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Antrag 57/II/2021 Für eine verantwortungsvolle Rüstungspolitik: bewaffnete Drohnen nur unter strengen Kriterien!

9.11.2021

Der Bezeichnung bewaffneter Drohnen als „ethisch neutral“ durch den ehem. Verteidigungsminister Thomas de Maizière widersprechen wir vehement. Die Erforschung, Entwicklung, Beschaffung und der Einsatz von Waffen in militärischen Konflikten sind immer ethisch zu bewerten. Das bedingt eine intensive politische Debatte und den andauernden Einsatz für Regeln und Standards in ihrer Verwendung. In Deutschland fällt diese Verantwortung insbesondere dem Bundestag zu. Da der Einsatz von Bundeswehrsoldat*innen parlamentarisch legitimiert ist, ist das deutsche Parlament zu deren bestmöglichem Schutz ethisch und verfassungsrechtlich verpflichtet.

 

Seit Jahren fordert die Bundeswehr zum Schutz ihrer entsandten Soldat*innen die Begleitung ihrer laufenden Mandate durch bewaffnete Drohnen der Bundesrepublik.

 

Die SPD-Fraktion hat diese Fragen in der letzten Legislaturperiode durch eine Reihe öffentlicher Runden und Anhörungen einer völkerrechtlichen und ethischen Prüfung unterzogen. Im Zuge dieser Prüfung hat sie einen Kriterienkatalog sowie ein Fachkonzept entwickelt, durch welche sichergestellt werden soll, dass bewaffnete Drohnen im Rahmen von Bundestagsmandaten der Bundeswehr ausschließlich zum Schutz von Einsatzkräften im aktiven Gefecht verwendet werden. Wir befürworten die Verankerung dieses Kriterienkatalogs für die Beschaffung und den Einsatz bewaffneter Drohnen durch die Bundesregierung – und perspektivisch auch im Rahmen einer vertieften europäischen Sicherheits- und Verteidigungskooperation im Sinne der „Europäischen Souveränität“.

 

Wir fordern:

  1.  Die Beschaffung und die Mandatierung des Einsatzes bewaffneter Drohnen durch den Bundestag ausschließlich unter durch die SPD durchgesetzten Kriterienkatalog.
  2.  Den unermüdlichen Einsatz für eine mit dem humanitären Völkerrecht konforme Standardsetzung und Regulierung von Forschung, Beschaffung, und Einsatz von automatisierten Waffen und Waffensystemen innerhalb der betreffenden multilateralen Gremien für Rüstungskontrolle. Dies schließt insb. auch die stärkere internationale Regulierung von Einsätzen in asymmetrischen Konflikten unter Einbeziehung der Bevölkerungen in den betroffenen Ländern mit ein.
  3.  Die Schaffung von weiteren diplomatischen Stellen innerhalb des AA und BMVg sowie zur Entsendung in internationale Organisationen für Expert*innen im Bereich der Rüstungskontrolle zu automatisierten Waffen um die Regulierung weiter im Sinne der Bundesregierung und des Bundestags voranzutreiben. Dies schließt auch die andauernde Erstellung und Weiterentwicklung von einsatzdefinierenden Statements, Rules of Engagement, öffentlich verfügbaren Grundlagedokumenten oder konkretisierenden Formulierungen in zukünftigen Koalitionsverträgen ein, die neue wissenschaftliche und ethische Erkenntnisse sowie technologische Entwicklungen mit einbeziehen.
  4. Die Förderung und Beauftragung wissenschaftlicher Studien zu den gesundheitlichen Folgen des Einsatzes für Drohnenpilot*innen, insbesondere psychologischer Druck und posttraumatische Belastungsstörungen sowie die Entwicklung von psychologischen Begleitprogrammen zur Sicherstellung ihrer mentalen Gesundheit.
  5.   Die intensive Erforschung des sog. „Joystick“ – Phänomens und Methoden, wie einer möglichen Enthemmung der Soldat*innen in Verbindung mit dem Einsatz bewaffneter Drohnen und anderer teilautomatisierter Waffen und Waffensysteme, soweit festgestellt, langfristig entgegengewirkt werden kann.
  6. Die Gründung eines regelmäßig tagenden öffentlichen virtuellen Forums der Arbeitsgemeinschaft Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPD-Fraktion in Zusammenarbeit mit der Wehrbeauftragten des Bundestags, um aktuelle sowie langfristige sicherheitspolitische Fragen, bspw. durch das Einladen von Expert*innen aus Forschung und Praxis, für die Basis zu beleuchten und den ehrlichen sicherheitspolitischen Diskurs mit den Parteimitgliedern zu suchen.

 

Antrag 58/II/2021 Schnallst Du’s? Bildung weltweit für alle finanzieren und umsetzen!

9.11.2021

Wer nicht lesen und schreiben kann, kann nur in begrenztem Maße am ökonomischen Leben und dem politischen Geschehen teilnehmen. Bildung ist der Weg zu Demokratie und Frieden, zu Wohlstand. Bildung ist ein universelles Menschenrecht. Bildung ist das vierte der nachhaltigen Entwicklungsziele – und dennoch selbst vor der Pandemie chronisch unterfinanziert. Als Auswirkungen der teilweise andauernden Schulschließung auf Grund von COVID 19 konnten weltweit 260 Millionen Kinder nicht zur Schule gehen. 617 Millionen Kindern fehlt es heute an grundlegenden Kenntnissen im Lesen und Rechnen, besonders betroffen sind geflüchtete Kinder und Kinder in Konfliktregionen. Dennoch weigert sich das Entwicklungsministerium, Bildung sowohl inhaltlich als auch finanziell im Ministerium zu priorisieren. Eine ganze Generation von Kindern darf nicht mehr zurückgelassen werden!

 

Aus diesem Grund fordern wir:

Globale Bildung muss umfassend und prioritär im Entwicklungsministerium und im Auswärtigen Amt strategisch verankert und finanziell ausgestattet werden.

 

Konkret fordern wir:

  • Das Ziel von entwicklungspolitischer Förderung des Bildungssektors im Globalen Süden muss normativ und konzeptionell im Entwicklungsministerium formuliert werden. Dies muss sich an sozialdemokratischen Werten orientieren und beinhalten, dass Bildung mehr ist als die Schaffung von Humankapital für Wirtschaftswachstum. Bildung ist Demokratieerziehung und Hebel für nachhaltige Entwicklung im Sinne der Agenda 2030.
  • Qualitative Bildung muss für alle vulnerablen Gruppen zugänglich Aus dem Grund muss der Einfluss privater Unternehmen und die Privatisierung der Bildung eingedämmt und die Bildung aus öffentlicher Hand gestärkt werden. Nachhaltige Konzepte von qualitativer Bildung, die Investition in Pädagogik, Ausstattung der Schulen und Lehrmaterialien, Finanzierung der Aus- und Weiterbildung Lehrer*innen muss gestärkt werden in der Entwicklungszusammenarbeit.
  • Bildungsfinanzierung muss ausgebaut und ein angemessener Anteil davon in Grundbildung investiert werden. Multilaterale Instrumente und Partnerschaften müssen strategisch genutzt und ausgebaut werden. Ein angemessener Beitrag Deutschlands kann bei einem jährlichen Kernbeitrag von 110 Millionen Euro für Bildung liegen.
  • Grundbildung muss im Kontext eines lebenslangen Lernens verschiedene Phasen des Lernens berücksichtigen – einschließlich der frühkindlichen Bildung.
  • Bildungspolitik muss inklusiv, antirassistisch und gendergerecht gestaltet werden, um Geschlechternormen aufzubrechen, und Ressourcen, Lern- und Lehrpraktiken geschlechtergerecht zu verteilen. Dazu gehört auch die Förderung von informellen oder alternativen Bildungsangeboten speziell für Mädchen.
  • Der Bildungszugang muss als lebensrettende Maßnahme anerkennt werden – auch im Kontext des Nexus von Humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Frieden, finanzielle Instrumente wie Education Cannot Wait müsen hierfür gestärkt werden.
  • Der Zugang zu Bildung muss über einen systemstärkenden, integrierten multisektoralen Ansatz erfolgen. Das umfasst insbesondere die Förderung von Schulmahlzeiten, die Förderung von Kinderschutzmaßnahmen gegen sexuellen Missbrauch und körperliche Züchtigung und für gewaltfreie Erziehung. Sexuelle und reproduktive Gesundheit muss Teil des Curriculums sein und dieses Curriculum muss gelebt werden.
  • Schulen müssen ein Ort der Sicherheit Die von Deutschland 2018 unterzeichnete safe school declaration muss konsequent umgesetzt werden, damit Schulen weniger ein Ziel von militärischen Angriffen in Konfliktregionen werden und die Opfer der Angriffe unterstützt werden.
  • Die Förderung von Digitalisierung im Bildungssektor muss einer Prüfung von Qualität unterzogen werden. Infrastruktur wie Internet- und Stromzufuhr sowie Kompetenzen in der Anwendung von Nutzer*innen (Lehrpersonal, Eltern und Schüler*innen) müssen im Einklang mit dem digitalen Angebot sein. Hardware kann keine qualitative Bildung oder Lehrpersonal ersetzen! Einfluss und Interessen von Multikonzernen in der digitalen Bildung müssen evaluiert werden.

 

Antrag 59/II/2021 Ein Schritt in Richtung globale soziale Gerechtigkeit - Angleichung der Bezahlung von Ortskräften und Entsandten in der internationalen Zusammenarbeit!

9.11.2021

Das Vergütungssystem an deutschen Institutionen, die im Ausland operieren (z.B. Botschaften, politische Stiftungen, die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), zementiert die Ungleichheiten zwischen dem Global Süden und Norden, denn: Ortskräfte werden deutlich schlechter bezahlt als die deutschen entsandten Angestellten dieser Institutionen.

 

Konkret folgt das Vergütungssystem diesen Leitlinien:

 

Die Vergütung von deutschen Angestellten im Ausland wird je nach Beschäftigungsort durch das Bundesbesoldungsgesetz oder den TVöD Bund geregelt bzw. daran angelehnt. Zu diesem dort festgeschriebenen Geld kommen noch Auslandsdienstbezüge hinzu, die unter anderem einen Mietzuschuss beinhalten. Die Höhe dieser Bezüge unterscheidet sich je nach Einsatzland.

 

Im Gegensatz dazu erhalten Ortskräfte an deutschen Auslandsvertretungen ihr Gehalt gemäß der Ortsüblichkeit. Die Ortsüblichkeit wird durch den Vergleich mit anderen ortsansässigen Arbeitsbedingungen festgelegt. Auch bei anderen deutschen Akteur*innen im Ausland (z.B. Stiftungen oder der GIZ), gilt ein Besserstellungsverbot, das dem Prinzip der Ortsüblichkeit ähnlich ist.

 

Im Detail bedeutet das, dass beispielsweise die*der deutsche entsandte Büroleiter*in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunesien 4113,41 Euro brutto verdient und zusätzlich laut der Auslandszuschlagsverordnung 2348,68 Euro Auslandszuschlag bekommt.

 

Das Gehalt der Ortskraft, das sich nach Ortsüblichkeit bemisst, ist somit je nach Position zwischen den folgenden Gehaltsgruppen einzuordnen: Ein*e Buchhalter*in in Tunesien verdient im Schnitt 326,63 Euro, ein*e Architekt*in 388,93 Euro und ein*e Zahnärzt*in 951 Euro.

 

Zusammengefasst entsteht die ungleiche Vergütung durch die Bezahlung der Entsandten nach deutschen Gehaltsstandards und zusätzlichen Auslands- und Mietzuschüssen, während Ortskräfte nach den Prinzipien der Ortsüblichkeit bezahlt werden. Am Beispiel Tunesiens beträgt dieser Unterschied mindestens 5.500 Euro! Die eigentlich gleichwertige Arbeit von Ortskräften im Vergleich zu Entsandten, wird durch das Ungleichgewicht der Vergütung entwertet. Es ist ungerecht, dass die Ortskräfte für denselben Arbeitsaufwand und Qualifikation nur einen Bruchteil vergütet bekommen. Dieses Lohngefälle ist unverhältnismäßig.

 

Auch steht den Entsandten angesichts der Tatsache, dass die Lebenshaltungskosten in vielen Ländern des globalen Südens die Lebenshaltungskosten meist um einiges niedriger sind als in Deutschland, in vielen Fällen überdurchschnittlich viel Geld zur Verfügung. Diese im Dienstland (als auch für deutsche Standards) überdurchschnittliche Vergütung ermöglicht den Entsandten einen außerordentlich gehobenen Lebensstil im Vergleich zu der restlichen Bevölkerung.

 

Bei der Auflösung dieses Ungleichgewichts, sind zwei Punkte zu beachten: Für die ortsübliche Bezahlung spricht das Argument, dass eine zu große Einflussnahme auf das lokale Wirtschaftssystem verhindert werden soll. Für Entsandte wird das Argument geltend gemacht, dass ihnen eine Rückkehr nach Deutschland mit einem angemessenen Lebensstandard garantiert sein muss.

 

Dennoch ist dieses exorbitante Ungleichgewicht so nicht tragbar. Wir verstehen uns als internationalistisch und müssen so für die Auflösung kolonialer Strukturen eintreten.  Am wichtigsten ist aber: Die ungleiche Bezahlung ist nicht vereinbar mit dem zentralen Grundwert der Jusos und der SPD: Soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit endet nicht an der deutschen Grenze, wir müssen für sie weltweit einstehen.

Deswegen fordern wir:

  • Eine Neubewertung der Gehälter von Entsandten und Ortskräften
  • Eine Angleichung der Vergütung von Entsandten und Ortskräften
  • Eine Neubewertung des Auslandszuschlags der Entsandten unter Einbeziehung der Differenz der Lebenshaltungskosten im Land der Entsendung und in Deutschland insbesondere des Mietkostenzuschusses

Lasst uns endlich diesen entscheidenden Schritt in Richtung globale Gerechtigkeit gehen.

Antrag 60/II/2021 Schweigen durchbrechen! Schutz vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung durch Akteure der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe!

9.11.2021

Am 28. September hat ein WHO-Bericht schwere Vorwürfe von Kongolesinnen über Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe und sexuelle Ausbeutung durch WHO-Personal in der Demokratischen Republik Kongo bestätigt.

Nach Missbrauchsskandalen in Haiti durch Mitarbeiter von Oxfam 2018 ein erneuter Hinweis, dass das Verhalten von zivilen Helfern auf den Prüfstand muss, um sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch zu verhindern und dem Eindruck der Straf- und Verantwortungslosigkeit unter dem Deckmantel der Hilfe entgegenzutreten.

 

Wir fordern

  • Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) muss seine Weigerungshaltung gegenüber der Einführung von Maßnahmen zum Schutz von gefährdeten Erwachsenen und Kindern vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung durch zivile Helfer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit durch sogenannte Safeguarding Richtlinien instellen und eine System von Safeguarding einführen – ein Verweis auf die Einführung durch die Durchführungsorganisationen reicht nicht!
  • Maßnahmen und Standards zu Safeguarding müssen in der entsprechenden Gleichstellungsstrategien der Bundesregierung bzw des BMZ verankert sein.
  • Unabhängige Kontrollen zum Einhalten von Safeguarding-Standards der in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) und der humanitären Hilfe tätigen Durchführungsorganisationen und Zuwendungsempfänger müssen durch das BMZ und das Auswärtige Amt (AA) regelmäßig in Auftrag gegeben werden
  • Es müssen regelmäßig Daten zum Fehlverhalten im Kontext sexueller Gewalt von Mitarbeitern deutscher Durchführungsorganisationen und Zuwendungsempfängern erhoben und in einem Rechenschaftsbericht veröffentlicht werden.
  • Verfahren zum Melden von Fehlverhalten müssen in den Einsatzländern eingeführt und bekannt gemacht werden.
  • Eine neue Kultur von Safeguarding Policies, Audits und Reform der Strukturen und Kulturen, die diesen Machmissbrauch der sexuellen Ausbeutung hat entstehen lassen, muss erfolgen, inklusive der Entwicklung von Präventionsmaßnahmen. Dazu gehört auch, mehr Frauen an Macht und Entscheidungen in Leitungsebene in Einsätzen der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen.
  • Sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch durch Mitarbeiter deutscher Durchführungsorganisationen und NGOs im Ausland müssen strafrechtliche Konsequenzen haben
  • Betroffene sexualisierter Gewalt durch Akteure der EZ oder der Humanitären Hilfe müssen entschädigt werden: durch Unterstützung beim Bestreiten des Lebensunterhalts ihrer livelihood Aktivitäten, medizinische und psychosoziale Unterstützung, und ggfs. einkommensschaffende Maßnahmen zur Rehabilitierung. Kinder, die durch die sexualisierte Gewalt entstanden sind, müssen Garantien auf gesundheitliche Fürsorge und Bildungsunterstützung haben.

 

Antrag 61/II/2021 Für eine konsequente sozialdemokratische Russlandpolitik!

9.11.2021

Der Umgang mit Moskau auf der internationalen Bühne ist in letzter Zeit immer schwieriger geworden. Europas Beziehungen zu Russland sind immer wieder Rückschlägen ausgesetzt. Innenpolitisch hat Moskau nicht erst mit der Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny seine brutale Seite gezeigt. Das wurde auch durch die zahlreichen Inhaftierungen und die massive und repressive Polizeigewalt als Reaktion auf regierungskritische Proteste nach der Verurteilung Nawalnys sichtbar. Dies reiht sich ein in eine mittlerweile lange Liste der vergifteten, getöteten, bedrohten, verhafteten oder ins Exil getriebenen Kritiker*innen.

 

Gleichzeitig sind bei den politischen Machthabern in Russland Korruption und Kleptokratie an der Tagesordnung, wie zuletzt auch durch die Enthüllungen der “Pandora-Papiere” belegt. Wirtschaft und Gesellschaft werden für die Eigeninteressen einer kleinen Elite instrumentalisiert. Dies führt insbesondere bei Teilen der jüngeren Generation zu Empörung. Die Parlamentswahlen im September 2021, die als die unfairsten und unfreisten Wahlen seit dem Ende der Sowjetunion bezeichnet werden können,[1] haben gezeigt, dass politische Mitbestimmung eine Illusion ist und nicht-systemtreue Kandidat*innen systematisch unter Druck gesetzt und ausgeschlossen werden. Eine neue Repressionswelle, bei der Proteste verboten und Teilnahme hoch bestraft wird, zeigt, dass die autokratische Entwicklung Russlands eine neue Qualitätsstufe erreicht hat. Dabei geraten auch zunehmend deutsche Organisationen und Medien sowie ihre Kooperationspartner, wie zum Beispiel Memorial und die Deutsche Welle, unter Druck.

 

Auch international befinden sich Russland und die EU sowie ihre Partner und Verbündeten im geopolitischen Konflikt. In Afrika, Osteuropa und im Nahen Osten verfolgt Russland politische und militärische Interessen, die die regelbasierte Ordnung unterminieren, und versucht eine Einflusszone sowie Machtinstrumente gegen die EU und NATO aufzubauen. Dabei werden – wie in der russischen Verteidigungsdoktrin dargelegt – nicht nur militärische, sondern auch politische und wirtschaftliche Instrumente wie zum Beispiel Desinformation eingesetzt, um Konflikte zu gewinnen.

 

Mit Blick auf die neusten Entwicklungen ist zu erwarten, dass die Repressionen noch zunehmen werden, je mehr gesellschaftliche Unzufriedenheit sich rührt. Klar ist: Jegliche Stärkung und Legitimation des russischen Machtsystems geht zu Lasten der russischen Bürger*innen, insbesondere Menschenrechtsverteidiger*innen, Umweltaktivist*innen und Kämpfer*innen für soziale Gerechtigkeit. Eine sozialdemokratische Russlandpolitik muss primär darauf zielen, die russische Zivilgesellschaft zu stärken und sich solidarisch zu zeigen mit den Bürgerinnen und Bürgern statt mit den Machthabern und Eliten.

 

Es ist unsere Verantwortung, unabhängige zivilgesellschaftliche Initiativen zu unterstützen und Kritiker*innen Schutz zu bieten, die im In- und Ausland der Gefahr von Attentaten ausgesetzt sind. Wir unterstützen das Streben nach Demokratie und politischer Beteiligung durch die russische Zivilgesellschaft, unabhängig davon, dass einzelne Oppositionspolitiker*innen wie Nawalny auch kritisch zu betrachten sind. Nur durch freie, gleiche und demokratische Wahlen kann echte Partizipation erreicht und Menschenrechte durchgesetzt werden.

 

Die Einbindung der Zivilgesellschaft muss ganz klar im Mittelpunkt einer sozialdemokratischen Russlandpolitik stehen, die langfristig und strategisch die Zukunft Russlands und der deutsch-russischen und europäisch-russischen Beziehungen im Blick hat. Dabei soll der schwierige Dialog mit russischen Entscheidungsträger*innen fortgesetzt werden, insbesondere bei den drängendsten Herausforderungen von heute, wie dem Klimawandel und der Erreichung globaler Nachhaltigkeitsziele wie der Agenda 2030 der Vereinten Nationen.

 

Trotz dieses Bekenntnisses zum Dialog reicht ein Kurs des „Weiter so“ mit Blick auf das neue Level der Autokratisierung und Repression, das in den letzten zwei Jahren erreicht worden ist, sowie der sich ausbreitenden Korruption und Kleptokratie in Russland, nicht aus. Auf Worte müssen Taten folgen! Die Bundesregierung und die Regierungskoalition unter Führung der SPD müssen entschieden für Menschenrechte einstehen, auch wenn diese möglicherweise Wirtschaftsinteressen gegenüberstehen, und sie gegen staatliche Repression verteidigen. Die personenbezogenen Sanktionen durch die Bundesregierung und weitere Staaten der Europäischen Union sind dafür alleine nicht ausreichend.

 

Deswegen fordern wir:

  • die SPD-Bundestagsfraktion sowie die Mitglieder der Bundesregierung auf, sich klar gegen die Menschenrechtsverletzungen durch die russische Regierung zu positionieren und weitere entsprechende Maßnahmen zur Sanktionierung von verantwortlichen Eliten und Machthabern zu ergreifen. Diese sollen sich ausschließlich gegen für Menschenrechtsverletzungen Verantwortliche richten, und nicht der Bevölkerung schaden. Russische Oligarchen sind oft Komplizen der politischen Machthaber und sollten daher mit einbezogen werden. Maßgeblich dafür ist das EU-Menschenrechts-Sanktionsregime auch unter Einsatz der erst vor kurzem von der EU verabschiedeten neuen Sanktionsinstrumente zur individuellen Ahndung von Menschenrechtsverletzungen.
  • als symbolische Geste der Solidarität mit unseren Nachbarn und zur Stärkung der EU als glaubwürdige Akteurin die Einbeziehung der EU Battlegroups in der NATO Enhanced Forward Presence in den baltischen Staaten.
  • den Kampf gegen Korruption und Geldwäsche zu verstärken. Aus Russland exportiertes schmutziges Geld darf in der EU keinen Platz haben. Das europäische und deutsche Finanzsystem darf nicht mehr wie aktuell für die russische Geldwäsche missbraucht werden. Die EU und alle ihre Mitgliedstaaten müssen entschieden gegen Geldwäsche, organisiertes Verbrechen, Desinformation und Propaganda auf europäischem Boden vorgehen.
  • mehr Räume und Förderung für kulturelle, soziale und politische Initiativen für russischsprachige Deutsche, die ein primäres Ziel russischer Desinformation sind.
  • die Weiterführung des Dialogs über eine allgemeine Visaliberalisierung, insbesondere für die Jugend, zur Förderung des gesellschaftlichen Austauschs.
  • besseren Schutz russischer Oppositioneller und Regierungskritiker*innen in der Bundesrepublik, beispielsweise durch ein humanitäres Visaprogramm, damit die russische Diaspora und Geflüchtete in Deutschland und Europa solange wie nötig einen sicheren, vertrauenswürdigen und willkommenen Hafen vorfinden.
  • „Die Bundesregierung und den Senat von Berlin dazu auf: eine „Osteuropauniversität in Berlin“ einzurichten und zu finanzieren, die eine neue Heimstätte für unabhängige Forschung durch Wissenschaftler*innen aus Russland und Belarus außerhalb ihrer Länder ermöglichen wird und dadurch einen Beitrag zur Ausbildung der wissenschaftlichen Elite für die Zeit nach Vladimir Putin beitragen kann
  • Unterstützung für unabhängige Medienprojekte aus der russischsprachigen Welt vorzusehen, die gegen die Propaganda der regierungsnahen und regierungseigenen Medien aus Russland wirken. Diese kann in Form spezieller Fortbildungsprogramme, Unterstützungsstipendien, Zuschuss- und Darlehensprogramme und weitere Instrumente erfolgen.“

 

[1] https://www.swp-berlin.org/publikation/russlands-dumawahl-2021