auch in der Verarbeitung schädlich ist für Umwelt und Gesundheit. Außerdem ist Plastik nicht biologisch abbaubar, sondern zerfällt in Kleinstteile (Mikroplastik), die nicht nur von Fischen und anderen Meereslebewesen aufgenommen werden, sondern in Nahrungsmitteln auch von Menschen aufgenommen werden und gesundheitliche Schäden verursachen können. Das Recycling von Plastik ist nur zu einem ungenügenden Anteil möglich und die Möglichkeiten zur Weiterverarbeitung beschränkt. Auch Tetrapaks sind aufgrund der Beschichtung auf der Innenseite nur schwer in die einzelnen Stoffe aufzutrennen und damit kaum wiederverwertbar.

 

Viele Verbraucher*innen wollen dazu nicht länger beitragen und suchen nach Alternativen bei der Verpackung. Häufig fällt die Wahl dabei auf Glas. Das ist weder gesundheits- noch umweltschädlich, verbraucht aber ebenfalls viel Energie bei der Produktion.

 

Viele Produkte werden jedoch in Glasbehältern vertrieben, die nach nur einer einzigen Benutzung im Altglascontainer landen. Dort wird das Glas zwar eingeschmolzen und erneut eingesetzt, dieser Prozess benötigt aber ebenfalls viel Energie.

 

Für bestimmte Getränke und wenige Lebensmittel besteht bereits ein Pfandsystem. Die Erfahrung daraus zeigt, dass dieses Glas bis zu 50-mal wiederverwendet werden kann. Das bestehende System ist jedoch unübersichtlich, da keine einheitliche Regelung besteht und Unternehmen immer wieder Wege finden, es zu umgehen.

 

Wir fordern daher die Entwicklung eines neuen Pfandsystems. Dieses soll die bisherigen Regelungen allgemeinverbindlich machen. Einweg- soll zu Mehrwegverpackung werden. Außerdem sollen mehr Produkte in Glas angeboten werden, soweit die Lebensmittelsicherheit dadurch nicht unerheblich beeinträchtigt wird.

 

Hersteller*innen, Groß- und Einzelhandel sollen dabei verpflichtet werden, mehr Produkte in Mehrweg- anstatt Einwegverpackungen zu vertreiben. Ein zusätzlicher wirtschaftlicher Anreiz kann durch eine finanzielle Beteiligung der Hersteller*innen an den Kosten der Verwertung von Einwegverpackungen geschaffen werden.

 

Supermärkte sollen Eigenmarkenprodukte nach Möglichkeit in Mehrwegbehältnissen anbieten. Außerdem soll ein Rückgabesystem für diese sowie für Behälter anderer Hersteller*innen entwickelt werden. Insbesondere die Entwicklung von Standardbehältnissen trägt dabei zur Praktikabilität bei. Zusätzlich soll das Netz an Annahmestellen erweitert und weitere dezentrale Möglichkeiten zur Pfandrückgabe geschaffen werden.

 

Glas ist schwerer als andere Verpackungsmaterialien, insbesondere Plastik. Dadurch wird insbesondere der Transport energieintensiver. Dadurch könnte eine dezentrale und lokale Produktion gefördert werden. Dies ist aber nicht bei allen Produkten möglich. Vielleicht steigen aber auch nur die Transportfahrten und die damit einhergehenden Umweltbelastungen. Dann könnten mehrfach verwendbare Verpackungen aus leichten Materialien eine Alternative darstellen. In solchen Fällen können mehrfach verwendbare Verpackungen aus leichten Materialien eine Alternative darstellen. Bisher gibt es jedoch kaum fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse dazu, wie sich diese Unterschiede auswirken. Zudem fordern wir die Bundesregierung auf, die Forderungen für nachhaltige und ökologisch positive Ein- oder Mehrwegbehältnisse aktiv zu fördern und deren Herstellungsprozess ggf. zu subventionieren.

 

Wir fordern daher das BMU auf, eine Studie durchzuführen, die verschiedene Materialien als Ein- oder Mehrwegbehältnisse in einem Pfandsystem hinsichtlich ihrer ökologischen Bilanz vergleicht und dabei Herstellung, Dauer der Nutzbarkeit und Auswirkungen auf den Transport und die damit verbundenen Umweltbelastungen, sowie die Verwertung einbezieht.

 

Das Pfandsystem soll schließlich einheitlich geregelt werden durch ein Gesetz, auf dessen Grundlage die Beträge für die jeweiligen Pfandbehältnisse festgelegt werden und damit allgemein nachvollziehbar sind. Die Vertreter*Innen Deutschlands werden zudem aufgefordert, sich für ein Pfandsystem innerhalb der EU einzusetzen.

Antrag 266/II/2019 Die Macht von Großinvestor*innen beschränken!

23.09.2019

Die größten institutionellen Anleger*innen haben heutzutage ihre Finger in fast jedem Unternehmen im Spiel. Anleger*innen, welche einen so großen Einfluss auf verschiedene Unternehmen haben, besitzen eindeutig zu viel Marktmacht. Sie sind im Stande die Dinge so zu steuern, dass die Gewinne der Unternehmen auf Kosten der Konsument*innen, Arbeitnehmer*innen und Innovation ansteigen.

 

Institutionelle Anleger*innen sind Investor*innen, dessen Kapitalanlagen sehr hoch sind. Die größten Institutionellen Anleger*innen sind BlackRock, Vanguard, State Street und Fidelity. Solche Anleger*innen besitzen inzwischen 26% aller Unternehmensanteile in den USA. Mit 6,29 Billionen US-Dollar an verwaltetem Vermögen stellt BlackRock hierbei die größte unabhängige Vermögensverwalter*in der Welt dar. So ist BlackRock zum Beispiel auch bei 28 von 30 DAX Unternehmen Großaktionär*in. In absoluten Zahlen besitzen diese Investor*innen in den meisten Fällen zwar nie mehr als 6-7% eines Unternehmens. Da aber sehr viele Aktionär*innen ihren Einfluss auf das Unternehmen nicht ausüben, reichen solche Anteilsmengen schon aus, um sehr viel Macht auf das Unternehmen ausüben zu können. Es reicht allein aus, dass eine Investor*in zu den größten Einzelaktionär*innen gehört.

 

Betrachtet man eine einzelne Branche, hält diese kleine Gruppe von institutionellen Anleger*innen abwechselnd die größten Anteile an Unternehmen dieser Branche. Ein Beispiel bildet der US-Banken Sektor. Betrachtet man die größten Anteilseigner*innen der sechs größten US-Banken, fällt auf: BlackRock ist dreimal die größte, und dreimal die zweitgrößte Anteilseigner*in. Vanguard hingegen ist zum Beispiel bei drei dieser Banken, die zweitgrößte Einzelaktionär*in. Weiterhin finden sich die anderen Großinvestor*innen, wie State Street oder Fidelity alle samt unter den fünf größten Einzelaktionär*innen bei diesen Banken wieder. In deutschen Branchen sieht es sehr ähnlich aus.

 

Dadurch besitzen diese großen Anleger*innen viel zu viel Macht in diversen Branchen. Die institutionellen Anleger*innen haben ein Interesse daran, dass die Unternehmen eines Sektors möglichst viel Gewinn erzielen und die damit verbundene Ausschüttung am größten ist. Am größten werden diese Gewinne natürlich, wenn Unternehmen keinen Wettbewerb mehr untereinander führen und sie ihre Kosten senken. Dadurch werden die Preise für Konsument*innen erhöht, die Löhne für Arbeitnehmer*innen gesenkt und der Einfallsreichtum der Unternehmen gebremst. Investor*innen wie BlackRock nutzen ihre geballte Anteilsmacht um die verschiedenen Unternehmen einer Branche für ihre Ziele einzuspannen.

 

Es ist zwingend notwendig, die Macht dieser institutionellen Anleger*innen aufzubrechen.

 

Forderungen:

Wir fordern, dass institutionelle Anleger*innen pro Branche entweder:

1. einen Anteil von mehr als 1% an einem einzigen Unternehmen halten dürfen, in welchem Fall sie aber keine Anteile an anderen Unternehmen derselben Branche halten dürfen

 

oder

 

2. an mehreren Unternehmen Anteile halten dürfen, in welchem Fall sie jedoch nicht mehr als 1% aller Anteile eines Unternehmens halten dürfen.

 

Für institutionelle Anleger*innen welche nur stille Aktionär*innen sind, dass bedeutet sie machen von ihren Mitbestimmungsrechten keinen Gebrauch, ändert sich nichts.

Wir fordern außerdem, dass Sanktionen gefunden werden, welche bei Nichteinhalten dieser Regeln verhängt werden können.

 

Antrag 27/II/2019 Die Arbeitsversicherung implementieren – soziale Sicherung umsetzen

23.09.2019

Das System Hartz IV ist – wie auch das Sozialstaatspapier der SPD anerkennt – gescheitert und auch die Arbeitslosenversicherung in der jetzigen Form wird den vielfältigen gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht mehr gerecht. Bei der Neuordnung der Sozialversicherungen muss deshalb die Reform der heutigen Arbeitslosenversicherung hin zu einer Arbeitsversicherung eine herausgehobene Bedeutung einnehmen. Ziel muss es sein, nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch Wechsel, Brüche und temporäre Aus- und Weiterbildungszeiten in der Erwerbsbiographie besser abzudecken und auf die individuelle Lebenssituation anpassbar zu machen. Von großer Bedeutung ist weiterhin, der mit dem heutigen Arbeitslosengeld I und II verbundene Abstiegs- und Existenzangst zu begegnen und echte soziale Sicherung herzustellen.

Für uns Jusos geht es darum, dass eine gute Arbeitslosenversicherung nicht nur im Fall von Arbeitslosigkeit eingreift, sondern Arbeit fördert, Weiterbildung organisiert und finanziert, Auszeiten im Erwerbsleben für Reproduktions- und Bildungsphasen absichert, Beschäftigungsfähigkeit durch Weiterbildung und Qualifikation  lebenslang erhält und vor allem Aufstiegsmöglichkeiten ermöglicht. Deshalb ist es für uns Jusos unerlässlich eine neue Weiterbildungsarchitektur im Rahmen der Arbeitsversicherung zu schaffen.

Insbesondere im Rahmen der durch die Digitalisierung geprägten Arbeit 4.0 ist davon auszugehen, dass der Qualifikationsgrad und Flexibilität der Arbeitnehmer*innen maßgeblich darüber entscheiden, ob sie weiter beschäftigt werden oder aufgrund der Substitution ihres Arbeitsplatzes oder gar gesamten Berufsbildes ihre Beschäftigung verlieren. Weiterbildung und der Anspruch auf lebenslanges Lernen müssen ein Kernelement der neuen Arbeitsversicherung werden, denn sind ist im Rahmen einer aktiven Beschäftigungspolitik die besten Mittel, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Arbeitgeber*innen, für die die Digitalisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt bisher viele finanzielle Vorteile bringt, stärker an den Kosten der Versicherung beteiligt werden müssen.

Gleichzeitig haben sich auch die Bedürfnisse auf Seiten der Arbeitnehmer*innen verändert. Viele möchten flexibler arbeiten, sich Auszeiten nehmen und sich beruflich stetig weiterentwickeln. Die Vorstellung eines Normalarbeitsverhältnisses, im Rahmen dessen man nach der Ausbildung bis in die Rente in derselben Position beschäftigt wird, ist für viele Arbeitnehmer*innen nicht mehr attraktiv.

Auf diese Veränderten Bedarfe und die Herausforderungen der Digitalisierung muss die Arbeitsversicherung von morgen Antworten liefern.

 

I.     Grundprinzipien der Arbeitsversicherung

  1.     Qualifizierung

Grundlegendes Prinzip der Arbeitsversicherung ist die Schwerpunktsetzung auf die persönliche Qualifizierung der Arbeitnehmer*innen und der Eröffnung echter Fort- und Weiterbildungschancen. Dabei sollen die beruflichen Entwicklungswünsche der Versicherten maßgeblich sein und nicht die Qualifizierungsbedarfe ihrer Unternehmen. Die Versicherten sollen auf Wunsch individuelle Weiterbildungspläne erhalten, die nachhaltige Qualifizierung vorsehen. Es müssen differenzierte Angebote für den Erwerb von Zusatzqualifikationen entwickelt werden, welche auf eine vorhandene Ausbildung oder ein Studium aufbauen. Dabei sind Module zur Spezialisierung, Modernisierung und Umstellung notwendig. Eine Zertifizierung ist auf Grund einer europaweiten Anerkennung unverzichtbar. Hierbei können Prüfungen und Zeugnisse von offiziellen Bildungseinrichtungen (z.B. VHS, IHK) helfen eine einheitliche Qualitätssicherung zu erzielen. Jede Weiterbildung von auszuwählenden Anbieter*innen muss einer Qualitätsoffensive unterzogen werden.

Versicherte in Berufsgruppen mit hohen Substitutionspotenzialen, also mit überwiegender Wahrscheinlichkeit des Jobwegfalls aufgrund von Automatisierung und Digitalisierung, haben darüber hinaus unabhängig von der Ausstattung ihres Weiterbildungskonto einen Anspruch auf Umschulung und Nachholung von Berufsabschlüssen im Sinne einer Qualifizierungsgarantie.

  1.       Individuelle Ansprache und Beratung

Die Versicherten haben einen Anspruch auf umfassende Beratung bezüglich der Geltendmachung ihrer Versicherungsleistungen. Insbesondere soll hinsichtlich der Weiterbildungsoptionen individuell Stärken und Schwächen in Beratungsgesprächen analysiert und dementsprechend Weiterbildungspläne entwickelt werden, die auf die subjektiven Bedürfnisse und Fähigkeiten der Beschäftigten zugeschnitten sind. Ziel ist die Verstetigung der Beratungs- und Betreuungsleistungen. Insbesondere Versicherte mit hohem Substitutionspotenzial müssen regelmäßig die Möglichkeit haben, sich mit ihren Betreuer*innen zusammenzusetzen, ihre Weiterbildungspläne zu evaluieren und gegebenenfalls nachzujustieren.

Um dies zu erreichen, müssen die Geschäftsstellen der Arbeitsversicherung mit ausreichend Personal ausgestattet werden. Zusätzlich muss sichergestellt werden, dass die Mitarbeiter*innen der Arbeitsversicherung regelmäßig in Softskills weitergebildet werden, insbesondere zwischenmenschliche Kommunikation und interkulturelle Kompetenz. Beratung in Fremdsprachen muss stets verfügbar sein, z.B. durch Übersetzungsprogramme. Die bisherigen Fördermaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, die im Rahmen der bisherigen aktiven Arbeitsmarktpolitik bestehen, werden in die Arbeitsversicherung integriert, sodass ein Gesamtgefüge entsteht. Ziel der Beratung bei Verlust des Arbeitsplatzes muss die Rückkehr in eine qualifikationsadäquate Beschäftigung sein. Arbeitssuchende dürfen nicht länger zur Annahme jeglicher, auch weit unter ihrem Qualifizierungslevel liegender, Angebote gedrängt werden. Dafür müssen die Zumutbarkeitsregelungen entsprechend geändert werden.

  1.       Paritätisch Grundfinanzierung, steuerliche Ergänzung

Die Arbeitsversicherung hat auch zukünftig zum Ziel, die paritätische Finanzierung zwischen Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in zu sichern. Die steigenden Anforderungen an die Arbeitsversicherung gebieten jedoch, die Beitragsbemessungsgrenze, die momentan noch besonders gut verdienende Versicherte entlastet, abzuschaffen. Gleichzeitig muss es möglich sein, den Arbeitgeber*innenanteil bei Bedarf zu erhöhen. Darüber hinaus muss die Basis der Einzahlenden erweitert werden. Selbstständige sind durch die massive Ausweitung der Schein- und Soloselbstständigkeit stärker als in der Vergangenheit von sozialer und finanzieller Unsicherheit betroffen und schon aus dieser Schutzwürdigkeit heraus in die Versicherung zu integrieren. Langfristig müssen auch die Beamt*innen in die Arbeitsversicherung einbezogen werden, um auch ihnen Qualifikationsmöglichkeiten zu eröffnen.

Sollte dies finanziell erforderlich sein, muss die Arbeitsversicherung wegen ihrer beschäftigungspolitischen Bedeutung aus steuerlichen Mitteln unterstützt werden.

II.    Versicherungsleistungen und Ziehungsrechte

  1.       Arbeitslosengeld I

Das Arbeitslosengeld I wird an Versicherte ausgezahlt, die aus der Erwerbsarbeit heraus arbeitslos werden, und dient zur Sicherung des Lebensstandards. Dieser Funktion wird das Arbeitslosengeld heute kaum noch gerecht. Dies liegt daran, dass zum einen die Bezugsdauer zu kurz bemessen ist, um die Versicherten adäquat vor dem Folgen der Erwerbslosigkeit zu schützen und zum anderen die Niedriglohnpolitik der letzten Jahrzehnte dazu geführt hat, dass mehr als jede*r fünfte Erwerbstätige aus dem Job direkt in Hartz IV abrutscht.

Um dieser Entwicklung zu begegnen, muss die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung verbessert werden. Das zu diesem Zweck zu implementierende ‚Mindestarbeitslosengeld‘ muss höher bemessen sein als der ALG-II-Anspruch einer alleinstehenden Person. Wird durch ein Arbeitseinkommen kein Arbeitslosengeld-I-Anspruch in dieser Höhe erreicht, erhöhen sich die Arbeitgeber*innenbeiträge so weit, bis die Höhe der geleisteten Beiträge einen Anspruch in Höhe des Mindestarbeitslosengeldes generiert. Regulär beträgt die Höhe des Arbeitslosengeldes I mindestens 70 % des Bruttobemessungsentgelds, welches durchschnittlich in den vergangen 12 Monaten erzielt werden konnte.

Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I richtet sich nach der Dauer der vorherigen Beschäftigung. Allen Arbeitnehmer*innen stehen nach dem Verlust ihrer Beschäftigung – 12 Monate Bezugsdauer ALG I zu – egal, wie lange sie vorher gearbeitet haben. Wer länger als ein Jahr vorher gearbeitet hat, “erspart” sich mit jedem zusätzlichen Monat Beschäftigung einen Monat ALG I. Ab dem zweiten Jahr Beschäftigung “erspart” man sich pro zusätzlichem Jahr Beschäftigung einen Monat ALG I. Teilzeitbeschäftigung wird anteilig angerechnet. Falls die angesparten 24 Monate ALG I wegen Arbeitslosigkeit oder aus anderen Gründe angetastet werden, baut sich diese in Höhe von einem Monat zusätzlicher Bezugsdauer ALG I je gearbeiteten Monat wieder auf.

Das Arbeitslosengeld II soll demgegenüber die sozio-kulturelles Teilhabe an der Gesellschaft sichern und zukünftig in seiner Höhe dementsprechend bemessen sein. Jedoch wird es nicht in die Arbeitsversicherung integriert und weiterhin allein aus Steuermitteln finanziert.

  1.       Weiterbildung

Im Rahmen Qualifizierungsfunktion der Arbeitsversicherung werden Weiterbildungskonten geschaffen, welche gesetzlich festgelegte Ansprüche auf Weiterbildungs- und Lernzeiten finanzieren. Diese sollen bei der Agentur für Arbeit eingerichtet und geführt werden. Das Guthaben auf dem Weiterbildungskonto wird während der Erwerbstätigkeit vergrößert und paritätisch zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen finanziert. Hierbei sollen gesetzlich festgelegte Ansprüche auf Fort- und Weiterbildung greifen. Erworbene Ansprüche werden auf dem Konto verbucht und können dann bei Bedarf in Lernzeit oder Weiterbildung realisiert werden. Aber auch freiwillige Einzahlungen sollen möglich sein: Eine Aufstockung des Kontos durch paritätische Einzahlung von Geldbeträgen soll ebenso möglich sein.

Im Rahmen der Beschäftigung soll die angesparte flexible Bezugsdauer des AGL I in Guthaben des Weiterbildungskontos der Qualifizierungsfunktion der Arbeitsversicherung zur persönlichen Beruflichen Weiterbildung umgewandelt werden können. Umgekehrt ist aber eine verpflichtende Heranziehung von angesparten Zeiten der persönlichen beruflichen Weiterbildung im Falle von Arbeitslosigkeit nicht möglich.

  1.       Reduzierung von Arbeitszeit

Ziehungsrechte sollten auch zur generellen Reduzierung von Arbeitszeit im Sinne einer individuellen Arbeitszeitverkürzung bei hälftigem Lohnausgleich genutzt werden können. Hierfür soll ebenfalls die flexible Bezugsdauer des ALG I als Zeitguthaben genutzt werden können. Die individuelle Arbeitszeitverkürzung soll unabhängig von der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung möglich sein, für die wir weiterhin eintreten.

  1.       Sabbaticals

Längere Auszeiten vom Beruf können ebenfalls mit Hilfe der Arbeitsversicherung organisiert werden. Hierfür werden 50% des Lohnes fortgezahlt. Je sieben Jahre Erwerbstätigkeit steht den Versicherten ein Anspruch auf ein einjähriges Sabbatical zu. Anteilig können auch kürzere Auszeiten flexibel vereinbart werden. Zudem sollten die bereits bestehenden tariflichen Vereinbarungen des öffentlichen Dienstes auf alle Arbeitnehmer*innen ausgeweitet werden um auch häufigere und/oder kürzere Auszeiten zu ermöglichen.

  1.       Verlängerung von Carearbeitszeiten

Angesparte Zeiten können auch zur Verlängerung von Carearbeit verwandt werden können. Nach vorgegebenen Regelungen (z.B. Kinder unter 16 Jahre; Verwandte in bestimmter Pflegestufe) können diese Zeiten dann zur Reduzierung bei gleichzeitiger Ausfallregelung von 70% genutzt werden. Voraussetzung hierfür ist, dass der*die Partner*in – gegebenenfalls zeitversetzt – ebenfalls seine*ihre Arbeitszeit im gleichen Umfang reduziert. Alleinerziehende werden durch diese Regelung nicht gegenüber Paaren schlechter gestellt. Unabhängig hiervon sind die bislang einzeln ausgezahlten, kinderspezifische Sozialleistungen wie etwa das Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag, Bildungs- und Teilhabepaket außerhalb der Arbeitsversicherung zu einer Kindergrundsicherung zusammenzufassen. Auch wenn Carearbeitszeiten über die Arbeitsversicherung verlängert und abgesichert werden können, sollen sie nur als Überbrückung dienen. Wir sprechen uns weiterhin für eine angemessene, kostenlose Kinderbetreuung sowie professionelle, gut entlohnte und für jeden bezahlbare Pflegeangebote aus. Die Möglichkeit einer verlängerbaren Carearbeitszeit soll auf keinen Fall zum Ersatz dieser Forderungen werden.

  1. Früherer Renteneintritt und Anrechnung von Restguthaben

Guthaben, welches auf dem Weiterbildungskonto angespart wurde, repräsentiert das Recht auf Leistungen. Arbeitnehmer*innen, die zum Ende ihrer Erwerbslaufbahn noch angespartes Guthaben auf ihrem Konto haben, steht dieses Recht weiter zu. Eine Schieflage zwischen verschiedenen Arbeitnehmer*innen in der Inanspruchnahme der Leistungen der Arbeitsversicherung über den Zeitraum ihrer Erwerbsbiografie – über den Zeitraum ihres Lebens – würde eine gravierende Verteilungsungleichheit und Ungerechtigkeit darstellen. Deshalb darf angespartes Guthaben auf dem Weiterbildungskonto mit dem Renteneintritt nicht erlöschen. Angespartes Bezugsdauerguthaben für ALG I, ein noch offenes Sabbatical für den jeweiligen sieben-Jahres-Rhythmus, sowie über die Jahre nicht-wahrgenommene Arbeitszeitreduzierungen und Cararbeitszeiten, sollen deshalb in einen früheren Renteneintritt übertragen werden können. Gleichzeitig soll angespartes Guthaben beim regulären Renteneintritt anteilig in einen Abschlag auf die Rentenpunkte umgewandelt werden können.

7.        Berücksichtigung der Sozialversicherung
Die Bereitstellung einer angemessenen Altersrente, einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung, sowie besondere Leistung im Fall von Erwerbsminderung bzw. Erwerbsunfähigkeit, betrachten wir weiterhin als öffentliche Aufgabe. Die Arbeitsversicherung darf keinen negativen Einfluss auf diese haben. Deshalb sollen in Anspruch genommene Leistungen der Arbeitsversicherung sozialversicherungstechnische Berücksichtigung finden, beispielsweise indem für die Dauer des Bezugs von ALG I weiterhin Rentenpunkte angerechnet werden, als handle es sich bei der ausbezahlten Leistung um ein Nettoentgelt, bei dem die Sozialversicherungsbeiträge bereits abgezogen wurden. An der Grundidee einer paritätisch finanzierten Sozialversicherung halten wir fest.