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Antrag 219/II/2018 Keine Koalition mit Seehofer

11.10.2018

Die SPD wird nicht weiter Teil einer Koalition mit einem Minister Horst Seehofer sein. Er hat mit seinen jüngsten Äußerungen, in denen er die Migration „Mutter aller Probleme“ genannt hat, seine menschenfeindliche Grundeinstellung endgültig offenbart. In Seehofers Äußerungen offenbart sich die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als strukturelles Problem in der CSU. Für eine antifaschistische Partei wie die SPD ist es schlicht unmöglich mit diesem Mann weiter gemeinsam Politik zu machen.

 

Wir fordern daher den Rücktritt von Horst Seehofer, alternativ seine Entlassung. Die SPD-Spitze ist aufgefordert, sich von Seehofers Einstellungen klar abzugrenzen und die Große Koalition aufzukündigen, sollte er weiterhin Minister bleiben.

Antrag 207/II/2018 Gemeinsame Agrarpolitik ab 2020: Umwelt, Klima, Menschen und Tiere schützen

11.10.2018

Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU ist der einzige Politikbereich, der fast vollständig auf europäischer Ebene stattfindet. Sie war eine der ersten gemeinsamen Politiken und hat sich über die Jahre stark verändert. An vielen Stellen scheint sie jedoch immer noch eher wie ein Überbleibsel aus Nachkriegszeiten und das Ergebnis einseitiger Lobbyarbeit. Die aktuelle GAP wird 2020 auslaufen und muss dann neuaufgestellt werden. Die aktuellen, seitens der Europäischen Kommission veröffentlichten Arbeitsstände zur Überarbeitung der GAP versprechen jedoch wenig Neuerungen. Vielmehr lassen sie erwarten, dass die GAP weiterhin zur Besitzstandswahrung von Landbesitzer*innen genutzt wird anstatt auf die vielfältigen Herausforderungen der Zukunft zu reagieren.

 

Eine sozialdemokratische Landwirtschaftspolitik hat diese im Blick: Sie blickt nicht einseitig nur auf die Produzent*innenseite und übernimmt alle Lobbyforderungen der organisierten, konventionellen Landwirt*innen wie die Konservativen. Sie stellt sich aber auch nicht auf die Seite einer kleinen Gruppe von gutverdienenden, urbanen Konsument*innen, die mit ihrer erhöhten Kaufkraft eine romantische Vorstellung von Landwirtschaft ohne moderne Dünge- und Pflanzenschutzmittel und entsprechend geringeren Erträgen unterstützen und damit konventionellen Landwirt*innen ihr Existenzrecht abspricht.

 

1. Ziele einer sozialdemokratischen Agrarpolitik

Sozialdemokratische Landwirtschaftspolitik hat einen weiteren, globaleren Blick als das. Sie hat den Schutz von Umwelt, Klima und Ressourcen zum Ziel. Außerdem schaut sie nicht nur auf Konsument*innen und Produzent*innen im Agrarbereich in Deutschland und der EU, sondern weltweit und denkt besonders die Verbindungen zu internationaler Klima- und Handelspolitik mit. Wie alle Politikbereiche muss sich auch die Agrarpolitik zu den Sustainable Development Goals (SDGs) der UN bekennen und ihren Beitrag zu deren Erreichen leisten. Außerdem erkennt sie auch die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Stadt und auf dem Land, sowie die Relevanz des ländlichen Raums für die Energiegewinnung aus erneuerbaren Ressourcen als ihre Aufgabe an.

 

Umweltschutz

Der Landwirtschaft kommt eine besondere Rolle beim Klimaschutz zu: Allein die globale Tierproduktion stößt nach Schätzungen der FAO 14,5% aller Treibhausgase (THG) aus. Andere Studien kommen auf bis zu 25%. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) geht für das Industrieland Deutschland, mit seinem vergleichsweisen kleinen Agrarsektor, davon aus, dass die Landwirtschaft direkt rund 8 % und wenn Produktion und Gebrauch von Mineraldünger einbezogen wird sogar 15 % des deutschen Treibhausgasausstoßes verursacht. Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, müssen wir an allen verfügbaren Stellschrauben drehen! Dazu gehört, dass wir die Produktion und den Konsum tierischer Produkte in der EU erkennbar senken.

 

Darüber hinaus müssen wir CO2-Senken wie z.B. Moore und Feuchtwiesen schützen, pflegen und wiedervernässen, sowie klimafreundliche Produktionsmethoden und die Forschung an diesen fördern.

 

Weitere Aufgabe sozialdemokratischer Landwirtschaftspolitik ist der Schutz von Böden und Grundwasser. Auch hier sind die Herausforderungen vielfältig: In Teilen Südeuropas droht Wüstenbildung, in anderen sind Böden und Grundwasser durch hohe Mengen an Gülle stark belastet. In vielen Böden ist durch intensive Bearbeitung der Humusgehalt und damit die Biodiversität und Fruchtbarkeit gefährdet. Des Weiteren stellen uns Ressourcenkreisläufe bei Stickstoff und Phosphat sowie eine abnehmende Biodiversität, insbesondere das Insektensterben, vor Probleme, die es zu lösen gilt.

 

Ethischer Umgang mit Tieren

Als moderne Gesellschaft müssen wir uns fragen, ob wir es weiterhin gutheißen können, dass Nutztiere unter quälenden Bedingungen gehalten werden, die ihnen ein arttypisches Verhalten unmöglich macht. Das betrifft neben der Stallgröße, unter anderem die Herdengröße und tatsächlich möglicher Ausgang ins Freiland. Auch ist uns klar, dass das Schreddern männlicher Küken, das Kupieren von Schweineschwänzen oder die Trennung von Jung- und Muttertieren nicht weiter als notwendige Eingriffe bei der Tierhaltung hinzunehmen sind. Heute gängige Züchtungs- und Fütterungspraktiken führen dazu, dass Tiere schon nach einem Bruchteil ihrer natürlichen Lebenserwartung ihr Schlachtgewicht erreichen. Dass ein Großteil der „konventionellen“ Tierproduktion nur mit einer inflationären Gabe von Medikamenten, insbesondere Antibiotika und mit der teilweisen Amputation von Schnäbeln und Schwänzen funktionieren kann, ist Beweis genug, dass diese „konventionelle“ Tierhaltung mit dem Tierwohl nicht vereinbar ist.

 

Die EU-Landwirtschaft im globalen Kontext

Als eine der reichsten Regionen der Welt mit einem großen Industriesektor muss sich die EU fragen, ob sie auch im Bereich Landwirtschaft den Wettbewerbsvorteil haben muss und ob das die enormen Subventionen wert sind. In der EU befinden sich einige der besten Flächen, um Landwirtschaft zu betreiben und natürlich kann die EU auch nur bei der Landwirtschaft in ihren Mitgliedsstaaten Vorgaben zu Umwelt- und Klimaschutz und Gesundheitsstandards in der Produktion machen, nicht jedoch bei importierten Nahrungsmitteln. Wenn diese Vorgaben zu hoch sind und aufgrund fehlender finanzieller Stützung die europäischen Produzent*innen nicht mehr wettbewerbsfähig sind, wird auch diese Möglichkeit wegfallen.

 

Dennoch muss sich die EU bewusstmachen, dass gerade die Landwirtschaft für viele Länder im Globalen Süden eine Einstiegsmöglichkeit darstellt, um am globalen Handel teilzunehmen und wirtschaftlich zu wachsen. An dieser Stelle sollen Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen die Subventionierung europäischer Landwirt*innen ergänzen, die landwirtschaftlichen Produzent*innen weltweit zu Gute kommen, beispielsweise zur Produktivitätssteigerung, Ressourceneinsparung (inkl. Fläche) und Anpassung an den Klimawandel um die Herausforderungen einer wachsenden Weltbevölkerung begegnen zu können. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof, die neue Technik CRISPR/Cas9 mit herkömmlicher Gentechnik gleichzusetzen, ist eine verpasste Gelegenheit und stellt ein Hindernis für Fortschritte in der globalen Agrarwirtschaft dar. Grüne Gentechnik bietet gerade in Zeiten des Klimawandels für Landwirt*innen und Konsument*innen in der EU und der Welt große Potentiale. Es darf nicht sein, dass diese Potentiale in der Hand einiger weniger Riesenkonzerne liegen, die durch Patente auf Saatgut und die Kopplung an bestimmte Pestizide, Herbizide und Düngemittel die Abhängigkeit der Landwirt*innen sichern.

 

Konsument*innenschutz

In der Linie mit anderen Bereichen des europäischen Binnenmarkts ist es wichtig, dass auch im Bereich Ernährung EU-weite, hohe Standards gelten, was Sicherheit und Gesundheit anbelangt. Aktuelle Herausforderungen umfassen neben diesen außerdem die Verringerung von Lebensmittelverschwendung auf allen Stufen der Produktion und des Konsums, ebenso wie eine Verschiebung von Konsummustern hin zu einer höheren Umweltfreundlichkeit, durch u.a. den verringerten Konsum tierischer Produkte.

 

Durch das vermehrte Vorkommen multi-resistenter Keime ist es darüber hinaus dringend notwendig, endlich das Problem des inflationären Gebrauchs von Antibiotika und auch Reserve-Antibiotika in der Landwirtschaft anzugehen!

 

Gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land

In vielen Mitgliedsstaaten sind die Löhne in der Landwirtschaft und insgesamt im ländlichen Raum niedriger als der Durchschnitt. Hinzu kommt, dass die Infrastruktur auf dem Land an vielen Stellen deutlich schwächer ist: Das senkt nicht nur die Lebensqualität der Menschen auf dem Land, sondern stellt auch eine Hürde für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Räume dar.

 

Energiegewinnung:

Vor dem Hintergrund der Förderung erneuerbarer Energien ist für viele Landeigentümer*innen die Nutzung ihrer Flächen neben der Landwirtschaft zur Nahrungsmittelerzeugung auch die Biomasseproduktion oder für Sonnen- und Windenergieanlagen attraktiv geworden. Die EU muss im Rahmen ihrer Klimapolitik einen Weg finden, die Flächenkonkurrenz à la „Teller oder Tank“ gegeneinander abzuwägen und einen Klimaschutz aus einem Guss entwerfen.

 

2. Instrumente einer sozialdemokratischen Agrarpolitik

Angesichts der globalen Relevanz dieser Aufgaben bekennen wir uns zur EU als richtige Politikebene um die Ziele in diesem Bereich festzulegen. Wir wissen schon lange, dass es keinen Sinn ergibt beispielsweise den Klimawandel auf nationaler Ebene zu bekämpfen. Dafür braucht es globale, mindestens jedoch europäische Pläne. Aufgrund der unterschiedlichen landschaftlichen und klimatischen Begebenheiten in der EU ist es aber wichtig im Sinne des Subsidiaritätsprinzips den Mitgliedsstaaten Freiheiten bei der Nutzung der zur Verfügung gestellten Instrumente zu geben.

Das Instrumentarium der GAP funktioniert aktuell eher nach dem Prinzip „Gießkanne“ und richtet sich wenig an den formulierten Zielen aus. Bei der Höhe des Agrarbudgets von ca. 58 Mrd. € (40 % des Gesamtbudgets der EU), ist dieser Umstand noch erschreckender: Wir stehen so gigantischen Herausforderungen gegenüber, die unsere Zukunft maßgeblich beeinflussen werden und viele dieser Probleme können wir mit einer zielgerichteten Landwirtschaftspolitik angehen. Wir können es uns daher nicht leisten auch nur einen der 58 Mrd. Euro ohne jeglichen Effekt versickern zu lassen!

Entsprechend ist es dringend notwendig, die GAP für die Zeit nach 2020 zu überarbeiten und ihre Instrumente auf die vorhandenen und kommenden Herausforderungen auszurichten.

 

Dazu fordern wir:

 

Öffentliche Gelder gibt es nur für öffentliche Leistung.

Wir fordern das Abschmelzen der ersten Säule der GAP. Ein Teil der frei werdenden Mittel soll zugunsten der zweiten Säule eingesetzt werden: Direktzahlungen, die einfach pro Hektar gezahlt werden, gehören abgeschafft. Wir wollen Landwirt*innen für ihre Leistungen im Bereich Landschaftspflege, Umwelt- und Klimaschutz sowie Tierschutz u.ä. entlohnen und Anreize dafür setzen, in diesen Bereichen noch mehr zu leisten. Dies soll über das bisherige Maß hinaus durch regulatorische Maßnahmen sowie mit einem Teil der finanziellen Mittel geschehen, die bisher im Rahmen der ersten Säule verwendet werden. Wenn Landwirt*innen ihre Produktion zugunsten einer besseren Klima- und Umweltbilanz verändern, müssen sie dafür angemessen entlohnt werden. Die Höhe der Zahlungen muss sich am Wert der Leistungen der Landwirt*innen für Umwelt, Klima und Gesellschaft bemessen. Nur so bekommen wir einen funktionierenden Markt, bei dem sich alle Akteur*innen am gesellschaftlichen, nicht am privaten wirtschaftlichen Optimum orientieren.  Die Greening-Kosmetik, die die jetzige GAP bietet, reicht nicht aus und setzt teilweise sogar falsche Anreize!

 

Um eine kohärente Klima- und Umweltpolitik zu haben, dürfen diese Zahlungen aber nicht nur auf den Agrarsektor beschränkt bleiben: Jede*r Produzent*in, egal ob in der Landwirtschaft tätig oder in einem anderen Bereich, soll für Leistungen, die der Öffentlichkeit zu Gute kommen, die aber nicht auf dem Markt entlohnt werden, vom Staat entlohnt werden. Hierbei spielt es keine Rolle, ob besondere Leistungen für die Biodiversität bei dem Einbezug geschützter Wiesenflächen durch die Umplanung eines Ackers, eines Friedhofs oder Flughafens erbracht werden.

 

Es braucht stärkere öffentliche Anstrengungen, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. Dazu gehört, den Konsum tierischer Produkte in der EU erkennbar zu senken. Dabei muss eine soziale Diskriminierung verhindert werden. Bei den drängenden Problemen des Klimawandels können wir diesen Bereich bei unseren Anstrengungen nicht einfach ausklammern. Hier kann die Subventionierung besonders klimafreundlicher Lebensmittel ein Instrument sein, genauso wie die Einführung einer Klimaabgabe auf Lebensmittel, deren Produktion besonders viele Treibhausgase freisetzt.

 

Die Sozialdemokratie wird sich auf den entsprechenden Ebenen außerdem dafür einsetzen, Glyphosat zum nächstmöglichen Zeitpunkt in der EU zu verbieten, sollte es bis dahin keine wissenschaftlich einwandfreien Studien geben, die die langfristige Nicht-Schädlichkeit belegen. Das bezieht sich auf die Gesundheit von Produzent*innen und Konsument*innen, wie auch auf die Biodiversität, vor allem auf den Insektenschutz.

 

Wir fordern außerdem die umfangreiche finanzielle Förderung von Forschung im Bereich der Agrarwissenschaften und grüner Gentechnik an Universitäten und öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen, sowie verbesserte Möglichkeiten für öffentliche Einrichtungen, neue gentechnisch veränderte Pflanzen im Feld zu testen.

 

Mehr Tierwohl in der EU

Um endlich die Standards in der Tierhaltung ausreichend zu erhöhen, brauchen wir neue, verbindliche, strenge Regelungen, deren Einhaltung besser kontrolliert wird. Freiwillige Selbstverpflichtungen und noch ein Label reichen uns nicht aus, da das keine Instrumente sind, die wirkliche und flächendeckende Besserung bringen!

 

Gesundheit von Konsument*innen

Medikamente, insbesondere Antibiotika dürfen nicht mehr durch die Tierärzt*innen selbst verkauft werden. Des Weiteren dürfen Tiere, die eine Antibiotikatherapie erhalten haben, nicht wieder in den Lebensmittelmarkt eingeführt werden. Dies gilt auch für Erzeugnisse dieses Tieres. Diese Praxis setzt aktuell den Anreiz, Antibiotika und andere Medikamente zu oft und in zu großen Mengen zu verschreiben, da die verschreibenden Tierärzt*innen durch den Verkauf daran zusätzlich verdienen können. Leider hat das Verbot, ganze Herden auf einmal mit Antibiotika zu medikamentieren, bisher kaum Wirkung gezeigt und wird viel zu oft umgangen. Die Einhaltung dieses Verbots muss stärker kontrolliert werden, um die Resistenzbildung von Keimen nicht noch zu beschleunigen.

 

Gleichwertige Lebensbedingungen in Stadt und Land

Einkommenssicherung muss auch für Landwirt*innen stattfinden, allerdings im Rahmen der Sozialpolitik der EU und der Mitgliedsstaaten. Die Idee, diesen Transfer über Direktzahlungen über die Fläche gewährleisten zu wollen, ist absolut nicht sinnvoll: Zum einen erhalten flächenmäßig große Betriebe mehr Zahlungen und nicht die schlechter verdienenden Landwirt*innen, wie es die Solidarität gebieten würde. Zum anderen, schlagen Landeigentümer*innen die Zahlung in der Regel direkt auf den Pachtpreis für das Land auf. Dies betrifft Deutschland noch mehr als andere Mitgliedsstaaten, denn hier sind besonders viele Landwirt*innen nur Pächter*innen und nicht Eigentümer*innen des von ihnen bewirtschafteten Lands. Eine Umverteilung nach sozialen Gesichtspunkten kann mit Direktzahlungen pro Fläche also gar nicht stattfinden.

 

Wie in allen anderen Wirtschaftsbereichen, tragen auch in der Landwirtschaft die Selbstständigen das unternehmerische Risiko selbst. An dieser Stelle kann geprüft werden, ob es im Rahmen der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) sinnvoll ist, auch für Landwirt*innen Programme zur Minderung des unternehmerischen Risikos aufzulegen, wie beispielsweise der Förderung von Versicherungen gegen Ernteausfälle.  Ziel dieser Förderung von KMU soll der Arbeitsplatzerhalt und eine Vermeidung zu hoher Konzentration einiger weniger Produzent*innen sein.

Antrag 41/II/2018 Wirtschaft demokratisieren - Betriebsräte stärken!

11.10.2018

Die Gewerkschaften und die SPD haben ihre gemeinsamen Wurzeln im 19 Jahrhundert. Dabei haben es sich die Gewerkschaften zur Aufgabe gemacht, innerbetrieblich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine Erhöhung der Löhne zu kämpfen. Die SPD kämpft ursprünglich außerbetrieblich für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Obwohl diese unterschiedlichen Schauplätze sich gegenseitig beeinflussen und voneinander abhängig sind, haben sich die Gewerkschaften allmählich von der Partei, die ihnen originär nahe steht, distanziert. Hat der DGB früher noch in Form von Wahlprüfsteinen deutliche Sympathien einer Partei gegenüber geäußert, hagelt es jetzt deutliche Kritik. Dies hat jedoch nicht zu einem naheliegenden Effekt geführt. Menschen, die die Gewerkschaften aufgrund ihrer Nähe zur Sozialdemokratie ablehnten, haben trotzdem keinen Mitgliedsantrag der Gewerkschaften ausgefüllt.

 

Die SPD hat sich mit ihrem neoliberalen Weg weit entfernt von dem Klientel, welches einmal Gewerkschafter*innen und Sozialdemokrat*innen in einer Person verband.

 

Beide Seiten haben nicht ganz unabhängige Bestands- und Akzeptanzprobleme in der Gesellschaft. Sinkende Mitgliederzahlen und eine andauernde Identitätssuche belasten die SPD und die Gewerkschaften seit geraumer Zeit. Die SPD hat zusätzlich dazu mit erheblichen Wähler*innenverlusten zu kämpfen. Die Gewerkschaften hingegen müssen unter immer schwierigeren Rahmenbedingungen des postindustriellen Kapitalismus Tarifpolitik betreiben und versuchen, die Position der Arbeitnehmer*innen zu stärken. Mit dem wachsenden Dienstleistungssektor hat sich auch die Mitgliederstruktur der Gewerkschaften gewandelt.

 

Arbeitnehmer*innen entscheiden sich immer seltener dazu, Mitglied in einer Gewerkschaft zu werden, auch weil sie deren Nutzen nicht mehr sehen. Jedoch sind Gewerkschaften in ihren originären Branchen (wie z.B. Metall- und Elektroindustrie) weiterhin sehr stark. Dies hängt unmittelbar mit dem Organisationsgrad zusammen.

 

Ein konkretes Gut, dass unter anderem aus der historischen Beziehung zwischen Gewerkschaften und SPD hervorgehen, ist die betriebliche Mitbestimmung. Sie existiert in ihren Vorläufen bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts. Sie begann als Form von „Arbeiterausschüssen“, die ein Anhörungsrecht in sozialen Fragen hatten.  Dieser erste Meilenstein entwickelte sich in den kommenden Jahrzehnten zu immer mehr Mitspracherecht. Jedoch nicht aus Wohlwollen, sondern als die notwendige Konsequenz von blutigen Auseinandersetzungen mit zwei Dutzend Toten, wurde 1920 auf Initiative der Sozialdemokratie das „Betriebsrätegesetz“ verabschiedet. Dieses sah eine Betriebsratpflicht in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten vor. Dieser Entwurf blieb jedoch weit hinter den Forderungen der Gewerkschaften zurück. Nachdem zur Zeit des Nationalsozialismus jegliche Form von Mitbestimmung zerschlagen wurde, konnten die Arbeiter*innen 1951 einen riesigen Erfolg feiern. Das bis heute geltende „Montan-Mitbestimmunggesetz“ für Kohle- und Stahlunternehmen trat in Kraft. Es besagt, dass in den betroffenen Unternehmen vollparitätisch besetzte Aufsichtsräte ohne Doppelstimmrecht gebildet werden müssen. Dieser Erfolg kann als erster und Versuch gewertet werden, die Belastung von Kapital und Arbeit gerecht zu verteilen, zumindest in Unternehmen. Bis heute sind die Arbeiter*innen der Montanindustrie, vertreten durch ihre Spartengewerkschaften IG Metall und IG BCE, die mit dem höchsten Organisationsgrad innerhalb einer Branche. Die Vorteile einer gut funktionierenden Mitbestimmung und einem hohen Organisationsgrad, kann man in den kontinuierlich, wenn auch teilweise kleinen, Erfolgen in dieser Industrie beobachten. Besonders im Bereich der Verkürzung der Arbeitszeit und der verbesserten betrieblichen Altersvorsorge ist die Belegschaft der Montanindustrie Vorreiter*in.

 

Betriebsräte sind Eckpfeiler der Betriebskultur in Deutschland, und das mit gutem Grund: Betriebe mit Betriebsräten zahlen im Schnitt höhere Gehälter, haben eine stabilere Belegschaft mit wesentlich weniger Kündigungen, und ihre Mitarbeiter*innen nehmen sich öfter Urlaub und gehen öfter in Elternzeit.

 

Um langfristig die Arbeitnehmer*innen in ihrer Position zu stützen, müssen die Gewerkschaften und Betriebsräte in den Betrieben in der Wiederherstellung ihrer Kampfkraft unterstützt und ihre Kompetenzen in Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik genutzt werden, um gegen neoliberale Vorstellungen vorzugehen.

 

Demokratisierung: das Gegengift zum Neoliberalismus

 

Zusätzlich zu all den direkten Vorteilen, die Betriebe mit aktiven und engagierten Betriebsräten genießen, gibt es auch gesamtgesellschaftliche, strukturelle Gründe betriebliche Mitbestimmung und demokratische Strukturen in der Wirtschaft zu stärken: den Kampf für die Demokratisierung der Gesellschaft und den Kampf gegen den Neoliberalismus.

Demokratie beschränkt sich für uns Jusos nicht auf die Stimmabgabe an der Wahlurne zu Bezirks-, Kommunal, Landtags- Bundestags- und Europaparlamentswahlen. Stattdessen erreichen wir das Ziel einer Gesellschaft der Freien und Gleichen erst, wenn alle Lebensbereiche demokratisiert sind. Das bedeutet für uns, dass demokratische Partizipation insbesondere in Strukturen und Organisationen zu fördern ist, die besonders oft hierarchisch geprägt sind. Dazu gehört vor allem das Arbeitsleben. Für die Förderung demokratischer Strukturen am Arbeitsplatz ist deshalb die Stärkung der Betriebsräte und ihrer Mitbestimmungsbefugnisse essentiell.

Neoliberale Theoretiker*innen verachten jedoch demokratische Strukturen in der Wirtschaft, insbesondere Gewerkschaften und Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmer*innen in Unternehmen. Als “Partikularinteressen”, die lediglich die ordnenden und selbst-regulierenden Kräfte des Marktes behindern, sollen Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmer*innen eingeschnitten und am besten ganz abgeschafft werden. Die Intellektuellen Vorbilder liberaler und auch vieler konservativer Politiker*innen forderten einen Staat, der Arbeitnehmer*innen-Interessen im Keim erstickt, der sich dem Diktat des freien Kapitals unterwirft, und im Zweifelsfall jede wahrgenommene Behinderung jenen Kapitals mit Gewalt – strukturell und unmittelbar – unterdrückt.

 

Dieser Konflikt ist besonders sichtbar in jenen Branchen, die den neoliberalen Logiken von absoluter Konkurrenz, Investor*innenhörigkeit, und Flexibilisierung im Sinne der Arbeitgeber*innen besonders folgen. Betroffen sind davon insbesondere Startups und Agenturen sowie die Kreativwirtschaft im Allgemeinen. Hier steht betriebliche Mitbestimmung besonders im Fadenkreuz, da die Existenz von Betriebsräten potentielle Investor*innen abschrecken kann. Da insbesondere viele Startups von der Förderung durch Investor*innen abhängig sind, umgehen daher viele die betriebliche Mitbestimmung. Erst ab einer Größe von 100 Mitarbeiter*innen stehe oftmals die Einrichtung eines Betriebsrats zur Diskussion. In Branchen, die stark von Investor*innen abhängig sind, ist die Lage betrieblicher Mitbestimmung daher besonders prekär. Gerade deswegen braucht es gesetzliche Rahmenbedingungen, denen sich Arbeitgeber*innen und Investor*innen nicht entziehen können! Ist betriebliche Mitbestimmung keine Option, sondern eine Pflicht, ist es egal was Investor*innen fordern.

 

Demokratische Strukturen auch in der Wirtschaft verpflichten!

 

Die Wahlen zu Betriebsräten sind im Betriebsverfassungsgesetz bereits rechtlich abgesichert. Dennoch bestehen einige gesetzliche Lücken, die den demokratischen Prozess erschweren können. Folgende Schritte sind in der Regel Teil des Wahlprozesses:

 

Ein Betrieb ist betriebsratsfähig, wenn in der Regel mindestens fünf Arbeitnehmer*innen in ihm beschäftigt sind, von denen drei wählbar sein müssen. Mindestens drei wahlberechtigte Arbeitnehmer*innen des Betriebs berufen eine Betriebsversammlung ein. Auf dieser Betriebsversammlung wird durch die wahlberechtigten und teilnehmenden Arbeitnehmer*innen ein Wahlvorstand bestimmt. Der einbestellte Wahlvorstand hat anschließend die Aufgabe, unverzüglich Wahlen einzuleiten, durchzuführen und die Ergebnisse festzustellen.

Besteht in einem Betrieb bereits ein übergeordneter Betriebsrat ist es laut §17 Absatz 1 des BetrVG möglich, dass dieser einen Wahlvorstand bestellt. Die Kosten für diese Wahl trägt der*die Arbeitgeber*in.

 

Für Arbeitnehmer*innen stellt es ein Risiko dar, sich in diesem Prozess einzubringen. Daher hat der*die Gesetzgeber*in einen besonderen Kündigungsschutz für Mitglieder des Betriebsrats, Mitglieder des Wahlvorstands ab Zeitpunkt der Bestellung, Wahlbewerber*innen bis zum Zeitpunkt der Verkündung des Wahlergebnisses und Mitarbeiter*innen, die die Betriebsversammlung einberufen, erlassen. Dieser Kündigungsschutz besteht solange kein wichtiger Grund vorliegt, der die Nichteinhaltung berechtigt (§ 15 Abs. 3 KSchG).

 

Im Verlauf der Gründung eines Betriebsrats setzen Arbeitgeber*innen verschiedene Methoden ein, um dies zu verhindern. Beim sogenannten Union Busting werden Betriebsräte und gewerkschaftliche Organisierung systematisch bekämpft. Manche Betriebe engagieren dafür eigens darauf spezialisierte Anwaltskanzleien. Ein beliebtes Mittel ist das Bespitzeln und Einschüchtern von Betriebsratskandidat*innen. Häufig werden auch fristlose Kündigungen ausgesprochen – im Bewusstsein, dass dies illegal ist. Ein weiteres Mittel ist die Zerschlagung bzw. Auslagerung von Unternehmensteilen in einzelne, rechtlich (scheinbar) unabhängige Gesellschaften.

 

Mit unserem Vorschlag wollen wir vor allem den Prozess vor der Bestimmung des Wahlvorstandes absichern. Oftmals ist den Arbeitgeber*innen bekannt, welche Mitarbeiter*innen eine Betriebsratsgründung unterstützen. Um die Unterstützung aufzubrechen, können diese Meinungsführer*innen in andere Abteilungen verschoben und die Zusammensetzung der gesamten Belegschaft derart verändert werden, dass Absprachen und Solidarität untereinander verhindert werden. Zudem drohen Arbeitgeber*innen häufig damit, Betriebsteile ins Ausland zu verlagern oder die Insolvenz eines Betriebsteils anzumelden.

 

Indem wir eine regelmäßige Betriebsversammlung einführen und die Wahl eines Wahlvorstandes verpflichten, sind innerhalb der Belegschaft weniger Absprachen und Organisation notwendig. Das Einberufen einer Versammlung, sowie die Bereitstellung zur Mitarbeit im Wahlvorstand und das zur-Wahl-Stellen wird damit weniger zu einer Gefahr für die Mitarbeiter*innen, was ihre demokratische Mitbestimmung und somit die Gründung von Betriebsräten erleichtert.

 

Wir fordern daher, dass der*die Arbeitgeber*in, sofern noch kein Betriebsrat für sein Unternehmen existiert, verpflichtet ist, jährlich eine Betriebsversammlung einzuberufen. Auf dieser Betriebsversammlung wird der Wahlvorstand für die in einem zweiten Schritt durchzuführende Betriebsratswahl gewählt oder von einem schon existierenden Gesamt- oder Konzernbetriebsrat bestellt. Die Ausgestaltung und Organisation der Betriebsversammlung soll dabei von dem Gesamt- oder Konzernbetriebsrat oder in Ermangelung eines solchen von im Betrieb vertretenen Gewerkschaftsmitgliedern oder einer*einem anderen Arbeitnehmer*in in seinem Betrieb übernommen werden. Der*die Arbeitgeber*in ist dazu verpflichtet, zur Organisation und Durchführung der Betriebsversammlung geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Diese Regelung gilt solange kein Betriebsrat in dem Unternehmen gegründet wurde.

 

Das vorgeschlagene Modell entspricht einer Betriebsratspflicht. Das Unternehmen ist verpflichtet eine Gelegenheit für die Wahl eines Betriebsrats zu schaffen, indem es die Organisation der Wahlversammlung und des Wahlvorstands in die Wege leitet.

Damit orientieren wir uns an dem französische Modell, das eine ähnliche Regelung vorsieht. Mit dem Unterschied, dass diese Pflicht erst in Betrieben gilt, die innerhalb der letzten drei Jahre mehr als 50 Mitarbeiter*innen beschäftigten.

 

Sanktionen gegen kriminelle Arbeitgeber*innen konsequent durchsetzen!

 

Die gesetzlich festgeschriebenen Strafen bei der Behinderung von Betriebsratsgründungen oder der Arbeit von Betriebsräten sind zwar faktisch vorhanden, werden jedoch so gut wie nie umgesetzt. Nach §119 des BetrVG können Arbeitgeber*innen bei einem solchen Vorgehen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr und/ oder einer Geldbuße sanktioniert werden. Nach Zahlen des statistischen Bundesamtes wurden zwischen 2007 und 2016 jedoch lediglich 63 Menschen wegen Verstößen nach §119 BetrVG angeklagt.

 

Dem gegenüber stehen die dramatischen Zahlen, welche Gewerkschaften über Zwischenfälle in der betrieblichen Mitbestimmung vorliegen. Alleine nach den Statistiken von IG Metall und IG BCE kommt es bei rund 16% der Neugründungen von Betriebsräten zu gezielten Störmaßnahmen der Arbeitgeber*innen. Je nach Branche haben 30- bis 50% aller Betriebsräte schon einmal Störungen in der Betriebsratsarbeit bei ihrer Gewerkschaft gemeldet; die Dunkelziffer ist sicherlich noch um einiges höher. Nur 11 Verurteilungen in 10 Jahren gegenüber einer derartigen Institutionalisierung in der Sabotage von Betriebsräten ist ein klares Signal an kriminelle Arbeitgeber*innen: immer weiter so!

 

Deshalb schließen wir uns dem DGB an und fordern die Einrichtung ständiger Schwerpunktstaatsanwaltschaften im Bereich Arbeitsrecht. Diese müssen sicherstellen, dass Verfahren schnell bearbeitet werden, Betroffene bei der Beweissicherung unterstützt werden, und straffällige Arbeitgeber*innen konsequent mit Strafverfahren konfrontiert werden. Kommt das Verfahren zu dem Schluss, dass die Arbeitgeber*innen ihren Pflichten nicht nachgekommen sind – etwa keine Betriebsversammlung ausgerufen haben oder die Gründung/Arbeit des Betriebsrats verhindert haben – müssen diese sanktioniert werden.

 

Schluss mit “teile und herrsche”: Franchises und Sub-Unternehmen zu unternehmerischen Einheiten zusammenführen!

 

Ein weiterer Grund zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, ist das System der Franchises und Subunternehmen. Das Unternehmen spaltet sich dabei in Regionalgesellschaften, selbständige Händler*innen und eine Zentrale auf. Dabei werden nur die Mitarbeiter*innen in den von den Regionalgesellschaften geführten Märkten auf der Grundlage eines Tarifvertrages entlohnt. Die Filialen der vielen Händler*innen unterliegen hingegen keiner Tarifbindung. Dadurch können die Mitarbeiter*innen zum Beispiel geringer entlohnt werden oder es können weniger Urlaubstage bezahlt werden, als bei den Filialen der Regionalgesellschaften. Dies sorgt für eine Ungleichheit zwischen den verschiedenen Filialen, obwohl überall ein Markenname verwendet wird. Darüber hinaus gibt es kein konzernweites Mitspracherecht für Betriebsräte. Gesamtbetriebsräte oder Konzernbetriebsräte gibt es nur bei den Regionalgesellschaften. Da es sich aber bei den Filialen der Regionalgesellschaften und der Händler*innen um dasselbe Franchise handelt, sollte das Betriebsverfassungsgesetz dementsprechend angepasst werden. So sollten Unternehmen mit filialisierten Strukturen als eine Unternehmerische Einheit gelten, welche vor dem Betriebsverfassungsgesetzes die selben Rechten und Pflichten besitzen, wie ein normales Unternehmen.

 

Deshalb Fordern wir:

  • In Betrieben mit mindestens fünf Mitarbeiter*innen ist die*der Arbeitgeber*in, solang in den Betrieb kein Betriebsrat existiert, verpflichtet, einmal im Jahr eine Betriebsversammlung einzuberufen und die Ausgestaltung, Organisation und Leitung dem Gesamt- oder Konzernbetriebsrat oder in Ermangelung solcher einem*einer Vertreter*in der Gewerkschaft oder einer*einem anderen Arbeitnehmer*in in seinem Betrieb zu übertragen bzw. der*die Vertreter*in der Gewerkschaft ist nach der Maßgabe des Tarifeinheitsgesetzes auszuwählen.
  • Kommt die Arbeitgeber*in dieser Pflicht nicht nach werden die aktuell gültigen Sanktionen von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe und/oder einer Geldbuße angewandt.
  • An allen Landgerichten in Deutschland sollen Schwerpunktstaatsanwaltschaften im Bereich Arbeitsrecht geschaffen werden. Dies sollen dazu führen, dass gegen Behinderungen bei der Gründung- oder der Arbeit von Betriebsräten seitens der Arbeitgeber*innen schneller ermittelt wird, Belegschaften in der Beweissicherung unterstützt werden, es ggf. schneller zur Anklage kommt, und schlussendlich alle Verstöße auch zu Verurteilungen führen.
  • Franchises sollen arbeitsrechtlich als eine unternehmerische Einheit gelten, sodass auch auf den obersten Ebenen Arbeitnehmer*innen adäquat vertreten werden können, und ihre Mitbestimmungsrechte wahrnehmen können.

 

Weiterhin fordern wir, dass Instrumente und Strategien zur besseren Information und Kommunikation über betriebliche Mitbestimmung sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Betrieben ausgebaut werden.

Antrag 166/II/2018 Im Zeitalter der neuen Technologien: Freiheit, Privatsphäre und uns schützen!

11.10.2018

Umgang, Einsatz und Auswirkungen von neuen Technologien allgemein:

Neue Technologien bieten vielfältige Möglichkeiten unser gesellschaftliches Miteinander neu zu gestalten. Sie können jedoch keine pauschale Lösung anbieten. Vor dem staatlichen Einsatz einer neuen Technologie muss fallspezifisch für jede Einzelne abgewogen werden, ob die Anwendung der Technologie eine Verbesserung zum Status Quo darstellt. Dabei sollten folgende fünf Punkte bedacht werden:

  1. Neue Technologien bieten oft vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Fragen und können somit politisch gut vermarktet werden. In der medialen Darstellung mag ein Schlagwort die „Lösung“ darstellen, in der Realität greifen diese jedoch oft zu kurz. So werden zum Beispiel Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung von Terror und Videoüberwachung gegen Drogen- und Bandenkriminalität präsentiert. Es ist offensichtlich, dass dies negative Erscheinungen komplexer gesellschaftlicher Prozesse sind, die nicht durch eine einzelne plakative Maßnahme gelöst werden können. Es wird vergeblich probiert, mit technischen Ansätzen soziale Probleme zu lösen. Allenfalls tragen diese Maßnahmen jedoch zur Bekämpfung der oberflächlichen Symptome bei.
  2. Neue Technologien produzieren Daten und erlauben es, diese zu verarbeiten. Wenn diese Daten einmal vorhanden sind, ist es schwer ihren Missbrauch zu verhindern. Zum einen ist es für Bürger*innen schwer herauszufinden, welche Daten von ihnen erfasst und gespeichert werden. Zum anderen schafft jeder Datensatz auch immer ein Missbrauchspotential. Es existieren zwar Regeln und Kontrollorgane (Parlament, Verfassungsgericht), um das Überschreiten von Zuständigkeiten wie dem unerlaubten Eingriff in die Privatsphäre und Datenschutz-Verletzungen zu verhindern. Die Vergangenheit zeigt jedoch, dass es trotzdem immer wieder zu Missbrauch kommt. So haben einige Berliner Polizist*innen die Polizeidatenbank POLIKS auch genutzt um Nachbar*innen und Kolleg*innen auszuspionieren. Bürger*innen müssen darauf vertrauen, dass Behörden die Daten nicht unzweckmäßig verwenden. Weiterhin können Daten durch Sicherheitslücken in falsche Hände geraten bzw. bei Verschiebung der vorherrschenden politischen Interessen oder einem Regime-Wechsel missbraucht werden. Da es keine Garantie gibt, dass mit den heute gespeicherten Daten in zehn Jahren nach den jetzigen Vorstellungen umgegangen wird, müssen nach dem Grundsatz der Datensparsamkeit jeweils so wenig Daten wie möglich erfasst werden. Außerdem müssen Strukturen aufgebaut werden, die einen Missbrauch innerhalb der Behörden effektiver verhindert.

 

Wir sehen eine Wandel von repressiven (aufklärende) zu präventiven (vorbeugenden) polizeilichen Maßnahmen. Hierbei stützen sich die präventiven Maßnahmen auf Daten und Algorithmen und nicht auf tatsächliche und individuelle Indizien. Die Gefahr ist, vor allem bei komplizierten Algorithmen, dass Verdachtsmomente und Grundrechtseingriffe nicht auf Fakten, sondern auf Statistik und Wahrscheinlichkeiten beruhend geschehen. Unbescholtene Verdächtigungen sind also unausweichlich.

 

  1. Digitale Ansätze erfordern meist eine hohe Abstraktion, weshalb es vielen Bürger*innen schwer fällt, inhaltlich der öffentlichen Diskussion zu folgen oder sich zu beteiligen. Viele Menschen fühlen sich überfordert und denken, ihr technisches Wissen reiche nicht, um an der Diskussion teilzunehmen. Aber auch Politiker*innen sind davon betroffen und lassen neue Technologien in Behörden einsetzen. Versprechungen von Herstellern werden geglaubt, insbesondere, wenn eine neue Technologie angeblich Zeit, Geld oder Arbeitsaufwand sparen kann. Die gefühlte Objektivität und Intransparenz einer durch den Computer empfohlenen Entscheidung führt insbesondere unter Zeitdruck zur Umsetzung der Handlungsempfehlung durch die Behörden, ohne weitere Prüfung. Dies kann zu fatalen Fehlentscheidungen führen, wie z.B. der unrechtmäßigen Abschiebung eines Kurden aus dem Irak, bei dem das BAMF eine Sprachanalysesoftware zur Erkennung der Muttersprache eingesetzt hat. Die Software kannte seine Muttersprache allerdings gar nicht. Ein positives Ergebnis war also von vorneherein ausgeschlossen. Die Auswirkungen eines Technologie-Einsatzes können jedoch Jede*n betreffen, weshalb es wichtig ist, Menschen im kritischen Umgang mit Technologie auszubilden, aber auch Bürger*innen mit Alltagswissen in den Prozess der Technologie-Anschaffung einzubeziehen.
  2. Des Weiteren sind gerade Entscheidungen „intelligenter“ Systeme weder für Benutzer*innen noch für Betroffene klar zu durchschauen. Machine-Learning-Algorithmen nutzen bestehende Datensätze, um Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel könnte ein intelligentes Videoüberwachungssystem auf die Kriminalstatistik zurückgreifen, um zu entscheiden, ob eine Person kontrolliert werden sollte. Ein bereits bestehender Bias innerhalb dieser Datensätze beispielsweise institutioneller Rassismus in Form von Racial Profiling wird durch diese Algorithmen reproduziert und verfestigt. Dies widerspricht unserem Verständnis von Rechtsstaat, in dem jegliche Verurteilung bzw. Verdächtigung auf realen Beweisen beruhen müssen und nicht aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeiten. Mit immer mehr Informationen, die Behörden zur Verfügung stehen, steigt außerdem die Wahrscheinlichkeit, dass sich darunter etwas Belastendes befindet. So könnte z.B. aus der Bekanntschaft mit einer Person aus vermeintlichen „Risikogruppen“ ein Verdachtsmoment konstruiert werden. Dies ermöglicht es, bei sehr vielen Menschen einen signifikanten Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Die präventiven Maßnahmen stützen sich auf Daten und Algorithmen und nicht auf tatsächliche und individuelle Indizien. Die Gefahr ist, dass Verdachtsmomente und Grundrechtseingriffe nicht auf Indizien, sondern auf Wahrscheinlichkeiten und Statistiken beruhen.
  3. Digitale Ansätze erfordern meist ein hohes Abstraktionslevel, weshalb es vielen Bürger*innen schwer fällt, inhaltlich der öffentlichen Diskussion zu folgen oder sich zu beteiligen. Viele Menschen fühlen sich überfordert, und denken, ihr technisches Wissen reiche nicht, um an der Diskussion teilzunehmen. Die Auswirkungen des Technologie-Einsatzes betreffen jedoch Jede*n, weshalb es wichtig wäre, Menschen durch digitale Bildung solche Fähigkeiten zu verleihen, aber auch Bürger*innen mit Alltagswissen einzubeziehen. Hinzu kommt, dass es (noch) wenig Nicht-Regierungsorganisationen gibt, die sich mit den Auswirkungen von Technik auf unsere Gesellschaft befassen und deshalb negative Folgen von neuen Technologien selten erkannt und thematisiert werden. In einer lebendigen Demokratie müssen alle Seiten ausreichend vertreten sein. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, die Empfehlungen von Expert*innen (z.B. CCC) bzgl. neuer Technologien und deren Einsatz in den politischen Entscheidungsprozess aufrichtig einzubeziehen.

5) Des weiteren sind die gesellschaftlichen Folgen vom Einsatz neuer Technologien schwer im Vorhinein abzusehen. So reproduzieren und verfestigen beispielsweise Machine-Learning Algorithmen bestehende Machtstrukturen. Hinzu kommt, dass unbekannt ist, wie diese Algorithmen zu ihren Ergebnissen kommen. Dies wiederspricht unserem Verständnis von Rechtsstaat, in dem jegliche Verurteilung bzw. Verdächtigung auf realen Beweisen beruhen muss und nicht aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeiten aufgemacht werden darf.

 

Aus den genannten Gründen halten wir eine gewisse Skepsis gegenüber neuen Technologien und kritisches Hinterfragen der Notwendigkeit ihres Einsatzes für unbedingt notwendig. Wir dürfen auf keinen Fall in einen Technologie-Optimismus verfallen und diesen für politische Zwecke nutzen ohne tiefergehend über Konsequenzen nachgedacht zu haben. Die obige Auflistung ist allgemein formuliert und da jede Technologie spezifische Risiken birgt, muss jeder Punkt im Einzelfall vor dem Einsatz einer neuen Technologie umfangreich geprüft werden.

 

Risiken und Nebenwirkungen von Videoüberwachung:

In Berlin gibt es derzeit im Zusammenhang mit dem Bürger*innenbegehren des Bündnisses für mehr Videoaufklärung eine hohe Aufmerksamkeit auf ebendieses Thema. Auch gibt es einen scheinbaren Rückhalt für diese Technologie innerhalb großer Teile der Bevölkerung.  Diese Befürwortung beruht allerdings darauf, dass durch geschickte Wortwahl ein generelles Unsicherheitsgefühl der Bürger*innen emotional umgedeutet und damit ein hohes Maß an Zustimmung erreicht. Es wird hier also eine vermeintlich simple Antwort als Patentlösung für ein komplexes Problem präsentiert. Allerdings wird die angesprochene Unsicherheit auf einen sehr eng gefassten Sicherheitsbegriff reduziert, der lediglich auf Straftaten im öffentlichen Raum konzentriert ist. Jedoch sind ein Großteil der existenten Bedrohungen für das subjektive (Zukunfts)sicherheitsgefühl der Bürger*innen nicht Straftaten, sondern viel alltägliche Ängste, wie die Angst vor Arbeitslosigkeit oder Wohnraumverdrängunng, wie auch bereits im Entwurf des Beschlusstextes „Sicher leben in Berlin – wir wollen Urbane Sicherheit!“ festgehalten. Wir befürworten deshalb diesen allumfassenderen Sicherheitsbegriff von „Urbaner Sicherheit“, der tatsächliche Ängste der Bevölkerung besser aufgreift.

 

Zum Sicherheitsbegriff gehört auch die Sicherheit vor willkürlichem Eingriff in die eigenen Rechte und die Privatsphäre durch den Staat.

 

Die Berliner SPD hat dabei bereits erkannt, dass die Bekämpfung von Straßenkriminalität hierbei nur die Symptombekämpfung ist, es aber eigentlich einer Beseitigung der sozialen Ursachen bedarf. Um handlungskompetent zu wirken, wird häufig jedoch weiterhin publikumswirksamen an dieser Symptonbekämpfung gearbeitet. Das Ausnutzen des großen Begriffs der Sicherheit für einen so stark verkürzten Anteil daran wurde unter anderem durch PR-Aktionen der Initiative für einen Volksentscheids für mehr Videoüberwachung erfolgreich als Gegenstand einer öffentlichen Debatte gesetzt und als Lösung für ein Sicherheitsproblem propagiert. Dieser Einschränkung des Sicherheitsbegriffs muss die Berliner SPD weiterhin entgegenwirken, da sie verkürzt, aber öffentlichkeitswirksam ist und die wahren Ursachen des Unsicherheitsgefühls verkennt. Die SPD darf diese Argumentation nicht einfach so übernehmen, sondern muss klarstellen, dass es sich dabei um Populismus handelt, der die eigentlichen Probleme und Unsicherheiten der Menschen nicht anfasst.

 

Natürlich ist die Verhinderung von Straftaten ein legitimes Interesse der Bürger*innen gegenüber dem Staat. Auch die Jusos Berlin wünschen sich eine Reduzierung der Kriminalität. Viel besser geeignet als Videoüberwachung zur Erreichung dieses Ziels sind jedoch andere Maßnahmen. Man könnte zum Beispiel Community Policing in Erwägung ziehen.

 

Das Ausbauen von Videoüberwachung bedeutet einen massiven Eingriff in die Persönlichkeitsrechte [1] und die Privatsphäre. Privatsphäre gilt es nicht nur zu schützen, weil dieses Grundrecht im Gundgesetz verankert ist, sondern auch weil eine verschwindende Privatsphäre zu mehr Konformität und im Extremfall einem Stillstand gesellschaftlicher Weiterentwicklung führt. Das große Paradoxon der Videoüberwachung ist, dass seit Jahren eine Grundrechtsbeschneidung zu Gunsten der Videoüberwachung zu beobachten ist, obwohl die Wirksamkeit der Videoüberwachung zur Verbrechensverhinderung– oder Aufklärung nicht wissenschaftlich belegt ist [2]. Das Risiko eines Missbrauchs der Daten, ein dauerhaftes Gefühl der Überwachung, Grundrechtseinschränkungen im Bereich der Bewegungs- und Meinungsfreiheit, die Begrenzung des Rechts auf Privatsphäre und die Gefahr eines falschen Alarms überwiegen den geringen Beitrag zur Aufklärung bei Weitem.  Wir opfern also die Grundpfeiler unser Demokratie für ein Instrument, dessen objektiver Nutzen nicht gegeben ist. Wir möchten klar festhalten, dass die Risiken und Nebenwirkungen, die mit dem Einsatz von Videoüberwachung einhergehen und die Einschnitte in die Grundrechte von Bürger*innen nicht gerechtfertigt sind. Im Ergebnis ist die Videoüberwachung also wenig geeignet zur Kriminalitätsbekämpfung. Sie ist weder erforderlich noch angemessen.

 

Wurde anfangs damit argumentiert, dass Videoüberwachung ein wirksames Mitel zur Verbrechendsvorbeugung und –bekämpfung sei, bezweifelt heute auf direkte Nachfrage keiner mehr, das Videoüberwachung letztlich nur verdrängende Effekte zeigt und möglicherweise das subjektive Sicherheitsgefühl erhöht. Dennoch werden Forderungen danach nicht hinterfragt.

 

Dass Videoüberwachung sich insbesondere in der Politik dennoch hoher Sympathie erfreut, liegt unseres Erachtens zum Einen daran, dass sie gut vermarktet werden kann. Ein einziges Verbrechen, dass mit Hilfe von Kameraaufnahmen aufgeklärt werden konnte, übertrumpft medial die großen Grundrechtseingriffe in das Leben aller Menschen, die dafür nötig waren. und verzerrt so das Bild der Wirklichkeit. Zum Anderen liefert sie den Entscheidern mehr Befugnisse und Informationen. Es besteht also ein gewisses Eigeninteresse des Staates an mehr Videoüberwachung.

 

Wir fordern eine aufrichtige Politik, die den Mut hat über die wirkliche Wirksamkeit und den wahren Wert von Videoüberwachung zu sprechen und gleichzeitig Schutzrechte des*der Bürger*in gegenüber dem Staat hoch genug hält sie dafür nicht zu beschneiden. Wir erwarten eine Politik, die den Wert der Grundrechte verteidigt und klar stellt, dass politische Sicherheit und Stabilität nur durch die Sicherung einer starken und emanzipierten Position der Gesellschaft erfolgen kann.

 

Wir sind nicht bereit Grundrechte abzugeben, um ein subjektives Sicherheitsgefühl von Teilen der Bevölkerung zu stärken, das aus sozialen Unsicherheiten entspringt und real durch Videoüberwachung nicht verbesert werden kann.

 

Weiterhin gibt es die Forderung nach pauschalen Gesetzen, sodass die eingesetzten Überwachungsformen immer auf das technisch aktuell Machbare ausgeweitet werden sollen. Durch diese Bestrebung, Überwachung pauschal auszuweiten, wie es nur technisch möglich ist, verlieren wir die Fähigkeit, die einzelnen Maßnahmen auf Folgen und Tauglichkeit kritisch zu überprüfen. Die von uns oben dargelegte Einzelfallprüfung könnte und würde demnach nicht mehr stattfinden, stattdessen könnte die Exekutive unbemerkt von der Öffentlichkeit neue Instrumente einführen. Für die Bevölkerung wäre demnach nicht klar ersichtlich, unter welchen Umständen sie fälschlicherweise in Verdacht geraten würden. Dies wiederspricht zum Einen unseren Freiheitsrechte, weil Bürger*innen das Recht haben müssen, in ihrem Verhalten und ihren Äußerungen nicht befürchten zu müssen, dass man diese fälschlicherweise als verdächtig verstehen kann. Zum Anderen verstärkt es ein diffuses Gefühl des Überwachtwerdens. Grundlegende Freiheiten, wie Demonstrationsrecht und Bewegungsfreiheit, sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung, würden dann nicht mehr unbefangen wahrgenommen werden können. Außerdem wird es dem Individuum nahezu unmöglich gemacht, sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrzunehmen. Eine pauschalisierte Zustimmung zu neuen Technologien ist demnach unbedingt zu vermeiden. Hierbei sollte auch die Möglichkeit der (Aus-)Nutzung und Verarbeitung der Daten in Zukunft z.B. bei veränderter politischer Lage oder Verschiebung unserer heutigen freiheitlich-demokratischen Werte beachtet werden (s. oben).

 

Der Einsatz von Technologien die über die reine Videoaufzeichnung hinaus gehen, lassen sich heute anhand von der Auswertung gespeicherter Daten mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware, aber auch der Echtzeitanalyse im Rahmen sogenannter intelligenter Kameras beobachten. Hieran können potenzielle Gefahren für zukünftige Entwicklungen erahnt werden. Ein Beispiel ist das Berliner Pilotprojekt am S-Bahnhof Südkreuz, bei welchem Passant*innen mit einer biometrischen Datenbank abgeglichen und automatisch identifiziert werden. Wenn solch „intelligente“ Kameras flächendeckend eingesetzt werden, können ganze Bewegungsprofile von Menschen erstellt werden und Jahrzehnte lang gespeichert werden. Ein Recht auf Anonymität und informationelle Selbstbestimmung ist dann nicht mehr gegeben. Von Bewegungsfreiheit kann nicht mehr die Rede sein, da es keine Möglichkeit sich der Überwachung (und Verdächtigung) zu entziehen. Die legalisierte Möglichkeit der massenhaften Identifizierung in Echtzeit ist ein enormer Schritt hin zu einem Überwachungsstaat. Aufgrund der Unsicherheit wie die Daten ausgewertet werden und der potenziell unsicheren Speicherung dieser höchst persönlichen Daten beginnt das Problem des Datenschutz bereits bei der Datensammlung und nicht erst bei Auswertung. Das oberste Gebot zum Schutz der Bürger*innenrechte sollte also Datensparsamkeit sein.

 

Ein weiteres grundlegendes Problem solcher intelligenter Systeme ist es, dass sie auf lernfähigen Algorithmen basieren, bei denen selbst dem Programmierer keine klare Grenze zwischen verdächtig und unverdächtig bekannt ist. Verhalten und Verdachtsmomente werden aufgrund statistischer Methoden vom Algorithmus erlernt und schließlich zur Entscheidung zwischen verdächtig und nicht verdächtig unterschieden. Dabei sind Algorithmen sind nicht objektiv, sondern verstärken bestehende Muster der Ungleichheit in der Gesellschaft. Die Beurteilung durch die im Moment eines Verdachtmoments alamierte Polizei unterliegt dem Bias der Entscheidungsempfehlung des Systems. Es muss unbedingt verhindert werden, dass wir die  Unschuldsvermutung aufgeben und Menschen stattdessen aufgrund von Statistik und unklaren Entscheidungskriterien verdächtigen. Welche große Zahl von Falschverdächtigungen, die im besonderen und wiederholenden Maße Personen und Minderheiten treffen wird, die von durchschnittlichen Verhaltensmustern abweichen, kann am Beispiel des Pilotprojekt Südkreuz erahnt werden.  Hier wurde eine Erkennungsquote von 70% bejubelt. Dem entgegen steht eine Fehlerquote von 1%, d.h. jede*r 100. Passant*in wird fälschlicherweise als verdächtig erkannt (false-positive-Paradoxon). Bei 100.000 passierenden Personen am Tag, bedeutet das bis zu 1000 fehlerhafte Verdächtigungen am Tag. Dies ist zum Einen nicht umsetzbar, weshalb die Technologie faktisch nicht genutzt werden kann. Weiterhin würde es zu einer unnötigen Mehrbelastung für die Polizei führen. Zum Anderen bedeutet dies einen schleichenden Demokratieabbau, da immer kleinere auffällige Verhalten als Vergehen gewertet werden und zu einer Rechtfertigung gegenüber Staatsorganen verpflichten.

 

Abschließend lässt sich noch einmal betonen, dass Videoüberwachung keinen Einfluss auf die Anzahl verübter Straftaten hat, sondern lediglich auf das subjektive Sicherheitsempfinden [3]. Es ist somit Augenwischerei gegenüber dem*der Bürger*in mit einer realen Erhöhung der Sicherheit zu argumentieren. Stattdessen ist eine Absenkung der Zivilcourage zu erwarten, da Menschen fälschlicherweise annehmen werden, die Kameras würden verlässlich eine gefährliche Situationen erkennen, analysieren und die Sicherheitskräfte alarmieren. Wenn es also nur darum geht das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen zu stärken, müssen Maßnahmen gefunden werden, die weniger Freiheitsrechte beschneiden und nicht an den Grundwerten unserer Demokratie rütteln.

 

Wir fordern daher von der SPD eine deutliche und mutige Aussage über die Nichtwirksamkeit von Videoüberwachung sowie dem Hochhalten und Betonen der Wichtigkeit von Grundrechten für unser erhaltenswertes politisches System. Wir fordern einen rationalen Umgang mit tatsächlichen Gefahrenpotenzialen. Wir schlagen folgende Maßnahmen, zur Förderung eines Sicherheitsgefühls, also zur akuten und reaktionären Symptombekämpfung vor:

 

  1. Community-Policing (s. Antrag 152/l/2018 zum 1. Landesparteitag der SPD 2018) verringert durch einen gesamtgesellschaftlichen Präventivansatz Kriminalität und Ordnungswidrigkeiten und erhöht durch kontinuierliche Kommunikation und gemeinsame Zielsetzungen das Sicherheitsgefühl der Bürger*innen. Community-Policing kann dementsprechend eine sinnvolle Maßnahme sein, das Vertrauen in die eigene Umgebung zu stärken. CP muss zudem klar von den Ansätzen einer “Bürgerwehr” abgegrenzt werden. Nicht-staatliche Akteur*innen sind weiterhin nicht dazu befugt Handlungen zur Verhinderung einer Straftat, die die Persönlichkeitsrechte anderer verletzen und welche der Polizei in jeweiligen Gefahrensituationen nachkommen muss, durchzuführen. Weiter muss sich mit den verschiedenen Konzepten der CP kritisch auseinander gesetzt werden. Beispielsweise müsste eine stärkere Polizeipräsenz als präventive Maßnahme zur Verhinderung von Straftaten erst ausdrücklich von der dort wohnhaften Bevölkerung an den jeweiligen Orten erwünscht sein. Die Zusammenarbeit von Polizei und Bürger*innen setzt eine ungetrübte Vertrauensbasis zwischen der Bevölkerung und der Polizei voraus. Diese ist erst gegeben, wenn sich die Polizei ihrer innerstrukturellen Probleme und rassistischer Tendenzen annimmt.
  2. Mehr Beleuchtung steigert das subjektive Sicherheitsempfinden. [4] Auch wenn keine Senkung der Verbrechensrate, so sind zumindest Verdrängungseffekte zu erwarten. Es wird also genau das erreicht, was von Videoüberwachung im besten Fall zu erwarten ist, ganz ohne Einschränkung der Freiheitsrechte und pauschaler Verdächtigung.

 

Wie wir bereits in den analysierenden Eingangsworten betont haben, sollte es  jedoch nicht bei diesen Symptom-bekämpfenden und verdrängenden Maßnahmen bleiben. Stattdessen gilt es den wahren Unsicherheiten der Menschen zu begegnen sowie die Ursachen für die Kriminalisierung von Menschen zu beseitigen um nachhaltige Maßnahmen für eine soziale Sicherheit, ein gutes Miteinander und eine partizipatorische Stadtgesellschaft zu treffen.

  1. Wie im Entwurf des Beschlusstextes „Sicher leben in Berlin – wir wollen Urbane Sicherheit!“ Koalitionsvertrag schon richtig festgehalten, möchte wir die dort vorgeschlagenenen Maßnahmen zur Bekämpfung sozialer Unsicherheit nur bekräftigen und dazu auffordern, diese auch wirklich umzusetzen. Es müssen also die eigentlichen Probleme und Unsicherheiten der Bürgerinnen aufgedeckt und angepackt werden. Dabei denken wir insbesondere an die Angst um eine gesicherte Zukunft, eine gerechte Entlohnung, Stärkung der Arbeitnehmerrechte, Förderung sinnstiftender Maßnahmen für Kinder- und Jugendliche, frühzeitige digitale Bildung, Abschaffung der nicht legitimen Sanktionen im Hartz 4 System sowie eine soziale Steuerung des Wohnungsmarkts.

 

Gleichzeitig muss eine klarere ablehnende Position gegenüber Videoüberwachung und eine Grundrechts-bejahende Postition bezogen werden.

  1. Wir fordern eine Stärkung des gesellschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühls und vor allem der Zivilcourage, die insbesondere auch in Situationen von Alltagskriminalität von Nöten ist.
  2. Wir fordern eine Entkriminalisierung bereits marginalisierter Personen und Gruppen und stattdessen unabhängige Unterstützung für eben diese.
  3. Feministische Stadtplanung muss Grundlage für die Gestaltung des öffentlichen Raums werden, um das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung zu erhöhen, da deren Maßnahmen zu einer Einschränkung oder sogar Unterbindung von Kriminalität sorgen können. Dieser Ansatz der Stadtplanung bedeutet eine Berücksichtigung der Bedarfe aller Bevölkerungsgruppen, insbesondere von Frauen*, deren abweichende Bedürfnisse in der etablierten, zumeist aus männlicher Sichtweise erfolgenden, Stadtplanung selten ausreichend mitgedacht werden.
  4. In einer lebendigen Demokratie müssen alle Seiten ausreichend vertreten sein. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, die Empfehlungen von Expert*innen (z.B. vom Chaos Computer Club oder Digitalcourage e.V.) bzgl. den Einsatz neuer Technologien in den politischen Entscheidungsprozess aufrichtig einzubeziehen.

 

Quellen

[1]https://www.netzwerk-datenschutzexpertise.de/sites/
default/files/dvd_g_videoueberwachung_ 03.pdf

[2]https://digitalcourage.de/videoueberwachung/
materialsammlung

[3]https://www.baff.berlin/berliner-allianz-fuer-freiheitsrechte-fuer-die-sicherung-grundgesetzlich-garantierter-freiheit-hat-sich-gegruendet/

[4]http://www.fgsberlin.de/projekt-verkehrsforschung-einzelansicht/verkehrsforschung-beleuchtung-und-sicherheit

Antrag WV132/I/2018 Besondere Berücksichtigung der unter 25 Jährigen im Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) des Landes Berlins

30.04.2018

Jugendliche und junge Erwachsene (bis 25 Jahre) werden im PsychKG nicht explizit geschützt. Dabei ist diese Gruppe besonders schutzbedürftig, da sich ihr Krankheitsverlauf anders verhält als bei Erwachsenen. Auch liegen verschiedene Abhängigkeiten, insbesondere zur Familie vor.

 

Dies äußert sich zum Beispiel in ihrer Wohnsituation, da diese Menschen häufig noch zuhause wohnen oder in einer Wohngemeinschaft, also in einem Abhängigkeitsverhältnis. Bei Streit mit und Überforderung der Eltern oder Sozialarbeiter*innen kommt es schnell zum Rauswurf oder zur Flucht. Leben sie auf der Straße oder in einer nicht entsprechend ausgestatteten Unterkunft führt dies mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer gravierenden Verschlechterung und im schlimmsten Fall einer Zwangseinweisung. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen geraten in eine Spirale. Hier gilt es anzusetzen.

 

Wir fordern folgende Maßnahmen:

  • Anpassung der gesetzlichen Regelungen, um die Schutzbedürftigkeit von bis zu 25 Jahre alten Personen explizit festzuhalten
  • Einrichtungen ausbauen, deren Personal für die speziellen Bedürfnisse und Besonderheiten explizit geschult ist (Notunterkünfte und dauerhafte Wohngemeinschaften)
  • Präventionsmaßnahmen verstärken, wie Anlaufstellen und Hilfsangebote für die Jugendlichen aber auch die Eltern, die sowohl begleitend als auch in akuten Krisensituationen unterstützen