Schon mal von den Kopenhagener-Kriterien gehört? 1993 hat der Europäische Rat in Kopenhagen Kriterien formuliert, die ein Land erfüllen muss, um Mitglied der Europäischen Union (EU) zu werden. Darunter fällt auch dieses Kriterium: “Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten”. Zusätzlich sind sie auch als Grundwerte der Union in Artikel 2 des EU-Vertrags aufgelistet. Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung von Menschenrechten sollten also selbstverständlich sein in der EU. Leider ist das nicht der Fall und wir sehen seit Jahren, wie in einigen EU-Ländern der Rechtsstaat systematisch angegriffen wird. Angriffe auf die Medienfreiheit in Ungarn, Einflussnahme auf die Justiz und LGBTIQ-freie Zonen in Polen, Pushbacks von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen in Griechenland oder Angriffe auf Journalist*innen auf Malta und in der Slowakei – das sind nur einige Beispiele dafür, wie schlecht es in der EU um den Rechtsstaat steht.
Die Rechtsstaatlichkeit, verankert in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union, ist ein Grundprinzip der Union und maßgebend für den Schutz der EU Grundwerte. Besonders der Schutz von Grundrechten und Demokratie ist hier zentral. Für die Funktionsweise der Europäischen Union ist die Rechtsstaatlichkeit also ein entscheidender Faktor. Rechtsstaatlichkeit beruht auf einem wirksamen Rechtsschutz, der nur von einer unabhängigen, hochwertigen und effizienten Justiz gewährleistet werden kann. Denn die EU ist mehr als nur ein gemeinsamer Binnen- und Arbeitsmarkt. Sowohl die Beitrittskriterien als auch die EU-Verträge, die für alle Mitgliedsstaaten gelten, machen klar, dass die EU eine Wertegemeinschaft ist. Die gemeinsamen Grundwerte ermöglichen es erst, dass die Zusammenarbeit in allen politischen und wirtschaftlichen Bereichen funktioniert.
Und was tut die EU gegen eine Aushöhlung dieses Prinzips? Laut dem EU-Recht gab es bisher zwei Möglichkeiten, um gegen Angriffe auf den Rechtsstaat vorzugehen. Zum einen, steht der EU das sogenannte Artikel 7-Verfahren zur Verfügung. Es umfasst zwei Mechanismen: Präventionsmaßnahmen im Falle einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Werte, und Sanktionen, wenn eine solche Verletzung bereits stattgefunden hat. Die möglichen Sanktionen gegen den betroffenen Mitgliedstaat sind in den EU-Verträgen nicht klar definiert, aber eine mögliche Sanktion besteht darin, dass der betroffene Staat seine Stimmrechte im Europäischen Rat verliert. Es gibt allerdings einen Haken: um die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit oder anderer EU-Grundwerte festzustellen, braucht es eine einstimmige Entscheidung der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat.
Seit vielen Jahren gibt es nicht nur einen Regierungschef in der EU, der es mit der Demokratie und dem Rechtsstaat nicht so eng sieht. Somit ist dieses Instrument nutzlos geworden, da sich nationalkonservative Regierungen gegenseitig decken und eine Sanktionierung unmöglich machen. Zum anderen, kann die Europäische Kommission im sogenannten Vertragsverletzungsverfahren den Europäischen Gerichtshof beauftragen, zu überprüfen, ob einzelne Mitgliedsstaaten das EU-Recht nicht umsetzen. Der Gerichtshof kann die Länder dann zu Geldstrafen verurteilen. So geschehen ist das im Fall von Polen, wo mit einem umstrittenen Justizgesetz die Unabhängigkeit von Richter*innen eingeschränkt wurde. Am 8. September hat die Kommission nun beim Gerichtshof beantragt, Strafen gegen Polen zu verhängen. Das hat alles sehr lange gedauert und es ist erschreckend, wie wenig Einfluss das Europäische Parlament, die einzige direkt demokratisch legitimierte Institution in der EU, auf den Schutz der Rechtsstaatlichkeit hat. Die S&D-Fraktion, also die Sozialist*innen und Sozialdemokrat*innen im Europaparlament, haben deshalb bereits im Januar 2020 gefordert, dass im zukünftigen Haushalt der EU die Auszahlung von Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft sein soll.
Dieser Rechtsstaatsmechanismus ist am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Und wieso wurden noch keine Sanktionen verhängt? Das liegt daran, dass die Kommission für die Umsetzung des Mechanismus verantwortlich ist: als “Hüterin der EU-Verträge” ist es ihre Aufgabe, Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten festzustellen, deren Regierungen zu verwarnen und anschließend die Kürzung von EU-Geldern zu veranlassen. Das passiert allerdings, 10 Monate nach Inkrafttreten des Mechanismus, immer noch nicht, weil die Kommission warten will, bis der EuGH den Mechanismus für rechtmäßig erklärt. Und das, obwohl dieser Mechanismus von den gesetzgebenden Institutionen der EU beschlossen wurde.
Kurz gesagt: es passiert immernoch nichts. Das Europäische Parlament hat deshalb im Juli mehrheitlich beschlossen, dass eine Klage wegen Untätigkeit gegen die Kommission in die Wege geleitet wird. Und JETZT? Immer noch ist Warten angesagt, bis die Kommission endlich handelt. Wir brauchen jetzt keine Rechtsstaatsmonitorings oder alarmierte Reden mehr. Viele Menschen in der EU oder an den Außengrenzen der EU, sind dringend darauf angewiesen, dass der Rechtsstaat sie vor Willkür und Angriffen schützt.
Die Kommission ist die Hüterin der Verträge und muss daher konsequent Handeln und diese durchsetzen. Inkonsequentes Auftreten führt zu Missbrauch von Grauzonen und Schaffung von Präzedenzfällen, die zu Nachahmungen animieren können – siehe das Auftreten Ungarns und Polens. Jegliche Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Europäischen Union müssen zielgerichtet geahndet werden, um eine Untergrabung dessen zu vermeiden. Es ist nicht hinnehmbar, dass Regierungen bestimmter Länder immer wieder die Grenzen des Machbaren austesten, keinerlei Sanktionen fürchten müssen und die EU als reine geldgebende Institution sehen, anstatt einer Wertegemeinschaft. Die Kommission setzt mit ihrer Hinhaltetaktik nicht nur das Leben unzähliger Menschen aufs Spiel, sie delegitimiert sich mit ihrer aktuellen Haltung auch als “Hüterin der Verträge”. Die Bezeichnung als Wertegemeinschaft darf keine Worthülse bleiben, es muss aktiv daran gearbeitet werden diese wichtige Errungenschaft zu schützen.
- Konsequenzen müssen sich deshalb zum einen nicht nur in Worten und Abmahnungen zeigen, sondern auch in Taten widerspiegeln: dabei müssen Regierungen, die Vertragsverletzungen wissentlich eingehen, schlussendlich die Auswirkungen ihres Handelns spüren und mit Sanktionen belegt werden. Wichtig ist, dass Sanktionen sich nicht auf Gesellschaftliche Projekte und deren Förderung auswirken, wie beispielsweise das Erasmus Programm oder viele weitere Orte, an denen die europäische Gemeinschaft zusammenwächst und gerade auch junge Menschen die EU leben. Dies wäre gesellschaftsschädigend und nicht zielführend.
- Die Änderung der EU-Verträge wäre ein bedeutender Schritt, denn die letzte Vertragsänderung ist bereits 14 Jahre her. Die Sackgasse, in der sich die EU im Bereich der Rechtsstaatlichkeit befindet, macht aber deutlich, wie dringend wir diesen Schritt, mit neuen Sanktionsmechanismen brauchen. Dies kann auch in Form einer Beschneidung des Kohäsionsfonds (wichtiger EU-Fonds zum Ausgleich der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit) oder Agrarfonds stattfinden, also Mitteln, mit denen sich benannte Regierungen viel Gunst auf Kosten der Europäischen Gemeinschaft erwirtschaften.
- Eine Änderung der EU-Verträge muss enthalten, dass dem Europäischen Parlament, als einziger direkt demokratisch legitimierter Institution, die notwendigen Rechte und Befugnisse – wie u. a. das Initiativrecht eingeräumt werden, um im Vorgehen gegen Rechtsstaatsverstöße eigenständig Voraussetzungen formulieren zu können, die vorsehen wann die Kommission einschreiten muss. Neben der Kommission soll auch das Parlament beschließen können, dass gegen einzelne Mitgliedsstaaten Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union nach dem Rechtsstaatsmechanismus ergriffen werden können. Die Vertreter*innen der EU-Bürger*innen sollten auch als Hüter*innen der EU-Verträge handeln können!
- Das Einstimmigkeitsprinzip soll bei der Feststellung schwerwiegender und anhaltender Verletzung der Grundwerte der Union (Art.7-Verfahren) keine Anwendung mehr finden und durch das Prinzip der doppelten Mehrheit oder durch ähnliche Konzepte, die eine Sperrminorität autoritäter Demokratien verhindern, ausgetauscht werden.
- Außerdem sollen zivilgesellschaftliche Organisationen ein Verbandsklagerecht erhalten, um die Kommission oder das Parlament auf Untätigkeit zu verklagen, falls der Rechtsstaatsmechanismus nicht konsequent angewendet wird.
- Die Bundesregierung soll, wenn sie von Missständen betreffend die Rechtsstaatlichkeit in einzelnen Mitgliedstaaten erfährt, die gegen das Unionsrecht verstoßen könnten, selbstständig ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn absehbar ist, dass die Kommission ein solches nicht anstrebt.
- Deutschland und die EU sollen vermehrt mit Geldmitteln zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen, die sich gegen rechtsautoritäre Regime innerhalb der Union stellen.
- Bis zur Änderung der EU-Verträge fordern wir von den sozialistischen und sozialdemokratischen Mitgliedern in den europäischen Institutionen, insbesondere von den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat, sich stärker für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit einzusetzen und in den Institutionen den politischen Druck zu erhöhen. Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, dass alle Mitgliedsparteien der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE/PES) sich für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedsstaaten und der gesamten EU einsetzen. Denn auch in unserer Parteienfamilie gibt es an einigen Stellen noch entsprechenden Nachholbedarf.
Deutschland ist ein bedeutender Akteur innerhalb der EU und muss auch als ein solcher konsequent mit ihren Partner*innen handeln. Die nächste Bundesregierung muss auf ein zielgerichtetes Handeln der Kommission einwirken und Teil der Lösung sein!
LPT II/2021: vertagt LPT/I/2022 zur Erarbeitung einer Neufassung
LPT I-2022: vertagt
Stellungnahme FA II EU-Angelegenheiten:
Auf dem LPT wurde beschlossen, diesen Antrag (48/II/2021) sowie zwei weitere Anträge (50/II/2021 der KDV TS sowie 49/II/2021 der Jusos LDK), die alle das Thema „Rechtsstaatlichkeit Polen/Ungarn“ behandeln, auf den jetzt kommenden LPT zu vertagen. Bis dahin sollten alle drei Anträge von einer Projektgruppe überarbeitet und zu einem Antrag zusammengefasst werden. Leider haben wir jedoch bisher noch keine Rückmeldung der anderen Antragsteller erhalten. Daher hat der FA Europa – auch angesichts der aktuellen Lage – dafür votiert, die drei Anträge (inkl. unseres eigenen) erneut zurückzustellen und erst beim zweiten LPT einen gemeinsamen überarbeiteten Antrag einzubringen.