Archive

Antrag 211/II/2022 Clubkultur auch für das Klima

10.10.2022

Der menschengemachte Klimawandel stellt für die Menschheit die größte Herausforderung und Bedrohung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten dar. Trotz dieser Gewissheit reichen die bisherigen globalen Klimaschutzbemühungen nicht aus, um eine ausreichende Antwort auf diese Gefahr zu geben. 2015 wurde bei der UN-Klimakonferenz das Pariser Klimaschutzabkommen beschlossen, welches den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf maximal 2°C, aber möglichst auf 1,5°C im Vergleich zum vorindustriellen Niveau halten möchte. Das Pariser Klimaschutzabkommen sowie die Einhaltung der beschriebenen Zielstellungen betrachten wir dabei als elementar für eine lebenswerte Zukunft auf der Erde.

 

Leider entfaltet das Pariser Klimaschutzabkommen nicht die notwendige Wirkung. So ist stetig von neuen Höchstständen in den globalen Treibhausgasemissionen zu hören, während die Weltgemeinschaft schon lange den 1,5°C-Pfad verlassen haben. Wir möchten deutlich machen, dass selbst dieser Anstieg in der globalen Durchschnittstemperatur für Millionen von Menschen weltweit erhebliche Einschnitte in ihrem Leben bedeuten wird. Dabei sprechen wir nicht vordergründig von Einschnitten in unserem, sehr hohen Lebensstandard, sondern explizit von Einschnitten in das Leben von Menschen aus Regionen mit geringen Lebensstandards. Wir sprechen dort von dem Verlust von Lebensgrundlagen oder auch von möglichen Verteilungskämpfen über für das Leben essenzielle Bestandteile wie Trinkwasser. Hieraus wird deutlich, wie wichtig zeitnahe und hinreichende Fortschritte in der globalen Klimaschutzpolitik sind.

 

Die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) schafft dies bisher nicht, da sich unter anderem für Beschlüsse alle Staaten einig sein müssen, aber auch bei der Nicht-Einhaltung von Verpflichtungen keine einschneidenden Folgen für die jeweiligen Staaten bestehen. Als Folge findet innerhalb der Staatengemeinschaft ein Katz-und-Maus-Spiel statt, bei welchem kein Akteur einen für das 1,5°C-Ziel ausreichenden Schritt gehen will.

 

Die Idee des Klimaclubs will genau diese Hindernisse überwinden. Der Klimaclub würde Staaten umfassen, welche sich zur vertieften, gemeinsamen Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung des Klimawandels zusammenfinden. Durch dieses Voranschreiten soll aufgezeigt werden, dass effektive Klimaschutzpolitik mit guter, zukunftssichernder und arbeitsplatzsichernder Wirtschaftspolitik einhergehen kann. Natürlich besteht die langfristige Vision darin, dass zunehmend möglichst viele weitere Staaten dem Klimaclub beitreten und somit den Wirkungsrahmen des Clubs erweitern.

 

Die Ampel-Koalition hat sich bereits im Koalitionsvertrag dazu verschrieben, sich für einen Klimaclub mit einem einheitlichen CO2-Mindestpreis und einem gemeinsamen CO2-Grenzausgleich einzusetzen. Innerhalb der G7-Präsidentschaft wurde bereits von Seiten des Bundeskanzlers versucht, diesem Ziel nachzugehen. Im Abschlusskommuniqué des G7-Gipfels in Elmau wurde in der Folge festgehalten, dass eine Gründung bis zum Ende des Jahres 2022 angestrebt wird.

 

In diesem Zeitraum gilt es, effektive Instrumente in den Klimaclub zu etablieren, sodass dieser die größtmögliche, positive Wirkung auf den Klimaschutz entwickeln kann.

 

Ein wesentlicher Bestandteil sollen verbindliche, 1,5°C-konforme Verpflichtungen für die Reduzierung von Emissionen durch die einzelnen Staaten in Verbindung mit wirksamen Sanktionsmechanismen sein. Durch die Sanktionsmechanismen soll die Einhaltung der Verpflichtungen verstärkt gesichert werden, was im bisherigen Rahmen nicht der Fall ist. Die Mitgliedstaaten sollen mit negativen Konsequenzen rechnen müssen, sobald ihre Anstrengungen nicht für die Einhaltungen der notwendigen Verpflichtungen ausreichen. Hieraus ergibt sich auch eine höhere Sicherheit für Staaten, welche ihre Verpflichtungen einhalten, nicht allein die immensen Kosten für die entsprechenden Treibhausgaseinsparungen zu tragen.

 

Um die Verpflichtungen hinsichtlich der Treibhausgasreduktion auch mit wichtigen Preisanreizen zu untermauern, braucht es eine adäquate CO2-Bepreisung. Hierbei bevorzugen wir ebenfalls die CO2-Steuer. Uns ist bewusst, dass durch eine CO2-Bepreisung besonders Menschen mit geringen Einkommen belastet werden. Vor diesem Hintergrund soll es innerhalb des Klimaclubs eine Pflicht geben, einen kompensierenden Anteil der staatlichen Einnahmen für den sozialen Ausgleich bei der Bekämpfung des Klimawandels zu nutzen.

 

Für die Überbrückung der bisherigen Hindernisse für eine Kooperation braucht es neben dem Anreiz, Fortschritte in der Klimaschutzbekämpfung zu erreichen, weitere Anreize für die Staaten hinsichtlich eines Beitritts. Eine Grundbefürchtung der Staaten ist es, durch die Auflage von strikteren Klimaschutzmaßnahmen die eigene Volkswirtschaft aufgrund erhöhter Kosten in eine nachteilige Wettbewerbsposition zu bringen. Hierauf aufbauend besteht ebenfalls die Gefahr des Carbon-Leakages durch Unternehmen mit emissionsintensiven Wirtschaftsaktivitäten. Dabei beschreibt das Carbon-Leakage den Prozess, bei welchem Unternehmen ihre Wirtschaftstätigkeiten aus Staaten mit strikteren Emissionsreduzierungsverpflichtungen in Staaten ohne bzw. mit geringeren Verpflichtungen verlegen. Hierdurch können Unternehmen Kosten reduzieren. Für den Klimaschutz wäre dieser Prozess fatal, da die Emissionen weiterhin entstehen, jedoch nicht durch verschiedene Instrumente reguliert werden würden.

 

Um dieser Problematik entgegenzuwirken, hat die Bundesregierung mit einem CO2-Grenzausgleich bereits einen Ansatz ausgewählt. Dieser CO2-Grenzausgleich würde Importe in den Wirtschaftsraum des Klimaclubs anhand ihrer CO2-Emissionen bepreisen und somit ähnlich wie ein CO2-Zoll wirken. Für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten des Klimaclubs müsste die Höhe des CO2-Grenzausgleichs mindestens auf dem Niveau der eigenen CO2-Bepreisung liegen. Die Wettbewerbsfähigkeit bedarf einen Fokus auch aufgrund sozialer Aspekte, da hierdurch Arbeitsplätze gesichert und somit soziale Härten vermieden werden können.

 

Der Klimaclub muss für alle weiteren Staaten offenstehen, sobald klar definierte Beitrittskriterien erfüllt sind. Hierbei bedarf es einer besonderen Berücksichtigung für nicht-industrialisierte Staaten. Diese sollen beispielsweise durch zunächst vereinfachte Emissionsreduktionsverpflichtungen sowie einer über den bestehenden gemeinsamen globalen Klimafonds hinausgehenden finanziellen Unterstützung zum Beitritt ermutigt werden.

 

Zwar sollten wir nicht allein auf eine Rettung durch zukünftige Technologien hoffen. Dennoch ist die Erforschung sowohl der Klimakrise und ihrer Folgen als auch möglicher Lösungsansätze sinnvoll. Daher braucht es auch eine vertiefte Zusammenarbeit und Bereitstellung von Mitteln für Forschung durch die Mitglieder eines Klimaclubs. Hierdurch können gemeinsame Reduktionspotenziale effizienter und zeitnah genutzt werden, um schnell, effektiv und nachhaltig Emissionsreduktionen herbeiführen zu können.

 

Für uns müssen diese Instrumente den Weg in den Klimaclub finden, sodass die dringend nötigen Fortschritte in der globalen Klimaschutzpolitik möglich werden. Denn eines ist klar: Der Klimawandel wird nicht auf uns warten und wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!

 

Forderungen:

 

Wir fordern vom sozialdemokratischen Bundeskanzler, von der deutschen Bundesregierung, der Bundes-SPD sowie der SPD-Bundestagsfraktion, innerhalb der Ausgestaltung des Klimaclubs:

  • sich für die Vereinbarung von verpflichtenden Emissionsreduktionen verbunden mit adäquaten, vertraglich festgehaltenen Sanktionen im Fall der Nicht-Einhaltung sowie für einen entsprechenden Kontroll- und Umsetzungsmechanismus einzusetzen.
  • auf die Einführung einer CO2-Bepreisung in für den Welthandel relevanten Sektoren der Schwerindustrie zu pochen, wobei explizite und implizite Preismechanismen, wie etwa CO2-Steuer, gleichermaßen anzuerkennen sind. Die Einnahmen dieser CO2-Bepreisung sollen zu einem klar definierten Teil für den sozialen Ausgleich der Belastungen, entstehend aus der CO2-Bepreisung, genutzt werden. Darüber hinaus sollte ein klar definierter Teil der Einnahmen der Finanzierung Klimaanpassungsmaßnahmen in den von der Klimakrise meist betroffenen Ländern, unabhängig der Club-Mitgliedschaft, gewidmet werden. Diese Mittel sollen bereits im Rahmen
  • der Klimarahmenkonvention versprochene Gelder ergänzen und nicht ersetzen. Für die Wahrung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit in den Mitgliedstaaten, welche für den Erhalt von Arbeitsplätzen elementar ist, soll ein wirksamer, ein mit den Regularien der Welthandelsorganisation (WTO) konformer CO2-Grenzausgleichsmechanismus geschaffen werden. Die Höhe der CO2-Bepreisung im Rahmen dieses Grenzausgleichsmechanismus muss daher mindestens auf dem Niveau der eigenen CO2-Bepreisung liegen.
  • zusätzliche Anreize auch für den Beitritt von nicht-industrialisierten Staaten zu schaffen, welche bisher nicht die finanziellen Mittel besitzen, den Weg zur Klimaneutralität zu beschreiten. Hierfür braucht es neben dem bestehenden gemeinsamen Klimafonds weitere finanzielle Hilfen der Besonders nicht-industrialisierte Staaten sollen durch leichtere Emissionsreduktionsverpflichtungen oder auch leichtere Bedingungen innerhalb der CO2-Bepreisung zu einem Beitritt ermutigt werden. So sollen sie einerseits in ihren Bemühungen unterstützt werden sowie andererseits endlich eine federführende Rolle in der Abwendung einer Krise zugewiesen bekommen, für die sie meist vergleichsweise wenig verantwortlich sind, deren Folgen sie aber überproportional tragen werden müssen.
  • neben CO2-Bepreisung sollte die Investition und Entwicklung neuer Märkte für klimafreundliche Technologien eine zentrale Säule der Arbeit des Klima-Clubs sein. Hierfür sollten sich Mitgliedstaaten zu Mindeststandards für Kohlenstoffgehalt in der öffentlichen Beschaffung und Vergabe verpflichten und diese in den Handelsbeziehungen durchsetzen. Ein Fokus dieser Arbeit sollte die Erschließung dieser Märkte in Nicht-Mitgliedstaaten sein, um das Risiko zu vermindern, dass zwei Wirtschaftsräume mit und ohne CO2-Bepreisung sowie klimaungünstige Wettbewerbsvorteile entstehen. Investitionen und klare Nachfragesignale sind wirksame Maßnahmen, bis Partnerländer sich CO2-Bepreisungssysteme und -Steuer erarbeiten, was über mehrere Legislaturperioden dauern kann.
  • eine gemeinsame Initiative zur Erforschung der Klimakrise und ihrer Folgen sowie möglicher Lösungsansätze zu starten. Hierfür soll ein gemeinsamer Fonds in angemessenem Umfang eingerichtet werden, welcher von den Mitgliedstaaten je nach Wirtschaftskraft gefüllt werden soll.
  • die zielorientierte Zusammenarbeit mit künftigen Präsidentschaften der G7, G20 sowie der Klimarahmenkonvention anstreben, um das Projekt weiterhin zu fördern.

Antrag 207/II/2022 Jenseits von Wasserstoffträumen – Endverbraucher*innen aller Länder, elektrifiziert euch!

10.10.2022

Eine erfolgreiche soziale Klimaschutzstrategie bedarf nicht nur des beschleunigten Ausbaus der erneuerbaren und Abbau der fossilen Energie, sondern auch eines strategischen und wissenschaftlich fundierten Einsatzes neuer Technologien in den richtigen Wirtschaftsbranchen. Dazu gehört eine realistische Wasserstoffstrategie frei von technologischen Fantasien und unangebrachtem Optimismus.

 

Wasserstoff stellt ein massives Problem für die Dekarbonisierung dar, welches bisher im öffentlichen Diskurs kaum thematisiert wird oder falls doch, dann in Verbindung mit fantastischen Erzählungen und unrealistischen Zukunftsvisionen der mächtigen Gaslobby zum Erhalt ihrer Industrie.

 

99 % des aktuellen Bedarfs von Wasserstoff entsteht durch die Industrieprozesse, in welchen er unter anderem als Chemierohstoff und in der Herstellung von Düngemitteln angewendet wird. Aktuell deckt die sogenannte „graue“ Quelle durch Methan-Dampfreformierung von Erdgas den weltweiten Wasserstoffbedarf fast ausschließlich ab. Dieser Prozess ist äußerst energieintensiv, sodass die Verbrennung grauen Wasserstoffs vielfach klimaschädlicher ist als die einfache Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle. Grauer Wasserstoff macht in seiner industriellen Endnutzung aktuell ungefähr 3 % der weltweiten Treibhausgasemissionen aus, einen ähnlichen Anteil wie der Flugverkehr.

 

Bei der Herstellung von „blauem“ Wasserstoff aus fossilen Quellen mit Kohlenstoffsequestrierung entstehen durch den Austritt von Methan im Gastransit sowie unzureichende Sequestrierungstechnologie erhebliche Effizienzlücken. Die Verbrennung blauen Wasserstoffs kann also immer noch bis zu 20 % treibhausgasintensiver sein als die Verbrennung von Erdgas. Die Erfassung und Verringerung von den genauen Emissionen dieser Wasserstoffquelle sind äußerst komplex und könnten Jahre dauern.

 

Die einzig erneuerbare Quelle von Wasserstoff ist die Elektrolyse von Wasser anhand erneuerbaren Stroms, wobei die relevanten Technologien noch im Frühstadium sind und der Strombedarf für eine Dekarbonisierung des heutigen Wasserstoffbedarfs fast der dreifachen Menge an Wind- und Solarstrom bedürfte, die die Welt 2019 produziert hat.

 

Viele Regierungen setzen auf Wasserstoff als Zukunftstechnologie, ohne zwischen den unterschiedlichen technologischen und geographischen Quellen zu differenzieren und/oder die prioritären Wirtschaftsbranchen für dessen Endverbrauch zu definieren, wo günstigere, effizientere und sozial vertretbare Lösungen bereits bestehen.

 

Die Ampelregierung verlässt sich in ihrer Klimaschutzstrategie ebenfalls auf grünen Wasserstoff und setzt sich eine Elektrolysekapazität von rund 10 Gigawatt im Jahr 2030 zum Ziel. Im Koalitionsvertrag 2021 steht, dass grüner Wasserstoff vorrangig in den Wirtschaftssektoren genutzt werden sollte, in denen es nicht möglich ist, Verfahren und Prozesse durch eine direkte Elektrifizierung auf Treibhausgasneutralität umzustellen. Parallel sieht der Koalitionsvertrag jedoch die Errichtung moderner Gaskraftwerke mit Kapazität zur Umstellung auf klimaneutrale Gase, d.h. die Verbrennung grünen Wasserstoffs zur Stromerzeugung, vor.

 

Auch bei den modernsten Elektrolyseanlagen entsteht eine Effizienzlücke von ungefähr 20 % und bei der Verbrennung der Derivate geht weitere Energie verloren, sodass die Wiedergewinnung grünen Stroms aus grünem Wasserstoff mit entsprechenden Kosten verbunden ist. Die Verbrennung von grünem Wasserstoff außerhalb seiner bestehenden industriellen Einsätze und beschränkter sonstiger zukünftiger Nutzungen wie etwa im Luft- und Schiffsverkehr ist also aufgrund der daraus entstehenden Kosten weder klimapolitisch noch sozial vertretbar.

 

Wir fordern daher:

 

  • die weitreichende, schnelle und direkte Elektrifizierung als Grundsatz unserer Klimaschutz- und Energiepolitik. Das Versprechen vom grünen Wasserstoff soll nicht von mächtigen Lobbys dafür missbraucht werden, die Elektrifizierung von Wärme und Verkehr durch bereits bestehende Technologien zu verzögern und damit die Gewinne der Fossilindustrie noch bis 2050 zu maximieren.
  • wertvollen grünen Wasserstoff sollte man ausschließlich in schwer dekarbonisierbaren Sektoren zu nutzen, wo Wasserstoff gesellschaftlich und ökologisch nützlich sowie technologisch unverzichtbar ist.
  • die Verbrennung von grünem Wasserstoff zur Stromerzeugung nur in den Fällen zu erlauben, wo die Herstellung dessen Speicherkapazität zum Ausgleich saisonaler Schwankungen in der erneuerbaren Energie anbietet.
  • die Einspeisung von grünem Wasserstoff ins allgemeine Gasleitungsnetz abzulehnen. Stattdessen sollten in geeigneten Fällen die Hausheizung entkarbonisiert und Haushalte von Kosten entlastet werden, indem die Abwärme von der wasserstoffbetriebenen Produktion in Fern- und Nahwärmenetzwerke genutzt wird. Hierfür fordern wir die Investition in leistungsstarke Wärmespeicher, um eine stabile Energielieferung zu sichern.

 

 

Antrag 21/II/2022 Für echte Parität in unserer Partei – FINTA-Quote von 50%!

10.10.2022

Bisher wird in der SPD und bei den Jusos eine Geschlechterquote von 40% verfolgt. In unserer Gesellschaft leben aber nun mal nicht 40%, sondern knapp über 50% FINTA, also Frauen, Inter-, nicht-binäre-, Trans–, und Agenderpersonen.

 

Unser Ziel muss es sein, die gesellschaftliche Realität in unserer Partei abzubilden. Daher wird es Zeit, alle Geschlechter endlich angemessen in unseren parteiinternen Quoten zu berücksichtigen!

 

Es darf nicht sein, dass in einer Welt, in der cis-Männer in Entscheidungspositionen in der Politik, Wirtschaft und anderen Schlüsselpositionen in der Gesellschaft so überrepräsentiert sind, die Geschlechterquote in unserer Partei so unzeitgemäß und unambitioniert bleibt.

 

Wenn sich mehr FINTA als cis-Männer für ein Gremium in der SPD oder bei den Jusos bewerben, darf dies nicht länger ein statutarisches Problem sein, wie es aktuell der Fall ist. Wenn sich FINTA in der Partei engagieren wollen, sollten sich diese unterstützt und empowered fühlen, anstatt wegen einer Geschlechterquote an ihrem Engagement gehindert zu werden.

 

Es darf nicht unser Anspruch sein, dass die Gremien und Listen in unserer Partei nicht paritätisch, sondern nur mit 40% Frauen besetzt sein sollen. Für uns als feministische Partei sollte es selbstverständlich sein, mindestens absolute Parität parteiintern zu fordern.

 

In anderen feministischen Parteien ist es bereits geübte Praxis, dass es eine FINTA-Quote von 50% gibt und die übrigen Plätze geschlechteroffen, statt wie in der SPD für cis-Männer reserviert, sind. Diese Regelung fordern wir auch für die SPD.

 

Daher fordern wir eine parteiinterne FINTA-Quote von 50%, statt der bisherigen Geschlechterquote von 40%, in allen Gremien der SPD und der Jusos, sowie bei Listenaufstellungen für Wahlen. Die übrigen Plätze in Gremien und auf Listen sollen geschlechteroffen, also auch an FINTA vergeben werden können.

Antrag 174/II/2022 Für Medien ohne Kapitalismus: Öffentlich-rechtlichen Rundfunk zukunftssicher und gerecht finanzieren

10.10.2022

Nach dem zweiten Weltkrieg, in dem Propaganda über die neu aufkommenden Massenmedien eine zentrale Rolle bei der Verbreitung des menschenfeindlichen und antisemitischen Weltbildes der Nationalsozialist*innen hatte, wurde das Rundfunksystem in Deutschland neu aufgebaut. Nach dem Vorbild der britischen BBC entstand auch in der Bundesrepublik ein duales Rundfunksystem. Das bedeutet, dass es neben kapitalistisch finanzierten Medienunternehmen auch Rundfunkmedien gibt, die nicht primär den Logiken des Kapitalismus unterworfen sind, sondern größtenteils durch die Öffentlichkeit finanziert werden.

 

Die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird vertraglich zwischen den Bundesländern in einem Staatsvertrag geregelt. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung auch in der Medienbranche wurde dieser 2020 als Medienstaatsvertrag neu abgeschlossen – früher hieß es nur Rundfunkstaatsvertrag. In diesem Medienstaatsvertrag wird die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks definiert als “Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen”. Damit wird an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk höhere gesellschaftliche und demokratische Ansprüche gestellt als an privatwirtschaftlich finanzierte Medienunternehmen.

 

Zu Beginn des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beschränkte sich das Angebot vor allem auf Radiosender sowie das Fernsehprogramm der ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland). Zur Umsetzung des rechtlichen Auftrags wurde das Angebot stetig ausgeweitet. Mittlerweile umfasst es diverse Fernsehprogramme, Radiosender, sowie Angebote wie funk, die ausschließlich im Internet ausgestrahlt werden.

 

Mit dieser Ausweitung und der gestiegenen Konkurrenz durch private Rundfunkanbieter*innen sowie den zunehmenden feindlichen Bewegungen gegen freie Medien und deren Berichterstattung – insbesondere gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – entbrennen immer wieder Diskussionen über die Sinnhaftigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Diese machen sich ebenfalls oft an der Finanzierung fest, sowie an der angeblich mangelnden Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Obwohl der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen klaren rechtlichen Auftrag durch die Bundesländer bekommt, ist er dennoch unabhängig von politischer Einflussnahme. Dies ergibt sich aus Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Staatsferne des Rundfunks sowie die Pressefreiheit schützt. Zwar gibt es immer wieder – berechtigte – Kritik an der Zusammensetzung der Aufsichtsgremien, wie dem ZDF-Fernsehrat, in dem auch Politiker*innen vertreten sind. Dennoch ist die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unabhängig von politischer – und auch weitestgehend auch kapitalistischer – Einflussnahme.

 

Diese Staatsferne zeigt sich auch in der Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die im Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag geregelt wird. Die Höhe des finanziellen Bedarfs des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird von der Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) festgelegt. Die Kommission, deren Mitglieder unabhängige Sachverständige sind und von den Regierungschef*innen der Länder berufen werden, gibt den Regierungen der Bundesländer alle zwei Jahre Auskunft über die finanzielle Situation der Bundesländer. Dabei gibt sie abwechselnd einen Zwischenbericht oder eine Empfehlung zur Beitragshöhe ab. Die Beitragshöhe wird nach der Empfehlung der KEF durch die Landesparlamente verabschiedet. Allerdings wird auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk teilweise (unter zehn Prozent) durch Werbung und Sponsoring mitfinanziert. Somit werden ca. 90 Prozent der Einnahmen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus den Gebühren der Allgemeinheit generiert.

 

Wer diese Gebühr entrichten muss, hat sich in der Vergangenheit ebenfalls geändert. Zunächst musste die Gebühr nur entrichtet werden, wenn es ein Rundfunkgerät in einem Haushalt gab. Durch die Digitalisierung und der Tatsache, dass die meisten Menschen mindestens ein Endgerät zur Verfügung haben, um Rundfunk zu empfangen, wurde dies 2010 in eine Haushaltspauschale – unabhängig von der Anzahl der Rundfunkgeräte – umgestellt. Seit 2013 muss jeder Haushalt in Deutschland den gleichen Rundfunkbeitrag errichten. Ausnahmen gibt es dabei u.a. für Sozialhilfeempfänger*innen, sowie Bafög-Empfänger*innen, Empfänger*innen der Grundsicherung. Menschen, die Wohngeld beziehen oder Arbeitslosengeld I sind allerdings zur Entrichtung der Gebühr verpflichtet. Zwar gibt es die Möglichkeit einen Härtefallantrag zu stellen. Das Problem, dass alle – unabhängig vom Einkommen – die gleiche Gebühr entrichten müssen, bleibt dennoch. Für Menschen mit geringem Einkommen können die monatliche Abgabe von 18,36€ durchaus eine massive finanzielle Belastung darstellen, während es für andere überhaupt kein Problem darstellt.

 

Trotz dieser Ungerechtigkeit in der Finanzierung ist für uns klar, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein zentraler Pfeiler der Demokratie ist. Ohne freie Medien ist ein demokratischer Diskurs und demokratische Entscheidungen nicht möglich. Anders als private Rundfunkanbieter muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht um ausbleibende Finanzierung fürchten, wenn kritisch über Wirtschaftsthemen berichtet wird oder bestimmte Einschaltquoten verfehlt werden. Durch die öffentliche Finanzierung wird darüber hinaus eine Themen- und Programmvielfalt sichergestellt, die im privat-finanzierten Rundfunk aufgrund des Drucks der Einschaltquoten keinen Bestand hätten. Durch die sichergestellte Finanzierung wird außerdem Journalist*innen die Möglichkeit gegeben, langfristig und investigativ zu recherchieren. So können seriöse Informationen generiert werden, die insbesondere in den heutigen Zeiten, in denen Fake News zur Tagesordnung gehören, von besonderer Relevanz sind. Wir sprechen uns entschieden gegen neoliberale Ideen aus, die die Privatisierung oder Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fordern. Diese Tendenzen sind allerdings durchaus ernst zu nehmen. So wird nach Willen der britischen Regierung die BBC ab 2027 nicht mehr über Gebühren finanziert, sondern durch Abonnements und Teilprivatisierung. Auch in Deutschland kam es 2020 zu einem Eklat, als sich der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Reiner Haseloff (CDU) gegen die von der KEF beschlossene Erhöhung der Rundfunkgebühr stellte und dies nicht im Landtag zur Abstimmung brachte. Erst nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde der Beitrag vorläufig erhöht.

 

Wir erkennen an, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk auch in Deutschland nicht frei von Fehlern ist. Anstatt ihn aber aufgrund seiner ungerechten Finanzierung abschaffen zu wollen, wollen wir die Finanzierung reformieren, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerechter und unabhängiger zu finanzieren. So wollen wir sicherstellen, dass der wichtige Beitrag, den der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die Demokratie leistet, auch weiter geleistet werden kann.  

 

Die offensichtlichste Lösung wäre es, den Rundfunkbeitrag in eine Steuer umzuwandeln. Dies ist allerdings nicht möglich, da eine ‘normale’ Steuer, gegen die in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschriebene und enorm wichtige Staatsferne des Rundfunks verstoßen würde. Allerdings gibt es in Deutschland bisher eine ‘Steuer’, deren Höhe ebenfalls nicht von der Politik festgelegt wird – die Kirchensteuer. Die Höhe dieser wird seitens der jeweiligen Religionsgemeinschaft selbst festgelegt und von den Finanzämtern gegen eine Gebühr eingezogen. Diesen Weg wollen wir auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einschlagen. Die Einflussnahme des Staates ist dabei weiterhin so gering wie möglich zu halten. Besonders vor dem Hintergrund, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch die Allgemeinheit finanziert wird und eine tragende Säule unserer Demokratie ist, ist Vorwürfen von Missbrauch der Rundfunkgelder entschieden nachzugehen. Dies betrifft insbesondere die aktuelle Situation um die ehemalige Intendantin des rbb, Patricia Schlesinger. Die mutmaßliche Ausgabe von Rundfunkgeldern für private Luxusessen und teure Dienstwägen ist nicht hinzunehmen. Hier bedarf es einer nachhaltigen Aufklärung der Vorwürfe sowie einer Analyse und einer Reflexion der Prozesse, die die Nutzung und Verteilung von finanziellen Mitteln im rbb genehmigen und kontrollieren sollen. Es muss klar sein, dass die größtmögliche Transparenz in der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks notwendig ist. Die Gelder, die durch die Rundfunkbeiträge generiert werden, müssen zwingend transparent, verantwortungsbewusst und bedarfsgerecht verteilt werden.

 

Konkret fordern wir daher die sozialdemokratischen Mitglieder der Landesparlamente auf, darauf hinzuwirken, dass

 

  • die KEF den Rundfunkbeitrag zukünftig als Prozentzahl in Relation zum Einkommen festlegt wird. Der Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag ist entsprechend zu ändern.
  • die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks so zu gestalten, dass zukünftig eine Finanzierung ohne Werbe- und Sponsoringeinnahmen möglich ist.
  • die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch zukünftig sichergestellt wird.
  • ein transparenter, verantwortungsvoller und bedarfsgerechter Umgang mit den Beitragsgeldern gewährleistet wird.

Antrag 84/II/2022 Zwischen „Solidaritätsmechanismus“ und systematischer Haft an den europäischen Außengrenzen

10.10.2022

Mit dem neuen Migrations- und Asylpaket („New Pact on Migration and Asylum“) der Europäischen Kommission vom September 2020 sollte eine Weichenstellung für die Reformbemühungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gelegt werden. In der offiziellen Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 23. September 2020 hieß es damals, man würde mit dem Paket verbesserte und schnelle Verfahren festlegen und ein Gleichgewicht zwischen den Grundsätzen der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten und der Solidarität schaffen.

 

Heute, knapp zwei Jahre später, lässt sich kein „Meilenstein“ in der europäischen Asylpolitik verzeichnen, wir können weder von einem solchen Gleichgewicht sprechen, noch können wir der europäischen Asyl- und Migrationspolitik einen schlichten Fortschritt attestieren. Denn im Juni 2022 fand der Rat der Europäischen Union  eine Einigung zu einigen Legislativvorschlägen des Reformpakets: Die EU-Innenminister*innen einigten sich auf eine gemeinsame Position zur Screening-Verordnung und zur EURODAC-Verordnung, sowie auf die Etablierung eines freiwilligen Solidaritätsmechanismus und auf eine Reform des Schengener Grenzkodex. Die EURODAC- und SCREENING-Verordnung sind sogenannte Grenzmanagement-Instrumente. Dabei regelt die EURODAC-Verordnung den Fingerabdruckvergleich von Asylsuchenden, Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen. Ziel dieser Verordnung ist, durch einen Datenabgleich irreguläre Fluchtbewegungen in der EU besser überwachen und verhindern zu können. Mit dem Vorschlag zu einer Screening-Verordnung sollen Drittstaatsangehörige an den EU-Außengrenzen einem Screening unterzogen werden, mit dem ein Identifikationsverfahren sowie Gesundheits- und Sicherheitschecks durchgeführt werden. Im Anschluss soll dann geklärt werden, ob die Betroffenen dem gängigen Asylverfahren oder dem Asylgrenzverfahren auf Basis der Asylverfahrensverordnung zugeteilt werden. Der Schengener Grenzkodex wiederum umfasst Bestimmungen für Personenkontrollen an den Außengrenzen der EU-Staaten, der mit den Reformvorschlägen diese Außengrenzen besser stärken und schützen soll. Und letztlich wurde mit dem Solidaritätsmechanismus ein Instrument etabliert, mit dem Mitgliedstaaten entlastet werden sollen, die besonders von Migrationsbewegungen betroffen sind. Der Mechanismus sieht ein Umsiedlungsprogramm vor, mit dem Schutzsuchende innerhalb der EU umverteilt werden sollen oder aber auch die finanzielle Unterstützung der Mitgliedstaaten, die am stärksten von den Fluchtbewegungen betroffen sind und dessen Asylsystem damit am stärksten belastet wird Medial wird dabei zutreffend festgestellt, dass dieser “Schwung” und diese zügigen Entwicklungen maßgeblich auf dem Druck der französischen Ratspräsidentschaft beruhen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Reformvorschläge der Kommission voranzutreiben, um diese als eigenen Erfolg innerhalb ihrer Amtszeit zu proklamieren.

 

Dabei begrüßen wir zunächst die Etablierung eines Solidaritätsmechanismus, welcher nun eine erste neue Perspektive nach einer jahrelangen Blockade bezüglich der Bemühungen um einen proportionalen und gerechten Verteilungsschlüssel darstellt. Ein solcher Mechanismus ist vor allem vor dem Hintergrund des defizitären, bisher geltenden Dublin-Systems dringend erforderlich, der zu einer übermäßigen Belastung europäischer Grenzstaaten geführt hat und unsolidarische Effekte begünstigte, von denen vor allem die Staaten im inneren Kern der EU profitieren konnten und die südlichen Mitgliedstaaten belastet wurden. Denn nach dem Dublin-System muss sich der EU-Staat, über den ein*e Schutzsuchende*r in die EU eingereist ist, für diese Person verantworten und es ihm*ihr gewähren, einen Asylantrag zu stellen. Daher stehen Mitgliedsstaaten, die die Außengrenze der EU bilden, öfter in der Verantwortung. Entsprechend haben sie einen höheren Anreiz, das Betreten des eigenen Hoheitsgebiets durch Asylsuchende zu verhindern. Jetzt können Ersteinreisestaaten für die Dauer von einem Jahr durch verschiedene Solidaritätsbeiträge anderer Mitgliedstaaten entlastet werden.

 

Hingegen lassen die übrigen Reformvorschläge jegliche Vernunft vermissen: Denn anstatt aus den bisherigen Fehlern des europäischen Asylsystems zu lernen und Lehren aus den menschenunwürdigen Zuständen im Geflüchtetencamp Moria zu ziehen, lassen die Reformvorschläge der Kommission und die Entwicklungen im Rat erkennen, dass das bisherige Asyl- und Migrationssystem gescheitert ist. Die einstigen Grundwerte der europäischen Union, wie die Achtung der Menschenwürde, werden bereits von dem bisherigen Asylrechtssystem jeden Tag verletzt und werden es mit der anstehenden Reform auch in Zukunft.

 

Denn mit Blick auf die Screening-Verordnung sind Gesundheits- und Sicherheitschecks zwar wichtig, aber: Im Asylgrenzverfahren wird die Nicht-Einreise der Schutzsuchenden „fingiert“. Das bedeutet, obwohl sich der*die Schutzsuchende also möglicherweise bereits im Hoheitsgebiet der EU und eines Mitgliedstaats befindet, wird dies durch die Verordnung in rechtlicher Hinsicht verneint. Damit gelten zwar trotzdem europäisches und internationales Recht sowie das Recht des Mitgliedsstaats. Es ist jedoch zu befürchten, dass die Mitgliedstaaten die Weiterreise von Schutzsuchenden verhindern werden und damit in ihre Bewegungsfreiheit eingreifen.

 

Ziel hier ist zweifelsohne, die erneute Stellung eines Asylantrags in einem weiteren EU-Land innerhalb der EU zu vermeiden und Betroffene daran zu hindern, in die EU zu gelangen und andere Mitgliedstaaten aufzusuchen. Denn es steht bereits seit geraumer Zeit fest, dass Asylsuchende innerhalb der EU nicht gleich behandelt werden und die Erfolgsaussichten eines Asylantrags erheblich zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten schwanken.

 

Fest steht auch: Um diese Weiterreise in andere EU-Mitgliedstaaten zu verhindern, wird man nicht darum herumkommen, schutzsuchende Personen in Ihren Unterkünften festzuhalten. Damit würden ohnehin vulnerable und traumatisierte Personen Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen ausgesetzt, die mehrere Monate andauern können und systematische Haftzustände begründen würden, denn das Asylgrenzverfahren kann bis zu zwölf Wochen andauern und im Falle eines ablehnenden Bescheids würde sich ein Rückführungsgrenzverfahren anschließen, das seinerseits wiederum zwölf Wochen umfassen kann.

 

Besonders fatal ist dabei, dass gegen die Zuteilung zum Asyl- oder Asylgrenzverfahren kein Rechtsweg vorgesehen ist und die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen dazu verpflichtet werden, das Asylgrenzverfahren zu wählen. Zu diesen Fällen gehören beispielsweise Schutzsuchende aus einem Drittstaat, dessen Anerkennungsquote unter 20% liegt.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass die Möglichkeit, rechtlich gegen einen Ablehnungsbescheid vorzugehen, nur auf eine Instanz begrenzt ist, also nur von einer „Prüfstelle“ kontrolliert wird. Normalerweise sind dafür jedoch mehrere Ebenen vorgesehen, wie beispielsweise ein erster Widerspruch und dann die stufenweise Weitergabe an das nächsthöhere Gericht. Daneben ist es auch nicht vertretbar, dass die Entscheidung keine aufschiebende Wirkung haben soll. Im deutschen Recht ist es in den meisten Fällen so, dass mit einem Widerspruch die Wirkung und angeordnete Folge durch eine Behörde „aufgeschoben“, also pausiert wird. Davon kann in bestimmten Fällen und Konstellationen abgewichen werden. Im konkreten Fall würde ein negativer Bescheid die Rechtsfolge mit sich bringen, dass der*die Asylsuchende zum Beispiel dem Rückführungsverfahren zugeteilt wird, weil kein Asyl gewährt wird. Legt der*die Asylsuchende dagegen Widerspruch ein, so würde er*sie trotzdem dem Rückführungsverfahren zugeordnet werden können, weil der Widerspruch die Wirkung des Bescheids nicht pausiert. Allein dies stellt bereits einen massiven Bruch mit jeglichem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit dar. Auch die Bereitstellung von Informationen während des Screening-Verfahrens als entscheidender erster Ansatzpunkt zur Ermittlung aller relevanten Umstände wird durch den bisherigen Vorschlag nicht ausreichend gewährleistet: So sieht die Screening-Verordnung vor, dass Schutzsuchende “kurz” über den Zweck des Screenings informiert werden. Es werden zudem nur “gegebenenfalls” wesentliche Informationen zu Einreisebestimmungen und Verfahren bereitgestellt und Mitgliedstaaten “können” nationalen, internationalen oder nichtstaatlichen Organisationen und Stellen gestatten, den Schutzsuchenden im Verfahren Informationen zu erteilen, was einen unangemessen und völlig deplatzierten Ermessensspielraum einräumt, die der Tragweite eines solchen Verfahrens und dessen Bedeutung für die Erfolgsaussichten eines Asylgesuches in keinster Weise gerecht werden!

 

Die ohnehin durch die Asylverfahrensverordnung und durch die Screening-Verordnung erwachsenden Aushöhlungen für das Recht auf Asyl werden dabei durch die Vorschläge für eine Krisenverordnung verschärft: Denn in bestimmten Fällen sollen Mitgliedstaaten von den Regelungen des Reformpaketes abweichen können. Während zum Beispiel vorher ein Asylgrenzverfahren für Geflüchtete verpflichtend werden sollte, die eine Anerkennungsquote unter 20 % haben, können diese Grenzverfahren auch auf Schutzsuchende ausgeweitet werden die aus einem Land mit einer Anerkennungsquote von bis zu 75 % kommen. Voraussetzung dafür wäre, dass der Mitgliedstaat mit „höherer Gewalt“ oder eine hohe Zahl von Schutzsuchenden konfrontiert ist. Daneben soll es den Mitgliedstaaten auch möglich sein, Verfahrens-, Registrierungs- und Zuständigkeitsfristen massiv zu verlängern, was unweigerlich zu einer Verlängerung von massiven und vor allem unverhältnismäßigen Freiheitsentziehungen in Haftlagern an den EU-Außengrenzen führen wird. Die noch geltende Dublin-III-Verordnung, die das Prinzip der Ersteinreise für Asylsuchende festlegt, soll durch die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung abgelöst werden. Es wird jedoch weiterhin am Prinzip der Ersteinreise festgehalten und der effektive Rechtsschutz von Asylsuchenden wird weiter ausgehöhlt, indem gerichtliche Überprüfungen von Menschenrechtsverstößen sich lediglich auf einen Verstoß gegen das Folterverbot und das Verbot unmenschlicher Behandlungen beschränken.  Zudem soll die Dublin-Haft, also die Inhaftierung einer Person in einem Dublin-Verfahren, zur Rücküberstellung der*des Schutzsuchenden künftig unter einfacheren Voraussetzungen angewandt werden können.

 

Mit dem Vorschlag für eine Reform des Schengener Grenzkodex werden weiterhin Regelungen im Falle einer Instrumentalisierung von Migration etabliert, mit denen der Schengenraum widerstandsfähiger gemacht werden soll. So soll es im Falle von Situationen, in denen ein Drittstaat oder nichtstaatlicher Akteur zur Destabilisierung der EU Fluchtbewegungen von Schutzsuchenden an die EU-Außengrenzen oder in einen Mitgliedstaat erleichtert oder vorantreibt, möglich sein, Grenzkontrollen von bis zu sechs Monaten einzuführen. Dies stellt nicht nur eine weitere Aushöhlung des Rechts auf Asyl dar, sondern ein eklatanter Bruch mit dem völkerrechtlichen Non-Refoulment-Prinzip: Nach diesem Prinzip ist es verboten, Schutzsuchende auszuweisen oder abzuschieben, wenn ihnen im Zielland Folter, schwere Menschenrechtsverletzungen oder unmenschliche Behandlungen drohen könnten.

 

Insgesamt ist dabei festzuhalten, dass durch die geplante Asylverfahrensverordnung in Verbindung mit der vom Rat gebilligten Screening-Verordnung Schutzsuchende bereits dann in die Gefahr einer systematischen Haft gelangen, weil sie internationalen Schutz beantragen. Dabei werden Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen abstrakt geregelt, es wird weder eine Angemessenheits- oder Einzelfallprüfung vorgesehen, noch wurden alternative wirksame Möglichkeiten aufgenommen oder in Erwägung gezogen, um den Umgang mit Schutzsuchenden während eines Grenzverfahrens nach dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit zu regeln. Denn die nahtlose Verzahnung von Asyl- und Rückführungsverfahren kommt einzig und allein jenen Mitgliedstaaten zugute, die Migrationsbewegungen kriminalisieren und bereits in der Vergangenheit gezeigt haben, dass Menschen- und Grundrechte im Umgang mit Schutzsuchenden nicht von oberster Priorität sind. Freiheitsentziehungen sollten jedoch stets nur ultima ratio sein und auch nur, wenn dies erforderlich und angemessen ist, nicht jedoch das aktuelle Mittel zum Zweck, um ein gescheitertes Asylsystem zu retten! Bei alledem soll auch lediglich im Rahmen des Screening-Verfahrens ein Monitoring-Mechanismus durch die einzelnen Mitgliedstaaten etabliert werden, der Grundrechtsverstöße untersuchen soll und aufgrund seiner Begrenzung völlig ineffektiv bleiben würde. Die gute Nachricht ist, dass die Screening-Verordnung einen Monitoring-Mechanismus während des Screening-Verfahrens vorsieht, der durch die Mitgliedstaaten angewandt werden soll. Mit diesem Mechanismus sollen Grundrechtsverstöße untersucht werden. Dadurch, dass dieser Mechanismus allerdings nur für das Screening und eben nicht für das Asylgrenzverfahren oder Rückführungsverfahren vorgesehen ist, würde er völlig ineffektiv bleiben! Denn die Gefahr von Grundrechtsverstößen in Form von beispielsweise illegalen Push-Backs oder anderen menschenunwürdigen Behandlungen finden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht im Rahmen eines Screening-Verfahrens sondern eher in den geplanten Asylgrenz- und Rückführungsverfahren statt.

 

Klar wird dabei also insbesondere vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Krisen-Verordnung und der Reform des Schengener Grenzkodex: Mit den Vorschlägen wird der Fokus auf Abschreckung und Grenzsicherung gesetzt, statt sich mit einer menschenrechtskonformen Ausgestaltung des Asyl- und Migrationssystems zu befassen! Das Ersuchen von internationalem Schutz und Asyl wird kriminalisiert und die Gründe dafür sind klar: Bisher konnten keine Regelungen zur Reform des GEAS getroffen werden, mit denen die Probleme des herrschenden Dublin-Systems und die ungerechten Lastenteilungen behoben werden konnten. Die Europäische Kommission und die Mitgliedsstaaten nehmen am “race to the bottom” teil, bei dem ein Wettbewerb um die möglichst schlechtesten Bedingungen für Asylsuchende gefahren wird.

 

Wir sind empört über die geplanten Vorhaben zur Reform des GEAS und den damit einhergehenden, eklatanten Bruch sämtlicher rechtsstaatlicher und menschen- sowie grundrechtlicher Wertungen und stellen uns entschieden gegen die Reformvorschläge der Kommission! Es kann nicht sein, dass die Fehler und Versäumnisse in der bisherigen Asyl- und Migrationspolitik nun auf den Rücken unschuldiger, schutzsuchender Menschen ausgetragen und Rechtsgrundlagen etabliert werden, die nichts weiter tun, als eine Politik der Abschottung weiterzuführen und eine Festung Europa 2.0 zu schaffen. Die geplanten Verordnungen könnten außerdem in einem akuten Spannungsverhältnis mit der EU-Grundrechte-Charta stehen und sie gehen von einem einheitlichen Verständnis von Asyl und Rechtsstaatlichkeit in der EU aus, das schlichtweg nicht existiert.

 

So soll es nun weitergehen: Im März 2022 einigte sich der Rat Justiz und Inneres auf einen schrittweisen Ansatz, nach dem zunächst erst gewisse Fortschritte in einzelnen Bereichen des Reformpaketes erzielt werden sollen. Das Europäische Parlament wird sich mit den Vorschlägen erst im Herbst 2022 befassen und unter einigen Parlamentarier*innen wird ein Paketansatz nach dem Motto “Ganz oder gar nicht“ angestrebt, mit dem das gesamte Verfahren entschleunigt werden kann. Deshalb muss nun der politische Druck sowohl auf das Europäische Parlament, auf die deutsche Innenministerin als auch auf die nun folgende tschechische Ratspräsidentschaft erhöht werden, um die Reformvorhaben des GEAS zu stoppen. Denn aus einem Joint Roadmap der europäischen Mitgesetzgeber*innen geht hervor, dass die Umsetzung der GEAS-Reform oberste Priorität genießt und eine Einigung und der Abschluss vor Ende der Legislaturperiode 2019-2024 anvisiert wird. Das gilt es zu verhindern.

 

Wir fordern daher die sozialdemokratischen Regierungen in den Europäischen Mitgliedsstaaten, die sozialdemokratischen Fraktionen in den nationalen Parlamenten der Europäischen Mitgliedsstaaten sowie die sozialdemokratischen Abgeordneten im Europäischen Parlament auf:

 

  1. die Verabschiedung des Reformpakets entschieden zu verhindern
  2. vor diesem Hintergrund sich im Europäischen Parlament explizit gegen die Verabschiedung der Screening-Verordnung zu stellen, da diese durch die Fiktion der Nichteinreise und als Vorschaltung zu etwaigen Asylgrenz- und Rückführungsverfahren als Einfallstor für die weiteren Reformvorschläge fungiert
  3. sich im Rat gegen die Asylverfahrens-Verordnung, die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung und die Krisen-Verordnung in ihrer aktuellen Form zu stellen, zu denen noch keine Verhandlungsmandate im Rat der Europäischen Union existieren
  4. sich an die umfassenden Menschen- und Grundrechte der EU-Grundrechte-Charta zu erinnern und ihren Auftrag im Rahmen ihrer Rolle bei der Erarbeitung einer Reform des GEAS entsprechend dieser Rechte und Wertungen zu überdenken
  5. sich im Rahmen weiterer Verhandlungen zur Reform des GEAS insgesamt entschlossen gegen Außengrenzverfahren und Verfahrensregeln einzusetzen, die zu de facto Haftlagern an den europäischen Außengrenzen führen würden
  6. sich im Rahmen weiterer Verhandlung primär für eine solidarische und wirksame Entlastung der Ersteinreisestaaten einzusetzen, die das Recht auf Asyl wahren und menschenwürdige Behandlungen sowie das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz gewährleisten
  7. sich im Rahmen weiterer Verhandlungen analog dazu gegen eine Auslagerung der EU-Migrationspolitik einzusetzen, die unweigerlich zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen führen würde
  8. den etablierten freiwilligen Solidaritätsmechanismus zeitlich weiter auszubauen und hinsichtlich der beteiligten Mitgliedstaaten und Solidaritätsbeiträge auszuweiten sowie zu intensivieren, sodass Ersteinreisestaaten entlastet werden können und der politische Druck von Hardliner-Staaten in der europäischen Asylpolitik nicht mehr richtungsweisend wirkt
  9. sich an Stelle einer Kriminalisierung von Schutzsuchenden und unter Strafe stellen von Flucht für die Etablierung und den Ausbau sicherer und legaler Einreisemöglichkeiten von Schutzsuchenden einzusetzen
  10. sich für eine menschenrechtsorientierte Reform des GEAS einzusetzen, mittels welcher migrationsbezogene Haftzustände in jedem Bereich abgeschafft werden können, wirksame Alternativen bereitgestellt werden und das Asylsystem funktional statt auf Abschottung und Abschreckung auf Solidarität und Verantwortung hinsichtlich der Schutzsuchenden setzen kann
  11. sich für einen, auf jeden Bereich des GEAS anzuwendenden, umfangreichen europäischen Monitoring-Mechanismus für die Beobachtung und Ahndung von Grundrechtsverletzungen einzusetzen, statt diese Verantwortung den Mitgliedstaaten zu überlassen, die in der Vergangenheit klar gezeigt haben, dass ihr Bekenntnis zu der Achtung von Grundrechten nicht vollumfänglich und ohne Vorbehalt gilt und zwangsläufig nur zu uneinheitlichen Schutzstandards und verwaschenen Rechenschaftspflichten führen würde.
  12. sich im Fall, dass die Pläne nicht auf politischem Wege verhinderbar sind, dafür einzusetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof Nichtigkeitsklage gegen die im Rahmen des Reformpakets erlassenen Regeln erhebt.

 

Es bleibt unser Ziel, dass alle geflüchteten Menschen, die nach Europa fliehen, in einem Land ihrer Wahl aufgenommen werden, ohne bürokratische oder weitere Drangsalierung. Statt einer „Festung Europa“ die bereits tausende Tode zur Folge hatte, und unvertretbare Zustände in Camps wie Moria hervorbringt, brauchen wir endlich sichere Fluchtrouten und ein wirkliches, europaweit geltendes Recht auf Asyl. Dies ist mit dem aktuellen Asylsystems sowie dem Handeln der europäischen Grenzpolizei Frontex und dem vorliegenden Reformvorschlag unvereinbar.