Antrag 207/II/2022 Jenseits von Wasserstoffträumen – Endverbraucher*innen aller Länder, elektrifiziert euch!

Eine erfolgreiche soziale Klimaschutzstrategie bedarf nicht nur des beschleunigten Ausbaus der erneuerbaren und Abbau der fossilen Energie, sondern auch eines strategischen und wissenschaftlich fundierten Einsatzes neuer Technologien in den richtigen Wirtschaftsbranchen. Dazu gehört eine realistische Wasserstoffstrategie frei von technologischen Fantasien und unangebrachtem Optimismus.

 

Wasserstoff stellt ein massives Problem für die Dekarbonisierung dar, welches bisher im öffentlichen Diskurs kaum thematisiert wird oder falls doch, dann in Verbindung mit fantastischen Erzählungen und unrealistischen Zukunftsvisionen der mächtigen Gaslobby zum Erhalt ihrer Industrie.

 

99 % des aktuellen Bedarfs von Wasserstoff entsteht durch die Industrieprozesse, in welchen er unter anderem als Chemierohstoff und in der Herstellung von Düngemitteln angewendet wird. Aktuell deckt die sogenannte „graue“ Quelle durch Methan-Dampfreformierung von Erdgas den weltweiten Wasserstoffbedarf fast ausschließlich ab. Dieser Prozess ist äußerst energieintensiv, sodass die Verbrennung grauen Wasserstoffs vielfach klimaschädlicher ist als die einfache Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle. Grauer Wasserstoff macht in seiner industriellen Endnutzung aktuell ungefähr 3 % der weltweiten Treibhausgasemissionen aus, einen ähnlichen Anteil wie der Flugverkehr.

 

Bei der Herstellung von „blauem“ Wasserstoff aus fossilen Quellen mit Kohlenstoffsequestrierung entstehen durch den Austritt von Methan im Gastransit sowie unzureichende Sequestrierungstechnologie erhebliche Effizienzlücken. Die Verbrennung blauen Wasserstoffs kann also immer noch bis zu 20 % treibhausgasintensiver sein als die Verbrennung von Erdgas. Die Erfassung und Verringerung von den genauen Emissionen dieser Wasserstoffquelle sind äußerst komplex und könnten Jahre dauern.

 

Die einzig erneuerbare Quelle von Wasserstoff ist die Elektrolyse von Wasser anhand erneuerbaren Stroms, wobei die relevanten Technologien noch im Frühstadium sind und der Strombedarf für eine Dekarbonisierung des heutigen Wasserstoffbedarfs fast der dreifachen Menge an Wind- und Solarstrom bedürfte, die die Welt 2019 produziert hat.

 

Viele Regierungen setzen auf Wasserstoff als Zukunftstechnologie, ohne zwischen den unterschiedlichen technologischen und geographischen Quellen zu differenzieren und/oder die prioritären Wirtschaftsbranchen für dessen Endverbrauch zu definieren, wo günstigere, effizientere und sozial vertretbare Lösungen bereits bestehen.

 

Die Ampelregierung verlässt sich in ihrer Klimaschutzstrategie ebenfalls auf grünen Wasserstoff und setzt sich eine Elektrolysekapazität von rund 10 Gigawatt im Jahr 2030 zum Ziel. Im Koalitionsvertrag 2021 steht, dass grüner Wasserstoff vorrangig in den Wirtschaftssektoren genutzt werden sollte, in denen es nicht möglich ist, Verfahren und Prozesse durch eine direkte Elektrifizierung auf Treibhausgasneutralität umzustellen. Parallel sieht der Koalitionsvertrag jedoch die Errichtung moderner Gaskraftwerke mit Kapazität zur Umstellung auf klimaneutrale Gase, d.h. die Verbrennung grünen Wasserstoffs zur Stromerzeugung, vor.

 

Auch bei den modernsten Elektrolyseanlagen entsteht eine Effizienzlücke von ungefähr 20 % und bei der Verbrennung der Derivate geht weitere Energie verloren, sodass die Wiedergewinnung grünen Stroms aus grünem Wasserstoff mit entsprechenden Kosten verbunden ist. Die Verbrennung von grünem Wasserstoff außerhalb seiner bestehenden industriellen Einsätze und beschränkter sonstiger zukünftiger Nutzungen wie etwa im Luft- und Schiffsverkehr ist also aufgrund der daraus entstehenden Kosten weder klimapolitisch noch sozial vertretbar.

 

Wir fordern daher:

 

  • die weitreichende, schnelle und direkte Elektrifizierung als Grundsatz unserer Klimaschutz- und Energiepolitik. Das Versprechen vom grünen Wasserstoff soll nicht von mächtigen Lobbys dafür missbraucht werden, die Elektrifizierung von Wärme und Verkehr durch bereits bestehende Technologien zu verzögern und damit die Gewinne der Fossilindustrie noch bis 2050 zu maximieren.
  • wertvollen grünen Wasserstoff sollte man ausschließlich in schwer dekarbonisierbaren Sektoren zu nutzen, wo Wasserstoff gesellschaftlich und ökologisch nützlich sowie technologisch unverzichtbar ist.
  • die Verbrennung von grünem Wasserstoff zur Stromerzeugung nur in den Fällen zu erlauben, wo die Herstellung dessen Speicherkapazität zum Ausgleich saisonaler Schwankungen in der erneuerbaren Energie anbietet.
  • die Einspeisung von grünem Wasserstoff ins allgemeine Gasleitungsnetz abzulehnen. Stattdessen sollten in geeigneten Fällen die Hausheizung entkarbonisiert und Haushalte von Kosten entlastet werden, indem die Abwärme von der wasserstoffbetriebenen Produktion in Fern- und Nahwärmenetzwerke genutzt wird. Hierfür fordern wir die Investition in leistungsstarke Wärmespeicher, um eine stabile Energielieferung zu sichern.

 

 

Empfehlung der Antragskommission:
Überweisung an: Als Material an Landesgruppe Berlin (Konsens)
Fassung der Antragskommission:

Empfehlung FA X: Annahme mit folgender Änderung:

Das Thema ist ernst und wichtig. Einem “Wasserstoffhype” unter Nutzung nicht-grünen Wasserstoffs ist entgegenzutreten. Der Antrag ergänzt sich mit dem beschlossenen Antrag 207/I/2020. Der Titel sollte ernsthafter klingen, etwa “Wasserstoff ausschliesslich grün und wo notwendig”. Ferner empfehlen wir einen Umbau des Antrags, mit einer kurzen Präambel zu Beginn (etwa “Eine erfolgreiche” bis “Optimismus”), dann der Forderung, danach dem Rest des Textes als Begründung.

Stellungnahme(n):
Stellungnahme Landesgruppe 2024:

Bis spätestens 2045 wollen wir klimaneutral wirtschaften und leben. Wir sind deshalb in allen Bereichen auf die Bereitstellung von klimaneutraler Energie angewiesen. Eine ausschließlich strombasierte Energieversorgung ist dabei allerdings nicht in allen Bereichen erreichbar. Grüner Wasserstoff und dessen Derivate werden daher bei der umfassenden Transformation unseres Wirtschaftssystems eine wichtige Rolle übernehmen – vor allem um erneuerbare Energie zu speichern und zu transportieren und um Industrieprozesse zu dekarbonisieren.

Für die SPD-Bundestagsfraktion ist indessen auch klar: Wenn man die Gesamtsystemeffizienz, Versorgungssicherheit, volkswirtschaftliche und umweltbezogene Aspekte berücksichtigt, stellt die direkte Verwendung von Strom (wie bei Elektromobilität und Wärmepumpen) im Vergleich zur Wasserstoffnutzung die wirtschaftlichere Option dar, da sie mit geringeren Umwandlungsverlusten verbunden ist. Daher sollte sie nach Möglichkeit bevorzugt eingesetzt werden.

In der Fortschreibung der Nationalen Wasserstoffstrategie, die im Juli 2023 im Bundeskabinett beschlossen und daraufhin im Deutschen Bundestag beraten worden ist, findet diese Prämisse entsprechend Einzug1. Im Zuge der Transformation wird die sogenannte Sektorenkopplung, durch die zunehmend erneuerbarer Strom in den Bereichen Gebäude, Verkehr und Industrie zur Verfügung stehen wird, wachsende Bedeutung erfahren. Entsprechend wird die Einspeisung von Wasserstoff in das allgemeine Gasnetz nach derzeitigem Kenntnisstand auch langfristig eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Stattdessen haben wir uns aktiv für einen schnellen Aufbau eines Wasserstoff- Leitungsnetzes (sog. „Kernnetz“) eingesetzt, welches Elektrolyseure und Importeure mit wichtigen Industriestandorten verbinden soll (vgl. § 28r Abs.1 EnWG). Der Einsatz von grünem Wasserstoff in der dezentralen Wärmeversorgung ist mit Blick auf die Nutzungskonkurrenz mit den Sektoren Industrie und Verkehr zu vernachlässigen. Die Nutzung von Wasserstoff-Kesseln oder Wasserstoff-KWK-Anlagen kann jedoch in Gebäuden, an denen kein Wärmenetz anliegt und in denen sich Wärmepumpen nicht effizient betreiben lassen, aber eine notwendige Technologieoption darstellen, wenn in der Nachbarschaft ohnehin Wasserstoffgroßabnehmer anliegen und ein ausreichendes Wasserstoffangebot zu niedrigen Preisen zur Verfügung steht.

Auch die Verbrennung von grünem Wasserstoff zur Stromerzeugung spielt derzeit noch kaum eine Rolle. Langfristig allerdings können Wasserstoffkraftwerke – vor allem in Zeiten hoher Stromnachfrage und geringen Angebots von Strom aus erneuerbaren Energien – sowohl eine kurzfristige als auch eine saisonale Ausgleichsfunktion übernehmen, soweit diese nicht durch andere Energiespeicher erbracht werden kann. Da die Verbrennung von grünem Wasserstoff zur Stromerzeugung aber stets teurer ist als die Nutzung von Erneuerbaren Energie, erzeugt beispielsweise durch Windkraft- oder PV-Anlagen, wird sie entsprechend dem Merit-Order-Prinzip nur dann zur Anwendung kommen, wenn unbedingt nötig. Als SPD-Bundestagsfraktion sehen wir den Einsatz von grünem Wasserstoff als wichtige Stütze der Energiewende. Wir setzen uns daher für einen schnellen Hochlauf ein. Dieser muss indessen sinnvoll und in den oben beschriebenen Rahmungen erfolgen.
Überweisungs-PDF: