Archive

Antrag 198/I/2024 Kirchensteuer und staatliche Entschädigungsleistungen an die christlichen Kirchen in Deutschland abschaffen!

21.04.2024

Seit der Zeit Napoleons vor über 200 Jahren werden die christlichen Kirchen in Deutschland durch den deutschen Staat entschädigt und durch das automatische Einbehalten der Kirchensteuer bei Kirchenmitgliedern durch die Finanzämter unterstützt. An Entschädigungsleistungen haben die evangelische und katholische Kirche im Jahr 2022 rund 602 Mio. Euro von den Bundesländern erhalten, durch die Kirchensteuer schätzungsweise 13 Milliarden Euro.

 

Im Jahr 1803 beschlossen die Fürsten des Heiligen Römischen Reichs, als Ausgleich für die Eroberungen Napoleons Besitztümer und Ländereien der Kirche auf heute deutschem Boden in ihre eigene Herrschaft zu überführen. Damals bedeutete das, dass rund fünf Millionen Menschen plötzlich neue Landesherren hatten. Für diesen Verlust werden die evangelische und katholische Kirche in Deutschland als Religionsgemeinschaften bis heute von staatlicher Seite entschädigt. Zu den Privilegien der Religionsgemeinschaften in Deutschland gehört auch, dass diese seit rund 200 Jahren ermächtigt sind, Kirchensteuer von den Bürgerinnen und Bürgern einzuziehen, die Kirchenmitglieder sind. Davon profitieren in besonders großem Umfang die evangelische und katholische Kirche. Die Kirchen können die Steuer gegen eine Aufwandsentschädigung von den staatlichen Finanzämtern einziehen lassen, wenn das Landesparlament des entsprechenden Bundeslandes zugestimmt hat.

 

Schon in der Weimarer Verfassung war vorgesehen, die Entschädigungsleistungen an die Kirchen zu beenden, doch auch in der Weimarer Republik konnte keine Lösung gefunden werden. Die Ampel-Regierung hat nach 16 Jahren vermeintlicher Christdemokrat*innen in der Regierung im Koalitionsvertrag den Beschluss gefasst, „einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen“ zu finden. Wir finden, dafür wird es höchste Zeit.

 

Auch wenn die Entschädigungsleistungen selbst nur einen kleinen Anteil an den kirchlichen Einnahmen ausmachen, so ist die Kirchensteuer jedoch eine der Haupteinkommensquellen insbesondere der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland. Das bisherige Prinzip des Einzugs über die staatlichen Finanzämter hat mit einer Trennung von Kirche und Staat nichts zu tun. Wir fordern deshalb, dass die verpflichtende staatliche Kirchensteuer abgeschafft wird. Wie das funktionieren kann, zeigen Beispiele aus anderen Ländern: In Großbritannien finanziert sich die Kirche aus ihrem eigenen Vermögen. In Frankreich ist beispielsweise die traditionell stark verwurzelte katholische Kirche auf Spenden und einen freiwilligen Kulturbetrag von einem Prozent des Einkommens der Mitglieder angewiesen. In Italien werden 0,8 Prozent der Einkommensteuer an anerkannte Religionsgemeinschaften oder für humanitäre Zwecke gezahlt. Dabei können Steuerzahler*innen jedes Jahr selbst entscheiden, an wen das Geld gehen soll. Spanien verwendet das gleiche System, jedoch liegt der Steuerbetrag hier bei 0,7 Prozent. Solche Systeme sind deutlich sozialer und zeitgemäßer.

 

Wer aus der Kirche austreten will, dem*der werden zahlreiche Steine in den Weg gelegt. Nicht nur stellt die Kirchensteuer eine finanzielle Bürde für einkommensschwache Familien dar, zusätzlich muss beim Austritt zum Beispiel in Berlin ein Termin beim örtlichen Amtsgericht vereinbart werden, bei dem die austretende Person selbst erscheinen muss. Per Brief ist ein Austritt nur mit notarieller Beglaubigung möglich. Doch damit nicht genug: In allen Bundesländern außer Brandenburg und Bremen, falls der Austritt bei einer kirchlichen Stelle beantragt wird, werden Gebühren zwischen 5,50 Euro und bis zu 75 Euro in Baden-Württemberg fällig. Das ist absolut unverhältnismäßig. Mit dem Ende des Einzugs der Kirchensteuermittel durch den Staat fordern wir auch das Ende der Verwaltung des Mitgliederwesens der Kirchen durch den Staat. Die Kirchen sollen aufgefordert werden, einen Kirchenaustritt online und kostenlos zu ermöglichen.

 

Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten in Deutschland tagtäglich Viel – insbesondere im Rahmen der sozialen Fürsorge durch den Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen, von Geflüchteten über Kranke, Pflegebedürftige und Obdachlose, und als kulturelle und weltanschauliche Gemeinschaften und Anlaufstellen. Trotzdem muss die Finanzierung der Religionsgemeinschaften, besonders der beiden großen christlichen Konfessionen, endlich auf eine neue Grundlage gestellt werden! Davon unabhängig setzen wir uns dafür ein, dass durch die sich daraus möglicherweise ergebenden finanziellen Umstrukturierungen der Religionsgemeinschaften nicht potenziell gefährdete Unterstüzungsmaßnahmen, Dienst- und Hilfeleistungen für die besonders schwachen und bedürftigen Mitglieder unserer Gesellschaft betroffen sind, beziehungsweise, dass diese ansonsten durch eine mindestens gleichwertige Ersatzleistung ersetzt werden.

 

Wir fordern deshalb,

  • die Verhandlungen für das Ende der Entschädigungsleistungen an die Kirchen voranzutreiben und diese noch in der laufenden Legislaturperiode wie im Koalitionsvertrag vorgesehen endgültig zu beenden;
  • das bisherige Verfahren des Einzugs der Kirchensteuer über die Finanzämter und die verpflichtende Zahlung für Kirchenmitglieder zu beenden;
  • die Dienstleitungen des Austritts aus der Religionsgemeinschaft kostenlos und in vereinfachter Form online zu ermöglichen.

 

Antrag 199/I/2024 „Nie Wieder!“ ist jetzt - jüdisches Leben schützen!

21.04.2024

Gewalt gegen Jüdinnen*Juden in Deutschland ist alltäglich und allgegenwärtig. Ob auf der Straße, in der Schule, in der Universität, zuhause oder auf Arbeit – Jüdinnen*Juden werden immer wieder Opfer antisemitischer Übergriffe und Verbrechen.

 

Dabei steigt die Zahl der Übergriffe und Verbrechen seit 2015 mit jedem Jahr an. Verzeichnete das Bundeskriminalamt im Jahr 2021 noch knapp 3.000 antisemitische Delikte, waren es im Jahr 2022 schon 3.500 Delikte. Seit dem 07. Oktober 2023 erreicht die Bedrohungslage für Jüdinnen*Juden ein neues Maß und die Lage verschlimmert sich drastisch. Allein von Anfang Oktober bis Anfang November dokumentierte der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (kurz: RIAS) 994 antisemitische Delikte. Im gleichen Zeitraum erfasste der Bundesverband RIAS allein 177 antisemitische Versammlungen. Der Abschlussbericht des Bundesverbands RIAS zeichnet ein furchtbares Bild.

 

So berichten Jüdinnen*Juden vermehrt von antisemitischen Vorfällen an Orten ihres Alltags: in der Nachbarschaft, an ihrem Arbeitsplatz oder an Hochschulen – nirgends sind sie sicher.  Allein 59 Vorfälle im direkten Wohnumfeld musste der Bundesverband RIAS verzeichnen – so drangen zum Beispiel zwei Männer gewaltsam in die Wohnung eines Israelis ein, um eine aus dem Fenster gehängte Israelflagge zu entfernen.

 

Auch an Hochschulen – nicht zuletzt an der Freien Universität in Berlin – kommt es vermehrt zu antisemitischen Schmierereien und Versammlungen. So werden Jüdinnen*Juden für das Verhalten Israels verantwortlich gemacht, antisemitische Hetzschriften verteilt, der Krieg in Gaza auf antisemitische und verharmlosende Art und Weise mit der Shoah gleichgesetzt und jüdische Studierende öffentlich antisemitisch markiert.

 

Mit Blick auf die Zunahme der antisemitischen Vorfälle und Gewalttaten zeichnet der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung ein verheerendes Bild und spricht von geringer Solidarität mit jüdischen Gemeinschaften, mangelnder Empathie und drastischen Auswirkungen für Jüdinnen*Juden in Deutschland – ganz gleich ob es sich dabei um einen versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin, antisemitische Schmierereien an Hauswänden,  Drohungen gegenüber jüdischen Einrichtungen und Schulen oder Gewaltangriffe gegenüber Jüdinnen*Juden handelt.

 

Schutz von jüdischen Einrichtungen jetzt!

Und bei Betrachtung dieser alltäglichen und allgegenwärtigen Bedrohung, dieser immer wiederkehrenden Gewalt wird neben einem eklatanten gesellschaftlichen Versagen auch ein Versagen des Staates offenbar, der nicht in der Lage ist, jüdisches Leben zu schützen.

 

So muss man sich vor Augen führen, dass jüdische Gemeinden weitestgehend allein für den Schutz von Synagogen und Bildungseinrichtungen verantwortlich sind. Dessen bewusst ist sich kaum jemand – Friedrich Merz reagierte erstaunt beim Besuch des jüdischen Gymnasiums in Berlin, dass die Schule einen sehr großen Zaun um sich habe, für die Schüler*innen ist dieser “große Zaun” jedoch Alltag. In Gefährdungsanalysen werten Polizei und Landeskriminalamt Gegebenheiten und Gefahrenlagen aus und teilen den jüdischen Gemeinden dann mit, wo Sicherheitslücken liegen – für die Umsetzung und Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen sind dann aber die Gemeinden allein verantwortlich. Die Polizei zieht sich oft aus der Verantwortung, beschränkt sich auf die Annahme ,,abstrakter” Gefahren und lässt, wie sich beispielsweise zuletzt in Halle im Jahr 2019 an Yom Kippur gezeigt hat, Sicherheitslücken offen.

 

Klar muss aber sein, dass die Gefahrenabwehr hierbei eine Kernaufgabe des Staates ist! Ob Synagoge, jüdische Schule oder jüdische Bildungseinrichtung – der Staat muss alle Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und zur Sicherung aufwenden, von Sicherheitsglas und Sicherheitstüren bis hin zu Schutzpersonal, um Orte jüdischen Lebens zu schützen!

 

Antisemit*innen raus aus unseren Sicherheitsbehörden!

Und nicht überraschend ist, dass die Probleme in unseren Sicherheitsbehörden noch über ein bloßes Wegsehen hinausgehen. Nicht zuletzt die Enthüllungen des Satirikers Jan Böhmermann, der Chatprotokolle von Polizist*innen eines Frankfurter Polizeireviers veröffentlichte, zeigen, dass Antisemit*innen in unseren Sicherheitsbehörden sitzen.

 

Nichtsdestotrotz müssen sich Menschen, die auf den Schutz des Staates und den Schutz der Polizei angewiesen sind, darauf verlassen können, dass diejenigen, vor deren Angriffen und Gewalt sie beschützt werden müssen, nicht auch noch in den Sicherheitsbehörden selbst sitzen. Die Behördenleitungen müssen hier konsequent durchgreifen und alle Maßnahmen ergreifen, um Antisemit*innen aus dem Dienst zu entfernen und um antisemitische Strukturen in den Behörden zu zerschlagen.

 

Das Strafrecht reformieren!

Auch das Strafrecht ist dahingehend reformbedürftig! Während beispielsweise Tatmotive wie die „Habgier“ zu einer enormen Strafschärfung führen können, sind Motive bezüglich gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vergleichsweise vernachlässigt. Nach §46 II Strafgesetzbuch sind solche Motive bei der Strafzumessung lediglich „in Betracht“ zu ziehen. Deshalb verwundert es auch nicht, dass in der Vergangenheit beispielsweise ein Brandanschlag auf eine Synagoge nur minimal bestraft wurde, da der zuständige Richter ein antisemitisches Tatmotiv negierte.

 

Wenn Jüdinnen*Juden oder jüdische Einrichtungen aus blankem Hass attackiert werden, dann muss das vor Gericht klar benannt werden. Staatsanwaltschaften und Gerichte dürfen keinen Zweifel daran lassen, dass solche Angriffe immer antisemitisch sind. Wenn in solchen Fällen, wie schon geschehen, von ,,Israelkritik” gesprochen wird, bestätigen sie die Täter*innen noch zuletzt in ihrem Denken und verleihen den Taten zu gewissen Grad Legitimation.

 

Antisemitismusprävention unterstützen, fördern, ausbauen!

Der Beratungsbedarf der Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK e.V. hat sich seit dem 07. Oktober 2023 verzehnfacht. Die hebräischsprachige Seelsorge „Matan“ verzeichnete im Oktober siebenmal so viele Anrufe wie im September. Der Bundesverband RIAS berichtet von einer enorm gestiegenen Anzahl an Meldungen antisemitischer Delikte.

 

Und so wichtig wie die Arbeit dieser Einrichtungen, die nicht nur ansprechbar sind und Menschen im Nachgang zu antisemitischen Übergriffen begleiten, sondern auch essentielle Arbeit im Bereich der Aufzeichnung und Sammlung von Vorfällen leisten, so sehr würde man doch hoffen, dass diese finanziell und personell abgesichert sind – mitnichten!

 

Erst im Oktober wandte sich zum Beispiel die Geschäftsführerin des OFEK e.V. mit einem Schreiben an die Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus und forderte unter anderem mehr Geld, um die Angebote aufrechterhalten zu können – ein für uns alarmierender Zustand! Für uns ist klar: Jegliche Angebote und Stellen zur Antisemitismusprävention, aber auch im Bereich der Beratung, Begleitung und Berichterstattung müssen finanziell und personell so ausgestattet werden, dass ihre Arbeit langfristig abgesichert ist!

 

Und schaut man sich die antisemitischen Vorfälle an, die auch an Schulen verzeichnet werden, wird deutlich, dass Antisemitismusprävention noch viel früher greifen muss! Wir brauchen noch viel mehr pädagogische Angebote der Antisemitismusprävention an Schulen, die über antisemitische Parolen, Bewegungen und Gewalttaten aufklären und wir brauchen Rahmenlehrpläne, die ein ,,Nie wieder!” begreifbar und den damit einhergehenden Auftrag verständlich machen.

 

Jüdinnen*Juden auf dem Campus schützen!

Die Bilder, die uns von Hochschulen aus ganz Deutschland erreichen, sind erschreckend! Veranstaltungen, in denen die Shoah relativiert, zum Genozid aufgerufen oder der Staat Israel und jüdische Studierende zum Ziel antisemitischer Tiraden werden, jüdische Studierende, die davon berichten, dass ihr Campus für sie zu einem Ort des Schreckens geworden ist oder die Verbreitung antisemitischer Hetzschriften – wir haben ein ernsthaftes Problem an unseren Hochschulen!

 

Eben dieses Klima der Angst, welches beispielsweise die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion und Mitglied der Partei Bündnis 90 / Die Grünen Hanna Veiler immer wieder beschreibt, ist erschreckend und offenbart das Versagen der staatlichen Hochschulleitungen. Wir fordern: Kein Zögern bei antisemitischen Vorfällen, die konsequente Anzeige antisemitischer Vorfälle, das Schaffen von Schutz- und Vernetzungsräumen für jüdische Studierende, keine Verallgemeinerungen in der Bewertung und eine effektive, schnelle Durchsetzung des Hausrechts!

 

Wir alle sind gefordert!

„Nie Wieder“ ist jetzt! Hinsichtlich des grassierenden und erstarkenden Antisemitismus bedeutet das: Wir alle sind gefordert, uns schützend vor Jüdinnen*Juden zu stellen, Antisemitismus klar zu widersprechen und uns selbst hinsichtlich antisemitischer Denkmuster und Pauschalisierungen zu hinterfragen. Das ist der unverrückbare Schutzauftrag, den wir alle zu erfüllen haben. Denn aufgrund der aktuellen Ereignisse dürfen wir auch unsere historische Verantwortung zur Shoah nicht vergessen – „Nie wieder ist jetzt“ heißt auch Erinnerungskultur.

 

Daher fordern wir:

  • einen Ausbau der Sicherheitsmaßnahmen und Vorkehrungen für alle jüdischen Einrichtungen, ganz gleich ob technischer oder personeller Art und die komplette Finanzierung dieser durch den Staat
  • ein konsequentes Durchgreifen gegenüber Antisemit*innen in den Sicherheitsbehörden und hierfür notwendige Anpassungen des Disziplinarrechts, die eine Entfernung aus dem Staatsdienst und eine Zerschlagung antisemitischer Strukturen ermöglichen
  • ein Strafrecht, das antisemitische Gewalttaten und Verbrechen als solche klar erkennt und ahndet, sowie eine konsequente Verfolgung antisemitischer Straftaten, die keine Form der Diskriminierung, der Übergriffe und der Hassrede duldet
  • den massiven Ausbau der finanziellen Unterstützung für / Finanzierung von Angeboten und Initiativen der Antisemitismusprävention, der Beratung und der Aufnahme antisemitischer Vorfälle sowie zivilgesellschaftlicher Angebote jüdischer Akteur*innen, Angebote des interreligiösen Dialogs und des zivilgesellschaftlichen Austauschs
  • die Förderung und den Ausbau von Bildungsprogrammen zur Sensibilisierung für und Aufklärung über Antisemitismus in Schulen sowie Angeboten des Jugendamtes und der offenen Kinder- und Jugendarbeit.
  • die Schaffung von Vernetzungs- und Schutzräumen für jüdische Studierende an allen Hochschulen sowie eine konsequente Durchsetzung des Hausrechts im Falle antisemitischer Übergriffe an Hochschulen

 

Antrag 158/I/2024 Guten Morgen, Mayıstero!

21.04.2024

Zwischen Hoffnung und Herausforderung: Das harte Leben der Gastarbeiter*innen in der Bundesrepublik

Mit dem ersten Anwerbeabkommen 1955, welches die BRD unter der Kanzlerschaft Adenauers abgeschlossen hat, kamen Menschen aus Italien in die Bundesrepublik zum Arbeiten. Die mit US-amerikanischen Hilfen boomende Wirtschaft kam an ihr Limit, das sich nur durch die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland versetzen konnte. Aus diesem Grund entschied sich die damalige Koalition aus konservativen Parteien dazu, Menschen aus dem Ausland für Arbeiten in der Bundesrepublik „anzuwerben“. Das deutsch-italienische Abkommen blieb nicht das einzige, es folgten zahlreiche weitere Abkommen mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Die meist, nicht ausgebildeten Menschen übernahmen allerlei Tätigkeiten in Branchen, bei denen die schlechten Arbeitsbedingungen im Vorhinein bekannt waren. Diese menschenunwürdigen Beschäftigungsverhältnisse manifestierten sich in geringem Lohn, illegaler Anstellung zur Umgehung von Sozialversicherungskosten, verweigertem Urlaubsanspruch und einer Unterbringung, die jeglichen Sanitär- und Hygienestandards widerspricht. Noch heute erfahren die Nachfahren der sogenannten „Gastarbeiter*innen“ von den grausamen Lebensumständen ihrer Eltern oder Großeltern, denn die Aufarbeitung seitens der Bundesregierung geschieht kaum bis gar nicht.

 

In Zeiten wirtschaftlicher Rezession wird oft außer Acht gelassen, wie entscheidend die schwere Arbeit der sogenannten „Gastarbeiter*innen“ für den aktuellen und vergangenen Wohlstand war und ist. Trotzdem wird ihr Beitrag häufig unterschätzt oder ignoriert, obwohl er einen wesentlichen Teil zur Stabilität und Prosperität unserer Gesellschaft beigetragen hat. Diese Arbeiter*innen haben oft unter schwierigen Bedingungen gearbeitet, und ihr Einsatz hat dazu beigetragen, viele Lücken in verschiedenen Branchen zu schließen, von der Landwirtschaft bis hin zur Industrie. Ihre Anstrengungen haben nicht nur dazu beigetragen, die Wirtschaft anzukurbeln, sondern auch die kulturelle Vielfalt bereichert und den sozialen Zusammenhalt gestärkt. Es ist wichtig, ihre Beiträge anzuerkennen und zu würdigen, um eine gerechtere und integrativere Gesellschaft zu schaffen, die auf den Prinzipien der Anerkennung und Wertschätzung aller Menschen basiert.

 

Bis heute fehlt die Anerkennung für die immense Leistung und den Beitrag der sogenannten Gastarbeiter*innen, was nicht nur eine Unterbewertung ihrer Arbeit darstellt, sondern auch den rassistischen Charakter des Kapitalismus manifestiert. Diese Arbeiter*innen wurden oft als bloße „Arbeitskräfte“ betrachtet, ohne ihre menschliche Würde und ihre Rechte angemessen anzuerkennen. Zusätzlich äußert sich der rassistische Charakter des Kapitalismus in der Tatsache, dass Gastarbeiter*innen oft aus Ländern rekrutiert wurden, die von europäischen Kolonialmächten unterdrückt wurden oder immer noch unter wirtschaftlicher Ausbeutung leiden. Diese Menschen wurden als „billige Arbeitskräfte“ angesehen und in vielen Fällen unter unzureichenden Bedingungen beschäftigt, ohne angemessenen Schutz oder faire Bezahlung.

 

Rassismus und Kapitalismus sind zwingend miteinander verbunden, da Armut und armutsbedingende Faktoren durch Diskriminierungsmechanismen verstärkt werden. Rassismus existiert jedoch auch über kapitalistische Ausbeutung hinaus. Prinzipiell bedurfte das System eines Narratives, um die Überausbeutung der Gastarbeiter*innen zu rechtfertigen. Indem sie als Fremde und “Geringwertige” bezeichnet und so von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, konnte man die menschenunwürdige Ausbeutung plausibel machen. Diese rassistischen Zuschreibungen waren Ausdruck eines Herrschaftsanspruchs der Gastarbeiter*innen in eine “Pufferfunktion” für das wirtschaftliche System zwingen sollte und prägten den Alltag der Gastarbeiter*innen auch außerhalb der Arbeitsstätte. Diese Formen des Rassismus und der Diskriminierung haben tiefe Spuren hinterlassen und sind bis heute in unserer Gesellschaft präsent.

 

Es ist wichtig anzuerkennen, dass der Erfolg vieler Industrien und Wirtschaftssektoren in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Belgien eng mit der harten Arbeit und dem Engagement von Gastarbeiter*innen verbunden ist. Ohne ihren Beitrag wäre der wirtschaftliche Aufschwung vieler europäischer Länder nicht möglich gewesen. Daher ist es unerlässlich, die Anerkennung für ihre Leistung zu fordern und gleichzeitig aktiv gegen rassistische Strukturen und Vorurteile vorzugehen. Nur durch eine konsequente Ablehnung von Rassismus in allen seinen Formen können wir eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft schaffen, in der die Würde und die Rechte aller Menschen geachtet werden.

 

Vor allem unsere Stadt wird wie keine andere mit dem Wirken der Gastarbeitenden in Verbindung gebracht. Die Geschichte ganzer Bezirke basiert maßgeblich auf dem kulturellen und alltäglichen Leben dieser Menschen. Kreuzberg und Neukölln sind Beispiele dafür, wie sich die Präsenz von Gastarbeiter*innen im Stadtbild manifestiert. Die Entstehung von „Kiezen“ mit türkischen, arabischen oder italienischen Geschäften, Restaurants und Orte, religiöser Wichtigkeit spiegelt die Vielfalt und den Einfluss dieser Gemeinschaften wider. Doch ihr Einfluss erstreckt sich weit über diesen Bereich hinaus. Die Spuren ihrer Arbeit sind auch in der Architektur zu finden, sei es durch den Bau von Wohnhäusern, Fabriken oder öffentlichen Einrichtungen. Darüber hinaus prägen sie das kulturelle Leben der Stadt durch Festivals, Märkte und kulturelle Veranstaltungen, die ihre Traditionen und Bräuche zelebrieren. Die Gastarbeitenden haben nicht nur zur wirtschaftlichen Entwicklung Berlins, sondern auch zu einem Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammenhalts beigetragen, indem sie Solidarität untereinander sowie mit den Einheimischen gefördert haben. Ihre Erfahrungen und Geschichten sind integraler Bestandteil der Berliner Identität und erinnern uns daran, dass unsere Stadt auf dem Einsatz und den Beiträgen von Menschen verschiedener Herkunft und Kulturen aufgebaut ist.

 

Ein Vertrag von dem nur eine Seite profitierte…

Auch in der damaligen DDR wurden Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben. Unter dem Vorwand der Ausbildung im sozialistischen Bruderstaat wurden Menschen, nach neoimperialistischer Ideologie, für den eigenen Zweck ausgebeutet. Insbesondere aus Ländern wie Vietnam, Mosambik und Kuba wurden Arbeiter*innen angeworben, um den Arbeitskräftemangel in verschiedenen Sektoren zu beheben, sei es in der Industrie, der Landwirtschaft oder im Baugewerbe. Diese Praxis der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften war jedoch nicht frei von Problemen und Widersprüchen. Obwohl offiziell als solidarischer Akt dargestellt, diente sie auch dazu, die wirtschaftlichen Interessen der DDR zu fördern und die eigene Produktivität zu steigern. Die Arbeitsbedingungen für diese ausländischen Arbeitskräfte waren oft unzureichend, und sie wurden häufig schlechter bezahlt als ihre einheimischen Kolleg*innen. Darüber hinaus wurden sie oft von der Gesellschaft isoliert und hatten begrenzte Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe. Diese Praxis der Anwerbung von Vertragsarbeiter*innen in der DDR verdeutlicht, wie auch in sozialistischen Systemen die Ausbeutung von Arbeitskräften im Namen des Staates und seiner ideologischen Ziele stattfand. Sie zeigt auch, wie Ideologie und politische Interessen oft dazu verwendet wurden, um die Rechte und Würde der Arbeitenden zu unterdrücken und auszubeuten. Zudem wird dadurch auch deutlich, dass die Diskriminierung migrantisierter Menschen, und auch Rassismus, den BIPoCs erleben, auch in anderen Wirtschaftsformen stattfindet.

 

Deshalb fordern wir:

  • Die ernstzunehmende Auseinandersetzung und die Verstetigung der Auseinandersetzung mit dem Leben der sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter*innen innerhalb unseres Verbandes, aber auch gesellschaftlich.
  • Ausweitung von Orten der Begegnung verschiedener Generationen von sog. Gastarbeitenden und ihren Nachkommen
  • Die Einführung eines wiederkehrenden Feiertags für die Verabschiedung zahlreicher Anwerbeabkommen. Ein mögliches Datum wäre der 30. Oktober 1961, der Tag, an dem das deutsch-türkische Anwerbeabkommen beschlossen wurde. Vor allem dieses Anwerbeabkommen prägt das Stadtbild noch bis heute.
  • Vorbereitung und Durchführung eines Staatsaktes zum 65.-jährigen Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens
  • Die historische Auseinandersetzung mit dem Unrecht, dass den Vertragsarbeiter*innen in der DDR widerfuhr

 

Antrag 189/I/2024 Betroffene von sexualisierter und häuslicher Gewalt besser schützen!

21.04.2024

Wenn es darum geht, unser Rechtssystem zu bewerten, muss dieses sich immer auch daran messen lassen, wie mit Opfern von Straftaten umgegangen wird. Es sollte selbstverständlich sein, dass gerade diejenigen, die Opfer einer Straftat werden, besonderen Schutz bekommen. Gerade Opfer von sexualisierter und häuslicher Gewalt werden allerdings nicht ausreichend geschützt. Die Zahl der Betroffenen von sexualisierter und häuslicher Gewalt steigt jedes Jahr an und betrifft besonders FINTA (Frauen*, Inter*, nicht-binäre und Trans*Personen). So wird fast alle zwei Minuten ein Mensch in Deutschland Opfer von häuslicher Gewalt. Jede Stunde werden mehr als 14 FINTA Opfer von Partnerschaftsgewalt. Gleichzeitig gibt es bundesweit pro Jahr mehr als 13.000 Anzeigen wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung – die Dunkelziffer nicht zur Anzege gebrachter Straftaten in diesem Bereich liegt vermutlich deutlich höher. Tagtäglich sehen sich FINTA mit sexuellen Übergriffen konfrontiert. Diese reichen von sexuellen Anspielungen und Blicken bis hin zu übergriffigen Nachrichten und Berührungen. Das Patriarchat wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Für das Justizsystem, welches maßgeblich von Männern für Männer schaffen wurde, gilt dies in besonderer Weise. Die strukturelle Misogynie und patriarchale Strukturen müssen dort und überall zerschlagen werden. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen muss dem Schutz der Opfer deswegen dringend mehr Aufmerksamkeit zukommen.

 

Retraumatisierende Vernehmungen verhindern

Oftmals werden Betroffene von sexualisierter Gewalt bei ihren Aussagen, die im Rahmen eines Gerichtsverfahrens notwendig sind, retraumatisiert. Jede Aussage führt zu einer erneuten Konfrontation mit dem Geschehenen. Und selbst, wenn es dann zu einem Urteil kommt, ist es in der Regel so, dass das Verfahren in einer höheren Instanz erneut verhandelt wird, sodass dann erneut eine Aussage gemacht werden muss. Um den Betroffenen eine Aussage vor Gericht in mehreren Instanzen zu ersparen, wurde 2013 die Möglichkeit geschaffen, dass Verfahren, bei denen die mehrfache Befragung der Betroffenen zu erheblichen psychischen Belastungen führen kann, nicht beim Amtsgericht, sondern direkt beim höher instanzlichen Landgericht starten. In der Realität wird  diese Möglichkeit aber aufgrund von fehlenden Ressourcen und Personalmangel an den Landgerichten nicht genutzt. Vielmehr wird fast immer beim Amtsgericht angeklagt, sodass es in aller Regel zu Verfahren in zwei Instanzen kommt und die betroffene Person dann auch zweimal aussagen muss. Wir fordern daher, dass die Landgerichte besser ausgestattet werden, sodass eine zusätzliche Retraumatisierung mit allen Mitteln verhindert wird. Dieser Zweck kann auch durch eine konsequente Anwendung des § 58a StPO erreicht werden, indem die Aussage bereits bei der Vernehmung aufgezeichnet wird und bei der Gerichtsverhandlung abgespielt werden kann.

 

Psychische Belastung bei Gewaltschutzverfügungen verringern

In Deutschland finden jährlich zahlreiche Gewaltschutzverfahren statt, in denen Opfer von häuslicher oder sexualisierter Gewalt versuchen, Schutzmaßnahmen zu erwirken. Dabei besteht das deutliche Problem, dass bei Anhörungen im Rahmen dieser Verfahren die Betroffenen in der Regel gemeinsam mit den Täter*innen vor Gericht erscheinen müssen. Dies kann zu erheblichen psychischen Belastungen führen, da die Opfer direkt mit demjenigen konfrontiert werden, vor denen sie sich fürchten. Oftmals leiden die Betroffenen schon lange vor dem eigentlichen Tag der Anhörung vor wiederkehrenden Panikattacken und Schlafproblemen. Es besteht zwar die Möglichkeit, eine getrennte Anhörung zu beantragen, dies wird allerdings von den Gerichten häufig mit dem Verweis auf einen höheren Aufwand abgelehnt. Die potentielle Retraumatiseriung und der Stress, dem die Betroffenen ausgesetzt sind, wird häufig ignoriert.

Wir fordern deshalb, dass es auf Antrag der betroffenen Person, der nicht weiter begründet werden muss, ein Recht auf getrennte Anhörung gibt!

 

Häusliche Gewalt endlich auch vor den Familiengerichten berücksichtigen!

Ein weiteres Problem sehen wir darin, dass bei Familiengerichten häusliche Gewalt von den Richter*innen bei ihren Entscheidungen nicht angemessen berücksichtigt wird. Streiten sich etwa zwei Eltern um das Sorgerecht für ihr gemeinsames Kind, wird von häuslicher Gewalt betroffenen Partner*innen oft empfohlen diese Gewalt vor den Gerichten nicht anzusprechen, weil es ihnen von Richter*innenseite häufig negativ ausgelegt wird. So wird dann nicht selten behauptet, dass die häusliche Gewalt nur angesprochen wird, um die andere Person zu diskreditieren. Wird die Gewalt doch angesprochen, spielt sie für die Entscheidung im Sorgerecht keine große Rolle. Häufig wird von den Richter*innen argumentiert, dass die Gewalt ein Phänomen sei, was sich nur zwischen den Partner*innen abspielen würde und Gewalt gegen die Kinder nicht denkbar sei. Es zeigt sich aber, dass das in der Regel nicht stimmt und die Kinder dann auch häufig Opfer von häuslicher Gewalt werden. Darüber hinaus wird das betroffene Elternteil durch den gemeinsamen Umgang der weiteren Gefahr von Übergriffen ausgesetzt. In der Abwägung wird eine mögliche Entfremdung des Kindes zu einem Elternteil, oftmals dem Vater, mehr Gewicht zugestanden, als die mögliche Gefahr von körperlichen Übergriffen dem Kind oder dem betroffenen Elternteil gegenüber. Das Recht der Eltern über ihre Kinder, wird in Deutschland immer noch über das Recht des Kindes auf ein unversehrtes Leben gestellt. Das kann nicht sein!

 

Diese Fehleinschätzung kommt auch davon, dass die Richter*innen sich zwar juristisch mit dem Familienrecht gut auskennen, aber keine besonderen Schulungen oder Fortbildungen im Zusammenhang mit sexualisierter und häuslicher Gewalt bekommen. Dies ist etwa bei Jugendrichter*innen anders. Diese erlernen neben den rechtlichen Grundlagen auch den besonderen Umgang mit Jugendlichen und den gesellschaftlichen Kontext von Jugendkriminalität.

 

Wir fordern daher, dass Familienrichter*innen eine verbindliche Schulung, in der die sozialen Bedingungen und unterschiedlichen Erscheinungsformen von sexualisierter und häuslicher Gewalt gelehrt werden, besucht haben müssen. Außerdem muss es regelmäßige Fortbildungen geben.

 

Zusammenfassend fordern wir daher,

  • dass die Landgerichte besser ausgestattet werden und die Möglichkeit Verfahren wegen sexualisierter Gewalt vor den Landgerichten anzuklagen konsequent genutzt wird
  • dass es auf Antrag der betroffenen Person, der nicht weiter begründet werden muss, ein Recht auf getrennte Anhörung gibt
  • dass alle Personen, die Opfer von sexualisierter oder häuslicher Gewalt auf dem Weg von der Anzeige bis zum Gerichtsverfahren betreuen, wie Polizist*innen, Ärzt*innen oder Familienrichter*innen vor Ausübung ihres Amtes besondere Schulungen zu dem Thema der sexualisierten und häuslichen Gewalt besuchen und ihr Wissen in regelmäßigen Fortbildungen erneuern müssen
  • Umfassende Forschung zu den Folgen von erzwungenem Umgang auf die Opfer und deren Kinder
  • dass das Recht von Kindern auf ein unversehrtes Leben größer ist, als das der Eltern über sie verfügen zu können

 

Antrag 109/I/2024 Für mehr Diversität in Post-Conflict Settings - Verpflichtende Beteiligung von FINTA in Friedensprozessen

21.04.2024

Die Notwendigkeit einer feministischen Außenpolitik, die die menschliche Sicherheit in den Fokus stellt, hat angesichts der zahlreichen Krisen kein Stück ihrer Bedeutung verloren. Um menschliche Sicherheit nachhaltig zu gewährleisten, braucht es die Beteiligung aller marginalisierten und systematisch benachteiligten Gruppen an Friedensprozessen.

 

Es wurde bereits bewiesen, dass die Beteiligung von Frauen in Friedensprozessen zu besserem Regierungshandeln (“Governance”) und nachhaltigerem Frieden führt. Auch forderten die Vereinten Nationen mit der Sicherheitsratsresolution 1325 bereits im Jahr 2000 die Einbeziehung von Frauen in die Prävention, das Management und die Konfliktlösung. Diese Resolution verpflichtet Staaten dazu, Frauen und ihre Perspektiven in alle Bereiche des Friedensprozesses einzubeziehen und dabei ihre besonderen Erfahrungen in Konflikten anzuerkennen. Über 20 Jahre nach dieser bedeutenden Resolution sind Frauen immer noch wenig und unterproportional an Friedensprozessen beteiligt. FINTA, also Frauen, Inter-, Nichtbinäre*, Trans- und Agender-Personen, sowie andere marginalisierte Gruppen erhalten bisher wenig bis gar keine besondere Aufmerksamkeit in politischen Entscheidungsgremien. Dies führt dazu, dass deren wichtige Sichtweisen und besondere Herausforderungen meist nicht am Verhandlungstisch diskutiert werden. Durch diese fehlenden Perspektiven kann umfassende menschliche Sicherheit nicht erreicht werden.

 

Häufig sind es insbesondere weiblich sozialisierte Menschen, die in Gemeinschaften eine proaktive soziale Rolle einnehmen: Auch wenn wir eine solche traditionelle Rollenaufteilung bekämpfen und eine gleichberechtigte Aufteilung, unabhängig von Geschlechtern anstreben, kümmern sich besonders in patriarchalen Gesellschaften kümmern noch zumeist Frauen um Kinder und andere Familien- und Gesellschaftsmitglieder. Durch häufig vorkommende Interaktionen mit anderen marginalisierten Gruppen sowie aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit von systematischer Diskriminierung sind FINTA häufig die Herausforderungen und Schwierigkeiten marginalisierter Gruppen und Individuen bekannt. Dadurch, dass die Gruppe FINTA für Diskriminierungen eher sensibilisiert ist, sollten FINTA auch als Mediator*innen eingesetzt werden.

 

Durch die Beteiligung von FINTA Personen an Entscheidungsgremien wie Friedensverhandlungen kann also besser gewährleistet werden, dass die Perspektiven und Situationen marginalisierter Gruppen mitgedacht werden. Hierbei muss beachtet werden, dass es nicht ausreicht, eine Gruppe Frauen als Repräsentantinnen von FINTA einzuladen. Vielmehr braucht es die Beteiligung von FINTA möglichst in ALLEN am Friedensprozess beteiligten Gruppen und Parteien. Denn FINTA sind keine homogene Gruppe, die durch eine einzige Delegation an Frauen ausreichend repräsentiert ist. Die kann vielleicht durch folgendes Bild verdeutlicht werden: Cis-Männer sind in der Regel in allen an Verhandlungen beteiligten Parteien zu finden. Frauen werden oftmals scheinbar nur pro forma als eine zusätzliche Gruppe oder Partei eingeladen und nicht gleichwertig in die Prozesse eingebunden. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, von Cis-Männern zu verlangen, nur in einer Gruppe vertreten zu sein, da damit ja “deren Perspektive bereits abgedeckt” sei.

 

Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft und damit auch mehr FINTA-Personen in Friedensprozessen zu länger anhaltendem Frieden führt. Die Beteiligung von unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Gruppen ist wichtig, da diese als Repräsentant*innen und Vermittler*innen von marginalisierten Gruppen in der Bevölkerung dienen kann. Werden nämlich FINTA nur als Teil politischer Delegationen in Friedensverhandlungen einbezogen, besteht die Gefahr, dass wichtige Perspektiven fehlen. Denn FINTA in politischen Delegationen sind meist hochrangige Politiker*innen oder international bekannte und häufig gut ausgebildete Personen, die nicht immer mit FINTA aus der lokalen Bevölkerung gleichgesetzt werden können. Auch hier besteht also die Gefahr, nicht ausreichend die Diversität und Vielseitigkeit der FINTA abzubilden, was zu einer Reduktion an menschlicher Sicherheit aufgrund fehlender Perspektiven führen kann.

 

Wir fordern daher die Bundesregierung dazu auf, in allen Projekten, an denen sie beteiligt ist durch Friedens- oder Militärmissionen oder durch Entwicklungszusammenarbeit, alles in ihrer Möglichkeit zu tun, um folgendes sicherzustellen:

  • die Beteiligung von FINTA an Friedensprozessen (langfristig auch von allen anderen marginalisierten Gruppen) mit einer Quote von mind. 50%, möglichst in allen beteiligten Parteien.
  • die Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, insbesondere von Organisationen, die sich für die Rechte marginalisierter Gruppen einsetzen.
  • dass die Gruppe an Mediator*innen in jedem Friedensprozess mindestens eine FINTA umfasst. Sollte es nur eine/n Mediator*in geben und aus Sicht der Organisator*innen keine FINTA infrage kommen, muss dies schlüssig und öffentlich begründet werden. Zudem sollte mit der Gesamtanzahl an Mediator*innen auch die Anzahl an FINTA als Mediator*innen steigen.
  • Dieerpflichtenden Beratungsterminen mit unterschiedlichen lokalen Organisationen, die FINTA und marginalisierte Gruppen repräsentieren, um möglicher Homogenität, die durch die Quote entstehen könnte, vorzubeugen