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Antrag 125/I/2019 Schulen in die Pflicht nehmen - Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt schützen.

22.02.2019

Jedes vierte bis fünfte Mädchen* und jeder achte bis zehnte Junge* ist von sexualisierter Gewalt betroffen – erschreckende Zahlen. Die Dunkelziffer ist noch sehr viel höher. Wie viel sexualisierte Gewalt tatsächlich stattfindet ist deshalb schwer zu sagen. Die Zahlen, die vorliegen, beruhen auf Schätzungen. Tatsache ist jedoch, dass die meisten Taten von Cis-Männern (Mit dem Begriff Cis werden die Menschen bezeichnet, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde) begangen werden. Missbrauch beginnt meist schon vor dem eigentlichen Straftatbestand, diese Übergriffe können häufig nicht geahndet bzw. verurteilt werden.

 

Obwohl von sexualisierter Gewalt gesprochen wird, ist diese klar von Sexualität abzugrenzen. Den Tätern*innen geht es in den allermeisten Fällen um die Befriedigung eigener Machtbedürfnisse. Sie nutzen ihre Position von Überlegenheit und die Abhängigkeit des Opfers aus. Kinder und Jugendliche sind in besonderem Maße gefährdet, da sie grenzüberschreitendes oder gar übergriffiges Verhalten unter Umständen gar nicht richtig einordnen können. Täter*innen entwickeln Strategien, um Kindern und Jugendlichen nahe zu kommen (Grooming). Dabei manipulieren sie die Bezugspersonen der Opfer, das Opfer selbst und Situationen, in denen Übergriffe stattfinden, werden heruntergespielt. Häufig wird dem Kind oder dem Jugendlichen im Missbrauchsfall gedroht, um ein Stillschweigen zu erzwingen und einer Meldung vorzubeugen. In vielen Fällen wird dies als „besonderes Geheimnis“ kommuniziert. In der Summe der Manipulationen, die strategisch von Täter*innen angewendet werden, fühlt sich das Opfer allein, Bezugspersonen wird misstraut und die Hürde sich zu offenbaren steigt ins Unermessliche. Wenn nun noch bedacht wird, wie häufig Betroffenen von Übergriffen und sexuellem Missbrauch nicht geglaubt wird, zeigt sich die enorme Bedeutsamkeit von gut ausgebildeten und sensibilisierten Fachkräften. Wichtig zu betonen ist, dass der Begriff sexualisierte Gewalt nicht nur Vergewaltigungen/sexuellen Missbrauch beschreibt, sondern jegliche sexualisierte Handlung (körperlich und psychisch), die gegen den Willen der betroffenen Person ausgeführt wird und deren Intimsphäre verletzt.

 

Ein weiterer wichtiger Faktor der sexualisierten Gewalt, ist die Häufigkeit des Vergehens. Die Wiederholungsgefahr ist extrem hoch, weshalb eine schnelle, sensible und wohl überlegte Intervention entscheidend ist.

 

Sexualisierter Missbrauch kann bei den Betroffenen zu extremer psychischer und physiologischer Belastung führen. Die Wahrscheinlichkeit danach an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden ist extrem hoch. Da Kinder und Jugendliche sich noch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung befinden, kommt es häufig zu einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung.

 

Betroffenenschutzverbände weisen immer wieder darauf hin, wie schwierig für Betroffene von sexualisierter Gewalt der Umgang mit dem Erlebten nach der Tat ist. Dies hängt auch damit zusammen, dass v. a. durch die Justiz versucht wird, die Perspektive, Motivation und Beweggründe von Täter*innen zu verstehen und letztlich zu verurteilen. Was aber passiert nach einer Verurteilung mit den Betroffenen sexualisierter Gewalt?

 

Betroffene von sexualisierter Gewalt tragen ein Stigma mit sich. Wenn sie von ihren Erlebnissen erzählen, wird ihnen oft nicht geglaubt oder sie werden nicht ernst genommen. Pädagogische sensibilisierte Fachkräfte könnten als Anwält*innen der Betroffenen fungieren und dafür sorgen, dass ihnen der Schutz zukommt, der ihnen zusteht!

 

Oftmals steht zu Beginn ein Austesten des*der Täter*in des grenzüberschreitenden Verhaltens, bevor es dann zu weiteren übergriffigen und missbräuchlichen Handlungen kommt. Solches Verhalten durch den*die Täter*in kann als Versehen gedeutet werden, obwohl der*die Täter*in dies gezielt und nicht zufällig einsetzt.  Verunsicherung wird somit geschaffen und Vertrauen erschüttert. Allgemein unterscheidet man zwischen Grenzverletzung, sexuellem Übergriff und Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Grenzverletzungen sind gekennzeichnet durch ein einmaliges oder seltenes unangemessenes Verhalten. Sie können aus Gedankenlosigkeit oder Versehen passieren und lassen sich nicht vollständig vermeiden. Doch scheinbar unabsichtliche Grenzverletzungen können hierbei ein Vortasten zu tatsächlichen Übergriffen sein. Den Unterschied macht nicht nur das persönliche Erleben der Betroffenen, sondern in diesem Fall die dahinterliegende Absicht des Täters. Ist diese Absicht vorhanden, ist eine Grenzverletzung keine Grenzverletzung mehr, sondern ein sexueller Übergriff. Es gilt daher vorab geschulte Mitarbeiter*innen dafür zu sensibilisieren.

 

Immer wieder herrscht Rat- und Hilflosigkeit, wenn es um sexualisierte Gewalt und Missbrauch geht. Initiativen wie „Schulen gegen sexualisierte Gewalt“ o.ä., haben in den letzten Jahren zu mehr Sensibilität aufgerufen. Es gibt diverse Handlungsempfehlungen, die präventiv ansetzen, um eine gewisse Sensibilität für das Thema zu schaffen. Allerdings sind dies meist nur Empfehlungen. Es gibt präventive Ansätze und Empfehlungen, z.B. vom paritätischen Wohlfahrtsverband oder vom Runden Tisch gegen sexualisierte Gewalt oder dem Unabhängigen Beauftragten zu Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs.  Wir erachten es als sinnvoll, diese Empfehlungen verpflichtend in die Schulen zu integrieren, da es nicht allein an der Initiative der Schulleitung und Lehrkräften liegen bleiben soll, ob solche Maßnahmen umgesetzt werden oder nicht. Sexualisierte Gewalt ist und bleibt ein akutes Thema, bei dem Prävention von außerordentlicher Bedeutung ist.

 

Schulen haben nicht nur einen Bildungsauftrag, sondern müssen auch einen Schutzraum für Kinder und Jugendliche bieten und dies deutlich signalisieren, indem im Unterricht thematisiert wird, was schon als grenzüberschreitendes Verhalten gewertet werden kann, wie man sich selbstbewusst zur Wehr setzt und an wen man sich wenden kann.

 

Zu betonen ist aber: Eine Verantwortungsübertragung Richtung Kind oder Jugendliche ist leicht, jedoch tragen die Erwachsenen in jedem Fall die Verantwortung zum Schutz derer. Andernfalls können durch eine solche Haltung Scham und Schuldgefühle bei Opfern sexualisierter Gewalt wachsen. Die Stärkung von Kindern und Jugendlichen ist wichtig, jedoch sind die Erwachsenen für die Sicherheit verantwortlich. Dies bedeutet auch, dass pädagogische Fach- und Lehrkräfte, bei nicht Ernst nehmen dieser Verantwortung, dazu beitragen, Gewalt zu ermöglichen.

 

Deshalb fordern wir:

Prävention von sexualisierter Gewalt muss in jeder Schule Berlins stattfinden.

Dazu gehört:

  1. Fortbildungen für alle Lehrkräfte, Sozialpädagog*innen an den Grund- und weiterführenden Schulen. Diese sollen von Fachberatungsstellen angeboten werden. Die Fortbildungen sollen über sexualisierten Missbrauch und Handlungen informieren, verpflichtend für das gesamte Schulpersonal sein und wiederholt angeboten werden. Außerdem muss jede Lehrkraft in Berlin eine Teilnahme an solch einem Seminar nachweisen können. Die Fortbildung muss mindestens alle fünf Jahre aufgefrischt werden. Die Finanzierung erfolgt über den Senat.
  2. An jeder Schule muss ein Präventionskonzept, ein Handlungsleitfaden zur Intervention sowie Verhaltensregeln für Mitarbeitende zur Verfügung stehen. Dieses Konzept soll mit Hilfe einer Fachberatungsstelle entwickelt werden. Dazu gehören auch Präventionsbeauftragte und externe, unabhängige Anlaufstellen bzw. Ansprechpartner*innen. Dies impliziert, dass jede Schule in Berlin mit einer Beratungsstelle einen Kooperationsvertrag hat und pädagogische Fachkräfte, Kinder und Jugendliche auch immer eine kostenlose Hotline dieser Beratungsstelle anonym anrufen können bzw. diese Beratungsstelle jederzeit aufsuchen können.
  3. Eine feste Verankerung der Null-Toleranz-Grenze bei sexualisierter Gewalt in den Schulregeln, die ebenfalls einen Passus zu übergriffigem Verhalten beinhalten sollen. Diese Regeln sollen gemeinsam mit allen Beteiligten erarbeitet werden. Danach sollen sie überall – auch in einfacher Sprache – zugänglich sein und auch an Tagen der offenen Tür kommuniziert werden.
  4. Einstellungsverfahren: Das bisherige verpflichtende erweiterte Führungszeugnis ist nicht ausreichend, da viele der Vorfälle nicht zur Anzeige gebracht werden. Hier fordern wir, dass schon im Einstellungsgespräch auf das Präventionskonzept Bezug genommen wird. Klare Regeln der Schule sollen verdeutlicht werden. Dabei sollen in einer Zusatzvereinbarung des Arbeitsvertrags nochmal genaue Vereinbarungen getroffen werden, wie die Schule im Falle von Verstoß handelt.
  5. Beschwerdemanagement: Damit die Regeln verbindlich anerkannt werden, muss es transparente und niedrigschwellige Instanzen geben, die für ihre Einhaltung sorgen. Natürlich ist jede Lehrkraft dazu angehalten, aufmerksam zu sein. Zusätzlich muss es jedoch noch Vertrauenspersonen innerhalb der Schule geben. Deshalb sollen gemischtgeschlechtliche Sozialarbeiter*innen an jeder Schule geschaffen werden. Lehrkräfte, die in verschiedenen Jahrgangsstufen tätig sind, die von Seiten der Schüler*innen in einer geheimen Wahl gewählt werden, sollen als Vertrauenspersonen die vertrauensvolle Anbindung der Schüler*innen an die Sozialarbeiter*innen zusätzlich unterstützen. Diese Personen erhalten nochmals ein extra Briefing von Beratungsstellen.
  6. Regelmäßig soll im Rahmen eines Elternabends auf dieses Thema eingegangen werden.
  7. Es muss ein Konzept erarbeitet werden verpflichtende Präventionsangebote an Schulen mindestens einmal in der Schulkarriere zu etablieren. Hierfür kann sich am Konzept der Drogenprävention orientiert werden. Solche Angebote müssen vielfältig sein und sich den Schülerinnen anpassen. Zu solchen Angeboten können Projekttage, der Besuch einer Präventionsstelle oder der Besuch von Expertinnen oder Betroffenen zählen.

 

 

Die einzuführenden Maßnahmen gelten auch für Schulen in freier Trägerschaft (Privatschulen). Die Aufsicht über das Schulwesen in Deutschland obliegt der Hoheit der Länder, somit kann das Land Berlin eigenständig über die Genehmigungs-, Anerkennungs- und Betriebsbedingungen für Schulen in freier Trägerschaft entscheiden.

Antrag 211/I/2019 Kostenloser ÖPNV für Rentnerinnen und Rentner, die Grundsicherung/ Grundrente beziehen

22.02.2019

Die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus und die sozialdemokratischen Mitglieder des Berliner Senats werden aufgefordert, Voraussetzungen zu schaffen und haushälterische Planungen auf den Weg zu bringen, so dass  Berliner Rentnerinnen und Rentner in Berlin zukünftig kostenfrei den ÖPNV nutzen können, wenn sie Grundsicherung bzw. zukünftig Grundrente im Alter beziehen.

Antrag 197/I/2019 Menschenrechte sind kein nice to have!

22.02.2019

Im Januar 2019 sollte es ein Urteil im Prozess gegen den Textildiscounter KiK wegen des Brandes in der Textilfabrik Ali Enterprises in Karatschi, Pakistan vor dem Landgericht Dortmund geben. Jedoch wurde die Klage wegen Verjährung noch nicht einmal zugelassen. Bei dem Brand kamen im September 2012 259 Menschen ums Leben. Dass darauf nun tatsächlich ein Prozess im Herkunftsland des auftraggebenden Unternehmens, also in Deutschland, folgte, ist neu – der Vorfall selbst ist es nicht, sondern steht im Gegenteil nur stellvertretend für viel zu viele andere Vorfälle derselben Art. Diese sind keine „Unglücke“, keine „Naturkatastrophen“ – sie sind menschengemacht und deshalb vermeidbar! Wir brauchen dringend grundlegende Veränderungen im globalen Wirtschaftsgefüge!

 

Es gibt einige wenige Siegel und Zertifikate, die versuchen, nachhaltig Menschenrechte zu schützen und Umweltstandards durchzusetzen, doch oft sind die Methoden der Zertifizierung fragwürdig und kommen nur einer sehr kleinen Gruppe unter den Arbeitnehmer*innen zu Gute. Wir machen es uns aber zu einfach, wenn wir die Verantwortung für diese Verbesserungen bei den Verbraucher*innen abladen. Zum einen ist es für Verbraucher*innen unmöglich für ihren gesamten Konsum die Lieferketten auf Menschenrechtsverstöße zu überprüfen – die Unübersichtlichkeit der Lieferketten ist schließlich oft das Argument, was die Unternehmen selbst anführen, wenn sie ausführen, warum sie sich um die Einhaltung von Menschenrechten in ihrer Produktion nicht kümmern können. Wie soll die*der Verbraucher*in das dann leisten? Zum anderen ist diese Herangehensweise auch schlicht falsch: Die Einhaltung von Menschenrechten darf keine Entscheidung sein, die von den Konsument*innen beim Kauf eines Produkts in die eine oder andere Richtung getroffen werden kann. Eine analoge Regelung im Inland würde uns auch völlig absurd erscheinen: Ein Siegel auf Produkte, die in Deutschland unter Einhaltung des Mindestlohns hergestellt wurden und die restlichen Produkte dann ohne Siegel und ohne Mindestlohn. Die Verantwortung trügen die Konsument*innen und sie würden entscheiden, ob sie durch den Kauf und den höheren Preis den Mindestlohn unterstützen wollen oder nicht. Das gleiche Bild lässt sich auf die Vereinigungsfreiheit, die Einhaltung von Maßnahmen zur Arbeitssicherheit oder das Verbot von Kinderarbeit übertragen. Mindestlohn, Gewerkschaften, Sicherheit bei der Arbeit und der Schutz von Kindern dürfen aber keine Produktattribute sein, mit denen sich Unternehmen auf dem Markt einen Wettbewerbsvorteil bei den Kund*innen ausrechnen. Es sind Menschenrechte und die sind nicht optional! Es darf hier keine „Entscheidung“ für oder gegen die Einhaltung dieser Rechte offen bleiben. Deswegen sind Verstöße gegen diese Rechte Verstöße gegen Gesetze! Aber während diese Regelung in Deutschland überwiegend unstrittig ist, soll es auf internationaler Ebene ausreichen, wenn sich Unternehmen freiwillig verpflichten oder sich Konsument*innen aussuchen können, ob sie sich heute mal für oder gegen die Einhaltung von Menschenrechten entscheiden? Diese Situation ist für uns als Internationalist*innen nicht hinnehmbar! Eine Unterscheidung in „wir“, die Arbeitnehmer*innen in Deutschland oder der EU und in „die“, die Arbeitnehmer*innen im globalen Süden, deren Sicherheit und Gesundheit weniger schützenswert und daher für Unternehmen ein freiwilliges „Extra“ darstellt, verurteilen wir zutiefst. Sie offenbart rassistische und (neo-)koloniale Strukturen. Sie ist die Voraussetzung für moderne Sklaverei und weltweite Ausbeutung, die den globalen Kapitalismus überhaupt erst möglich macht. Wir wollen aber eine Welt, in der jede*r unter guten, sicheren und gesunden Bedingungen arbeiten kann, egal, wo sie*er arbeitet!

 

Wenn der Kapitalismus global ist, dürfen Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte nicht an nationalen Grenzen enden!

 

Die Schaffung menschenwürdiger Arbeit ist ein Wert in sich. Bessere Arbeitsbedingungen ermöglichen aber auch Verbesserungen in anderen Lebensbereichen:  Bessere Bezahlung und weniger Sorge um die eigene Sicherheit und Gesundheit, lässt Zeit, Energie und Kapazitäten, um sich selbst weiterzubilden, die eigenen Kinder in der Bildung zu unterstützen, sich politisch zu organisieren. Kurzum: Es wird Menschen empowern.

 

Der Status quo:

Wir begrüßen, dass die Bundesregierung seit unserem letzten Beschluss zum Thema 2014 nun einen Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien in diesem Bereich für 2016-2020 erstellt hat. Hier werden einige Maßnahmen vorgeschlagen, die im aktuellen System Verbesserungen bringen könnten, jedoch beruhen diese Maßnahmen alle auf Freiwilligkeit und sollen gar nicht verbindlich festgeschrieben werden. So soll beispielsweise geprüft werden, ob und wie Unternehmen künftig dazu gebracht werden können, „Elemente der Sorgfaltspflicht [zur Achtung der UN-Menschenrechte] anzuwenden“. Wir dürfen nicht länger akzeptieren, dass Unternehmen keinerlei Sanktionen oder ähnliches drohen, wenn sie, ihre Subunternehmen, Zulieferer*innen oder Geschäftspartner*innen gegen Menschenrechte verstoßen! Wir wollen hier klare Kante zeigen und auf der richtigen Seite stehen – nämlich auf der der Arbeiter*innen weltweit! In anderen Teilen klingt der NAP wie blanker Hohn, beispielsweise beim Abschnitt zu Exportkrediten und Investitionsgarantien: „Mindestvoraussetzung für die Übernahme der [Investitions-]Garantie ist die Einhaltung der nationalen Standards im Zielland.“ Nationale Standards sind zu oft Teil des Problems, wenn sie zum Beispiel keinerlei Regelungen zum Schutz und den Rechten von Gewerkschaften und Betriebsräten treffen oder die Standards im Arbeitsschutz absurd niedrig sind! Es kann doch nicht sein, dass diese für die Bundesregierung als „Mindestvoraussetzungen“ durchgehen!

 

Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es: „Falls die wirksame und umfassende Überprüfung des NAP 2020 zu dem Ergebnis kommt, dass die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen nicht ausreicht, werden wir national gesetzlich tätig und uns für eine EU-weite Regelung einsetzen.“ Aber selbst mit einer vollständigen Erfüllung der im NAP formulierten Ziele darf sich die Bundesregierung nicht zufriedengeben: Diese selbst gesteckten Ziele sind viel zu niedrig: Nur die Hälfte aller in Deutschland sitzenden Unternehmen ab einer Größe von 500 Beschäftigten soll bis 2020 „Elemente menschenrechtliche Sorgfalt in ihre Unternehmensprozesse integriert“ haben. Das ist uns zu wenig und muss auch allen Sozialdemokrat*innen im Kabinett und der Bundestagsfraktion zu wenig sein!

 

Wir stellen uns entschieden gegen jede Maßnahme und Formulierung, die die Illusion einer Freiwilligkeit seitens der Unternehmen stützt: Entweder ein Unternehmen wirtschaftet und hält dabei Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte ein oder dieses Unternehmen hat keine Daseinsberechtigung und gehört aufgelöst! Diese Rechte stehen nicht zur Verhandlung!

 

Wir begrüßen ausdrücklich, dass auch auf UN-Ebene eine Konvention zur transnationalen unternehmerischen Verantwortung erarbeitet wird. Den aktuell diskutierten Entwurf beurteilen wir als durchaus vielversprechend. Aber natürlich ist entscheidend, dass sich diejenigen Länder, in denen die betroffenen Unternehmen sitzen, für die Umsetzung stark machen. Bisher beteiligen sich jedoch weder die USA noch die EU an dem Prozess.

 

Daher fordern wir:

Auf uns Sozialist*innen in Ländern des globalen Nordens kommt die Verantwortung zu, uns für internationale Solidarität und richtiges Handeln im falschen, kapitalistischen System stark zu machen. Wir fordern daher, dass die EU die Einfuhr von Produkten in allen Branchen, bei denen die Einhaltung von Menschen- und Arbeitsrechten über die gesamte Wertschöpfungskette und mit allen Vor- und Zwischenschritten nicht nachgewiesen werden kann, verbietet. Das stellt eine grundlegende Veränderung für den Außenhandel und das globale Wirtschaften europäischer Unternehmen dar, da nun die Nachweispflicht bei ihnen liegt. Wir sehen darin den einzigen, wirklich konsequenten Weg um einen europäischen Beitrag zur weltweiten Sicherung von Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte in der Wirtschaft zu leisten. Mit einer angemessenen Übergangsfrist haben Unternehmen genügend Zeit, um ihre Lieferketten zu überprüfen und gegebenenfalls übersichtlicher zu gestalten.

 

Deshalb fordern wir eine europäische Regelung, die Unternehmen verbindliche Sorgfaltspflichten in ihrer Lieferkette im Hinblick auf die Einhaltung von Menschenrechten auferlegt und bei unzureichender Kontrolle die Haftung für das Unternehmen auslöst. Solange es keine entsprechende europäische Regelung gibt, müssen wir die rechtliche Grundlage dafür schaffen, dass die Einhaltung von Sorgfaltspflichten für Unternehmen innerstaatlich verbindlich sind. Diese Pflichten sollten u.a. aus dem Erstellen, Veröffentlichen, Umsetzen und Kontrollieren eines jährlichen Sorgfaltsplan bestehen, mit dem menschenrechtliche Risiken identifiziert und beseitigt werden. Die Sorgfaltspflichten müssen für die eigene Firma, sowie für Sub- und Tochterunternehmen, aber auch für die entsprechenden Teilaktivitäten der Zulieferer gelten. Es muss möglich sein, Unternehmen, die ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen, anlassbezogen zu verklagen. Dabei muss die Beweispflicht beim Unternehmen liegen. Um einer Verurteilung zu entgehen, muss dieses nachweisen, dass der Schaden auch ohne das eigene Zutun entstanden wäre oder dass es alle gebotene Sorgfalt angewendet hat. Es gibt bereits Beispiele, denen Deutschland folgen kann: Frankreich hat ein Gesetz für eine verbindliche Sorgfaltspflicht („loi de vigilance“) verabschiedet, die Schweiz steht kurz vor einem Gesetz, Österreich ebenso und weitere Länder sind dabei ein Gesetz für das Thema Unternehmensverantwortung zu erarbeiten.

 

Wir fordern, dass weitere Staaten und Freihandelszonen diesem Beispiel folgen. Deutschland muss in diesem Bereich Vorreiterin in allen Organisationen werden, in denen es Mitglied ist (OECD, G7, UN, EU, etc.) sein und Verbündete in diesen Gremien zu ähnlichen Gesetzen bewegen. Wir bedauern, dass die OECD, deren Mitglieder fast ausschließlich westliche Demokratien sind, derzeit zumeist lediglich Empfehlungen und Vorschläge für die Mitgliedsstaaten ausarbeitet. Unternehmen, die ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen und gegen Menschen- und Arbeitsrechte verstoßen, sind mit empfindlichen Strafen zu belegen und bei wiederholten Verstößen aufzulösen. Durch diese Regelung erwarten wir, dass Regierungen in Ländern des globalen Südens keinen Anreiz mehr haben, schlechte Arbeitsbedingungen in ihren Ländern aufrecht zu erhalten, um attraktiv, d.h. billig für ausländische Arbeitgeber*innen zu sein. Um jetzt erfolgreicher Wirtschaftsstandort und Handelspartnerin zu sein, müssen Regierungen ganz im Gegenteil durch Gesetze, deren Umsetzung und Kontrolle, gute Arbeitsbedingungen schaffen und Arbeitnehmer*innenrechte sichern und stärken.

 

Daraus folgt, dass die EU in jeder Verhandlung im Bereich Außenhandel die Einhaltung von Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte zur Grundbedingung macht. Die Maßnahmen im NAP gehen schon in die richtige Richtung, aber sie sind bei weitem nicht ausreichend! Wir fordern, dass die EU Handelsverträge erst abschließt, wenn die potentiellen Vertragspartner*innen, die UN-Menschenrechtscharta und die ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert und wirksam implementiert haben. Außerdem muss sich die EU dafür einsetzen, dass im Regelungsbereich des*der Vertragspartner*in ein entsprechend mit dem europäischen Menschenrechtsstandard und dessen Durchsetzungsmöglichkeiten vergleichbarer individueller Schutz gewährleistet wird. Die EU bietet ihre Unterstützung zur Schaffung der dafür benötigten Strukturen an.

 

Diese Regelung soll zu einer Verbesserung für die Arbeitnehmer*innen führen. Es darf nicht passieren, dass durch diese Regelung nur Handelsströme umgeleitet werden und Arbeiter*innen, gegen deren Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte bislang verstoßen wurde, ihre Arbeit ganz verlieren. Daher fordern wir, dass es sich die staatliche Entwicklungszusammenarbeit (EZ) auf nationaler und EU-Ebene zur Aufgabe macht, betroffene Länder und Unternehmen zur schnellen Umsetzung und Überwachung der Einhaltung von Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechten zu beraten und zu unterstützen. Diese Sorgfaltspflicht muss auch bedeuten, dass sie nicht in private Sozialauditor*innen ausgelagert werden kann. Obgleich die Beauftragung privater Auditunternehmen momentan häufig mangels vergleichbarer staatlicher Strukturen alternativlos ist, führt sie zu Interessenkonflikten der umeinander konkurrierenden Auditgeber*innen und ist von methodischen Mängeln geprägt.  Daher ist es wichtig, staatliche Strukturen in den Produktionsländern – welche in jedem Fall vorzugswürdig sind – zu schaffen, die die Einhaltung menschenrechtlicher und arbeitsrechtlicher Standards überwachen, bzw. auch staatliche Stellen einzurichten, die die Auditgeber*innen kontrollieren. Hierbei ist ein besonderes Augenmerk auf die Bekämpfung von Korruption zu legen. Wir stellen uns schlussendlich aber eine Regelung analog zum Zoll vor: Der Staat kontrolliert die Einhaltung der von ihm erlassenen Gesetze, die Verantwortung für die Umsetzung und Einhaltung dieser trägt aber das Unternehmen und daher muss auch die entsprechende Infrastruktur vom Unternehmen geschaffen und unterhalten werden. Zudem müssen unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet und die Arbeiter*innen darüber informiert werden. Jede andere Unterstützung von Privatwirtschaft seitens staatlicher EZ-Stellen, die dieses Ziel nicht verfolgt, (wie beispielsweise im Rahmen des Programms developpp.de zur Förderung von Public-Private-Partnerships und deutscher Unternehmen im Ausland) ist einzustellen.

 

Als Internationalist*innen sehen wir es mit Sorge, dass sich der Prozess globaler wirtschaftlicher Integration von dem multilateralen Kontext der Welthandelsorganisation (WTO) in den bilateralen Rahmen verschoben hat. Bei aller Kritik, die wir an der WTO haben, bietet sie doch für Länder mit niedrigen und mittleren Pro-Kopf-Einkommen bessere Möglichkeiten, sich zusammenzuschließen und ihre Interessen gegenüber den Ländern mit hohem Einkommen besser zu vertreten. Daher fordern wir, dass sich die EU dafür einsetzt, Verhandlungen zum Außenhandel wieder von der bi- auf die multilateralen Ebene zu heben und sich dafür einzusetzen den multilateralen Prozess – sei es in der WTO oder in anderem Rahmen – wiederzubeleben.

 

International agierende Unternehmen können aufgrund von Investor*innenschutzklauseln in Freihandelsverträgen gegen Staaten klagen, wenn sie befürchten, dass ihnen durch Gesetzesänderungen Profite entgehen – selbst wenn diese Gesetzesänderung von den demokratisch gewählten Vertreter*innen der im Land lebenden Bevölkerung gemacht wurde. Demnach können Staaten, die ihre Gesetzeslage bezüglich Arbeits- und Sicherheitsstandards verbessern wollen, in Schwierigkeiten kommen. Anders herum können Unternehmen aber nicht von Staaten auf Verletzungen von Menschenrechten verklagt werden. Dieses Ungleichgewicht ist für uns nicht hinnehmbar! Das Beispiel der Textilwirtschaft macht es deutlich: Die Verstöße gegen Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte, gegen die grundlegendsten Standards hinsichtlich Gesundheit und Sicherheit in den Textilfabriken von Ländern mit niedrigem Einkommen sind bekannt. Den auftraggebenden Unternehmen mit Sitz in Ländern des globalen Nordens darf nicht länger erlaubt werden, Unwissenheit vorzutäuschen! Sie müssen Verantwortung für alle Arbeitnehmer*innen übernehmen, egal, in welchem Land, in welchem Teil der Lieferkette oder in welchem Sub-Subunternehmen sie arbeiten! Bisher gibt es keine klaren Regeln für internationale Haftungsfragen und bei Klagen beziehen sich die Jurist*innen auf die selbstgeschriebenen Code of Conducts der Unternehmen. Mit diesem Zustand können wir uns nicht zufriedengeben. Wir brauchen dringend neben nationalen Gesetzen auch Fortschritte bei internationalen Abkommen, die die Verantwortung von Unternehmen entlang deren gesamten, auch transnationalen Lieferkette benennen. Wir begrüßen, dass bei der UN nun der Treaty-Prozess zur Erarbeitung von Regelungen von transnationaler Unternehmensaktivität angelaufen ist – allerdings ohne Mitarbeit seitens der EU! Wir fordern daher die EU auf, sich im Rahmen des UN-Treaty-Prozesses dafür stark zu machen, dass Unternehmen die Einhaltung von Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte entlang ihrer gesamten Lieferkette zu verantworten haben. Außerdem brauchen wir endlich einen internationalen Handelsgerichtshof. Für die bisherige Regelung, dass sich Unternehmen durch das Outsourcing an Sub- und Sub-Subunternehmen aus der Verantwortung stehlen können, haben schon zu viele Arbeiter*innen mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben gezahlt. Diesen Aspekt des globalen Kapitalismus nehmen wir nicht länger hin!

 

Auch innerhalb Deutschlands und der EU werden die Rechte von Arbeitnehmer*innen verletzt. Dies betrifft vor allem Migrant*innen und mobile Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa, die ihre Rechte nicht kennen oder sie nicht einklagen können, weil sie beispielsweise nur geringe Sprachkenntnisse haben oder sich wegen eines unklaren Aufenthaltsstatus nicht an staatliche Stellen wenden wollen. Auch in Deutschland und in der EU muss gelten, dass Unternehmen Verantwortung für alle Arbeitnehmer*innen entlang ihrer Lieferkette tragen. Wir fordern daher, dass entsprechende Regelungen schon jetzt auf nationaler und EU-Ebene getroffen werden, auch wenn der Prozess auf internationaler Ebene noch andauern mag. Hierzu braucht es sowohl nicht-staatliche Beratungs- und Anlaufstellen als auch staatliche Stellen, die aber bei unklarem Aufenthaltsstatus nur die Arbeitnehmer*innenrechte einfordern und keine Informationen hinsichtlich des Aufenthaltsstatus weitergeben oder gar selbst in diesem Kontext aktiv werden. Beide Arten von Anlaufpunkten müssen ausreichend aus öffentlicher Hand finanziert sein und ohne Hürden für die Betroffenen zu kontaktieren sein – beispielsweise durch Informationsmaterial, -kampagnen in verschiedenen Sprachen und Ansprechpersonen, die diese Sprachen sprechen.

 

Hierbei sollen insbesondere die Zusammenarbeit und der Erfahrungsaustausch mit gewerkschaftlichen Einrichtungen angestrebt werden, die bereits in diesem Bereich bestehen.

 

Antrag 89/I/2019 Einrichtung von Medienzentren – Das Internet ist für alle da!

21.02.2019

Akku leer? Ist ja nicht schlimm, denn spätestens zuhause in unserer Wohnung können wir unser geliebtes Smartphone aufladen.

 

Das Internet verbindet uns heutzutage nicht nur mit unsere Freund*innen oder ermöglicht es uns schöne Filter über unsere neusten Urlaubsfotos zu legen. Auch viel wichtigere Dinge können (und müssen) heute online geregelt werden. Angefangen bei der Beantragung eines neuen Personalausweises, über Überweisungen oder der Jobsuche. Wohnungslose und Obdachlose sind von diesen essentiellen Möglichkeiten häufig ausgeschlossen. Sie müssen auf öffentliche Bibliotheken oder andere Einrichtungen zurückgreifen, Orte derer sie im schlimmsten Fall verwiesen werden, an denen sie nicht sein dürfen. Dadurch entsteht eine Unzuverlässigkeit der Verbindung, die Wohnungslose praktisch unmöglich macht, Termine genau einzuhalten oder sich Informationen, beispielsweise über das Wohnungslosenhilfsnetzwerk, zu beschaffen. Oftmals ist aber gerade diese Zuverlässigkeit eine Grundvoraussetzung, um einen verlässlichen und niedrigschwelligen neuen Job oder eine neue Wohnung zu finden.

 

Daher ist es endlich Zeit auch Wohnungslosen und Obdachlosen einen Zugang zum Internet zu ermöglichen. Wir fordern daher eine Einrichtung von Medienzentren wie z.B. in öffentlichen Bahnhöfen, in denen die Möglichkeit besteht kostenlos Computer mit Internetanschluss zu nutzen, kostenlose WLAN-Verbindungen zu nutzen, kostenlos zu telefonieren und Smartphones aufzuladen. Denn: Auch Menschen ohne Obdach besitzen heute in vielen Fällen Smartphones, denn diese sind – insbesondere für Wohnungslose und Obdachlose aus dem Ausland – häufig die einzige Möglichkeit mit ihrer Familie Kontakt aufzunehmen.

 

Wir wollen den Wohnungslosen und Obdachlosen nicht vorschreiben, wie sie das Internet in diesen Medienzentren nutzen. Hierzu muss der Senat ein Konzept ausarbeiten, das es zum Schutz der Betreiber ermöglicht datenschutzveträglich eine Nachverfolgung der Nutzer*innen zu gewährleisten.

 

Die Medienzentren sollen zudem mit mehrsprachigem Sozialarbeiter*innen ausgestattet sein, welche den Nutzer*innen gegeben falls helfen können, z.B. einen Bürgeramtstermin zu vereinbaren, ein Emailkonto einzurichten oder eine Bewerbung abzuschicken. Wir unterstützen Bibliotheken dabei, sich mit Bereichen auszustatten, wo es ohne den Besitz eines Bibliotheksausweises den Zugang zu Computern mit Internetanschluss, Telefon, Ladekabeln, Steckdosen zu erhalten.

 

Wir fordern:

  • Die Erweiterung von Medienzentren mit Zugriff auf mit Internetverbindung ausgestatteten Computern, freies WLAN, Telefone und Handyladestationen, ebenso wie kostenfreie Fotoautomaten zum Erstellen biometrischer Fotos
  • Eine Ausstattung der Medienzentren mit ausreichendem qualifiziertem Sozialarbeiter*innen
  • Angemessene Öffnungszeiten der Medienzentren

 

Die Bereitstellung von Möglichkeiten zum Aufladen elektronischer Endgeräte an der Außenseite der Medienzentren, sodass eine grundsätzliche, leicht zugängliche Stromversorgung stets gewährleistet ist, und das auch außerhalb der Öffnungszeiten.

Antrag 70/I/2019 Unser Umgang mit dem Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“

21.02.2019

Mit dem Antrag „Den neoliberalen Renditewahn stoppen – Für mutige Schritte gegen die Wohnungskrise“ haben die Jusos Berlin eine wichtige Analyse zur Situation der Mieter*innen und zur Wohnungspolitik in Berlin getroffen und dessen Forderungen in den Bundesverband und die Landespartei getragen. Die Radikalität der Wirklichkeit hat bereits zu weitgehenden Maßnahmen des Landes Berlin geführt. Wir müssen allerdings feststellen, dass die bisherigen Mittel nicht ausgereicht haben, die massiven Mietsteigerungen und den grassierenden Wohnungsmangel in unserer Stadt zu beenden. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass sich aus der Stadtgesellschaft heraus Initiativen bilden, die den kapitalistischen Wohnungsmarkt bekämpfen. Bereits 2015 hat die Berliner Sozialdemokratie inklusive der SPD-Fraktion bewiesen, dass sie solche Bewegungen unterstützt, indem sie die Forderungen des Mietenvolksentscheids nach gemeinsamen Gesprächen weitgehend übernommen hat und anschließend durch das Abgeordnetenhaus beschließen ließ.

 

Dadurch konnten die Verbesserungen beim Mieter*innenschutz und dem Ausbau des sozialen Wohnungsmarktes beschleunigt inkrafttreten. Derzeit sammelt die Initiative “Deutsche Wohnen und Co. enteignen” Unterschriften in der Stadt für einen Volksentscheid um die Verstaatlichung der Wohnungen derjenigen Wohnungsunternehmen zu erreichen, denen in Berlin 3 000 oder mehr Wohnungen gehören. Dabei stützt sie sich u. a. auf Art. 15 GG: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. […]“

 

Art. 15 GG als Errungenschaft der Sozialdemokratie

Obgleich bisher noch nicht angewendet, stellt der Art. 15 eine der wichtigsten Errungenschaften der Sozialdemokrat*innen im Herrenchiemsee-Konvent und im Parlamentarischen Rat dar. Als stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im Parlamentarischen Rat kommentierte Walter Menzel den Art. 15: Die Sozialdemokraten [sic] würden es begrüßen, dass erstmals der Begriff Gemeineigentum verfassungsmäßig verankert sei. Die Forderung nach der Sozialisierung sei „ein wesentliches, vielleicht das entscheidende Ziel unseres [= der Sozialdemokrat*innen] Kampfes zur Befreiung des arbeitenden Menschen von den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaftsordnung“. Unter „Grund und Boden“ – „Boden“ als klassischerweise landwirtschaftlichem Begriff und „Grund“ als das, worauf Häuser stehen – werden dabei alle Arten von Grundstücken nebst Zubehör, also einschließlich von Häusern mit den in ihnen befindlichen Wohnungen verstanden. Die Möglichkeit der Sozialisierung von Wohnungseigentum ist somit ausdrücklich von Art. 15 bezweckt.

 

Wohnen ist eine Ware

Art. 15 S. 1 sieht aber noch eine weitere Kategorie der Sozialisierungsgegenstände vor: die derProduktionsmittel. Der Begriff mutet nicht nur marxistisch an – er ist es auch. In führenden juristischen Kommentaren wird auf Marx verwiesen. Wurzel des Art. 15, so heißt es im alles andere als linksradikalen „Bonner Kommentar“, sei „sozialistisches Gedankengut […]. Zentraler Punkt der auf Karl Marx zurückgehenden Theorie ist die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln“. Der Begriff des Produktionsmittels ist nach herrschender Auffassung weit auszulegen, als das, was der Produktion jeder Art von Gütern diene. Eine Beschränkung auf Güter gegenständlicher Art ist nicht vorgesehen. Insgesamt ist die Sach- und Rechtsgesamtheit, die der Produktion von materiellen und/oder immateriellen Gütern dient, umfasst. In Bezug auf die Forderung nach der Sozialisierung von Wohnungen bedeutet das: Das kapitalistische Wohnungsunternehmen verkauft die Ware Wohnen an die*den Wohnungssuchenden. Das Produktionsmittel, mit dem das Wohnungsunternehmen diese Ware produziert, ist – analog der Maschine in der klassischen Fabrik – die Wohnung. Denn hinter der Forderung „Wohnen ist keine Ware!“ steckt leider auch die Feststellung: Wohnen ist aktuell eine Ware, die kapitalistisch produziert und verteilt wird. Erst mit der Sozialisierung ihrer Produktionsmittel, der Wohnungen, wird die Ware Wohnen dem kapitalistischen Markt entzogen und verliert ihre Warenform.

 

Der Berliner Wohnungsmarkt: Paradebeispiel der Notwendigkeit der Sozialisierung

Obgleich das Wohnen ein soziales Grundrecht von Verfassungsrang gem. Art. 28 I 1 Verfassung von Berlin ist, ist die genau diese marktwirtschaftliche Organisation des Wohnens gescheitert. Die Preisbildung durch die – in Berlin nun einmal hohe – Nachfrage bei begrenztem Angebot führt zu dem hohen Mietpreisanstieg – zwischen 2011 und 2018 steigen die Mieten in Berlin um durchschnittlich 71 % –, führt darüber hinaus dazu, dass insbesondere Wohnungen des niedrigen Preissegments nicht mehr verfügbar sind und führen zur Verdrängung derjenigen, die die Wohnungen brauchen. Mit der regulären Aufhebung der Sozialbindung vieler Wohnungen in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Situation ebenfalls dramatisiert. Die Initiator*innen des derzeitigen Volksentscheids verweisen nicht zu Unrecht auf die Praktiken aggressiver Immobilienkonzerne wie der Deutsche Wohnen gegen ihre Mieter*innen wie um die Notwendigkeit der Sozialisierung ebensolcher Unternehmen zu rechtfertigen. Dabei waren sogar viele Wohnungen der Deutsche Wohnen einst in der Hand der städtischen GEHAG und GSW, wurden jedoch privatisiert – eine Enteignung stellt daher lediglich die Rücküberführung in öffentliches Eigentum dar. Die politische Linke in Berlin hat sich leider an den Privatisierungen der Vergangenheit beteiligt. Wir möchten uns zunächst bei der Stadtgesellschaft dafür entschuldigen und die begangenen Fehler mit der konsequenten Verfolgung einer Resozialisierungspolitik wiedergutmachen.

Bisher beschränkte sich die Sozialisierung von Wohnraum durch das Land Berlin beziehungsweise die städtischen Wohnungsbaugesellschaften auf die Nutzung von Vorkaufsrechten oder normale Markthandlungen wie Zukäufe im kapitalistischen Wettbewerb mit privaten Unternehmen. Beide Verfahren sind allerdings in ihrer Wirkkraft sehr beschränkt, wenn keine Wohnungen von Privaten angeboten werden, entfallen beide Mittel der Sozialisierung. Eine verfassungsrechtlich verankerte Sozialisierung bietet Chancen darüber hinaus Wohnraum in stattliche Hände zu überführen und damit:

  1. Mieter*innen zu schützen
  2. die Marktlogik der Preisentwicklung im privaten Immobiliensektor zu brechen
  3. daraus resultierende Aufwertung von Wohnraum und Kiezen zu bekämpfen
  4. Wohnraum langfristig bedürftigen Gruppen zur Verfügung zu stellen

 

Die Schwächen des Volksentscheids benennen

Die Radikalität der Forderung der Initiative und der Mut den großen Immobilienkonzernen so direkt entgegen zu treten, verdienen unseren Respekt. Allerdings müssen auch Fragen zur Umsetzung und Zielführung des Volksentscheides erörtert, um gemeinsam mit der Stadtgesellschaft gemeinsam möglichst erfolgreich den Wohnungsmarkt zu sozialisieren. Die Initiative fordert die Enteignung aller Wohnungsbauunternehmen, die inklusive Töchterfirmen mehr als 3 000 Wohnungen in Berlin besitzen und schätzen, dass etwa 200 000 Wohnungen enteignet werden würden. Die Grenze von 3 000 wurde willkürlich festgelegt und außerdem ist die Vermietungspolitik von Unternehmen nicht von deren Größe abhängig. Wenngleich Konzerne wie die Deutsche Wohnen AG regelmäßig unrühmliche Schlagzeilen produzieren, so gilt zugleich, dass auch kleinere Vermieter*innen unsozialen Vermietungspraktiken nachgehen, während es zugleich private Immobilienunternehmen, die gewillt sind mit Mieter*innen und der Stadtgesellschaft kooperieren. Wir Sozialdemokrat*innen sehen deswegen nicht die Größe der Wohnungskonzerne, sondern die Praktiken der Vermieter*innen als entscheidendes Kriterium bei der Frage nach der Sozialisierung an.

 

Verdrängung, Mietsteigerungen und Umwandlungen in Wohneigentum treffen die verschiedenen Stadtteile Berlins unterschiedlich hart. Insbesondere in Kiezen, die bereits für viele Menschen unerschwinglich geworden sind oder jenen, denen vergleichbare Zustände drohen, kann Sozialisierung von Wohnraum eine Lösung sein, um soziale Mischungen, die wir uns für die gesamte Stadt wünschen wiederherzustellen oder zu erhalten. Wir Sozialdemokrat*innnen sehen den Schutz der Mieter*innen als entscheidendes Kriterium bei der Sozialisierung an.

 

Marktlogiken und hohe finanzielle Aufwendungen für die Sozialisierung dürfen uns nicht von der Rückeroberung der Stadt abhalten. Wir stellen allerdings fest, dass bei einer erwarteten Entschädigungssumme, die laut Schätzungen im zweistelligen Milliardenbereich liegt, keine einzige neue Wohnung entsteht. Der Berliner Wohnungsmarkt krankt nicht nur an einem Verlust bezahlbaren Wohnraums, sondern an einem absoluten Mangel an Wohnraum selbst. Aufgrund der geringen Leerstandsquote in Berlin werden auch nach der Sozialisierung kurzfristig nur wenige freie Wohnungen zur Vergabe an Bedürftige zur Verfügung stehen. Die Bedürfnisse der zehntausenden wohnungssuchenden Berliner*innen und der wachsenden Stadt adressiert der Volksentscheid deshalb leider kaum. Wir Sozialdemokrat*innen wollen bei der Sozialisierung deswegen ein Hauptaugenmerk auf die Enteignung von potentiellem Bauland für soziale Stadtentwicklung setzen.

 

Gemeinsam Wohnraum sozialisieren – mit Plan, Druck und Vernunft

Trotz der genannten Kritikpunkte an der Initiative ist die Sozialisierung von Wohnraum und für sozial entwickelbarem Bauland aufgrund der oben aufgelisteten Argumente geboten. Es ist deswegen dringend erforderlich seitens der Sozialdemokratie aber auch des Senates auf die Initiative “Deutsche Wohnen und Co. enteignen” zuzugehen und gemeinsam Sozialisierung unter Ausbesserung der Schwächen zeitnah zu diskutieren. Wenn wir das nicht tun, droht ein Konflikt, wie zur Frage der Nichtbebauung des Tempelhofer Feldes, der bis heute nicht beigelegt ist.

In den Verhandlungen mit der Initiative gilt es viererlei zu klären. Erstens müssen gemeinsame Zielvorgaben bezüglich der Sozialisierung festgelegt werden. Die von der Initiative vorgesehene Enteignung von 200 000 Wohnungen auf einmal ist selbst für eine Millionenstadt für Berlin nicht umsetzbar und ohne juristischen Widerstand der Betroffenen vorstellbar ist. Die hier geäußerte Kritik an den Zahl und Vorgaben des Volksentscheids müssen berücksichtigt werden. Zweitens müssen Pläne bezüglich der finanziellen Ausgestaltung der Sozialisierung vereinbart werden. Grundlage dafür müssen zunächst Ankaufsziele und Kostenabschätzungen seitens der Berliner Verwaltung vorliegen. Wenn diese vorliegen, muss eine tragfähiges, realisierbares und langfristiges Finanzierungskonzept entwickelt werden, dass Sozialisierungen grundsätzlich ermöglicht und finanzielle Risiken adäquat abbildet. Die Initiator*innen sind dazu aufgerufen, ihre Finanzierungsvorschläge unter Berücksichtigung von inkrafttretender Schuldenbremse und haushaltspolitischer Erwägungen vorab zu konkretisieren. Drittens müssen Kriterien entwickelt werden, die die Sozialisierungsobjekte priorisieren. Dabei müssen beispielsweise verschiedene Faktoren eine Rolle spielen:

 

  1. konkrete Gefahren für die Mieter*innen, beispielsweise angedrohte Mietkündigungen, auslaufende Sozialbindungen für mietpreisgebundene Wohnungen oder angekündigte Luxusmodernisierungen
  2. ebenso unsozialen Vermietungspraktiken der Vermieter*in in anderen Wohnanlagen
  3. die Mietpreisentwicklung im betreffenden Wohngebiet
  4. die Sicherstellung sozialer Mischung im betreffenden Wohngebiet
  5. mangelnder bezahlbarer Wohnraum im betreffenden Wohngebiet
  6. die Potenziale für Schaffung neuen Wohnraums oder sozialer Infrastruktur (beispielsweise in Dachgeschossen oder auf Außenflächen)
  7. Verstöße der Vermieter*in sich gegen Instrumente der sozialen Stadtentwicklung beispielsweise Mietspiegel, Mietpreisbremse, Zweckentfremdungsverbot, kooperative Baulandentwicklung uvm.

 

Viertens müssen rechtliche Konstrukte entwickelt werden, die analog zur Abwendungsvereinbarung beim Vorkaufsrecht Möglichkeiten eröffnet, Vermieter*innen rechtlich soziale Vermierungspraktiken verpflichten zu können, ohne die betreffenden Immobilien sozialisieren zu müssen. Das Abschreckungsmittel der Enteignung ist dabei entscheidend, denn über die sozialisierten Wohnungsbestände hinaus werden private Vermieter*innen unter Androhung des Entzugs der verbliebenden Immobilien dazu gezwungen sich auf unsere stadtgesellschaftliche Regeln des Eigentums und dessen Nutzung verpflichten.

 

Was wir wollen, ist ein gemeinwohlorientierter Umgang mit Wohnraum. Die Sozialisierung von Wohnraum und Bauland bedeutet nicht, dass damit der Kapitalismus überwunden würde. Aber sie ist ein sinnvoller Diskussionsbeitrag zu den wohnungspolitischen Problemen unserer Stadt. Sozialisierung ist nur in gemeinsamer Anstrengung von Stadtgesellschaft und Politik am ehesten gestaltbar. Packen wir es an. Mit dem Begehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ergibt sich die Chance, neue Ideen zur Lösung der Probleme des Wohnungsmarktes zu erörtern. Dabei wird die SPD Berlin der Debatte um das Begehren nicht entkommen – sie wird sich positionieren müssen. Es wäre geradezu fatal, wenn sie sich als wichtigste linke Kraft in Berlin komplett gegen die Sozialisierung stellen würde, allerdings ist es unsere Aufgabe, die Ideen der Initiative in politische umsetzbare Bahnen zu lenken.

 

Wir fordern daher:

  • das Bekenntnis der Sozialdemokratie zur Enteignung unter angemessener Entschädigung als möglichen Eingriff in den Wohnungsmarkt
  • die Kooperation mit der Initiative „Deutsche Wohnen und Co.“ nach Vorbild des Mietenvolksentscheids um gemeinsam die Sozialisierung des Wohnraums in unserer Stadt zu erörtern, Sozialisierungsziele sowie deren Finanzierung und Umsetzung unter Berücksichtigung gesamtstädtischer Interesse anzugehen
  • eine schwerpunktmäßige Sozialisierung von Bauland und Bauerwartungsland
  • die Entwicklung von Abwendungsvereinbarung um auch die Vermieter*innen nicht sozialisierter Wohnungen auf soziale Standards zu verpflichten