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Antrag 149/I/2020 Presse- und Meinungsfreiheit und -vielfalt schützen – Soziale Medienplattformen nicht für Gewaltaufrufe missbrauchen!

30.09.2020

Am 14. August 2017 in Folge des G20-Gipfels in Hamburg wurde die Website  linksunten.indymedia vom Bundesministerium des Innern verboten. Das Verbot nach dem Vereinsrecht durch den damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière stellte das erste Verbot einer “linksextremistischen Vereinigung” dar. Das Verbot basierte maßgeblich auf der Einschätzung des damals von Hans Georg Maaßen geführten Verfassungsschutzes, laut dem die gesamte Plattform als ‘verfassungsfeindlich’ einzustufen sei.

 

Das Verbot der Website halten wir für nicht gerechtfertigt. Das Bundesinnenministerium argumentierte in der Verbotsverfügung, dass die mutmaßlichen Betreiber*innen sich zu einem, den Strafgesetzen zuwiderlaufenden Zweck, zusammengeschlossen hätten. Ziel der Plattform sei die „Schaffung einer linken Gegenöffentlichkeit“, unter anderem durch die Veröffentlichung von Gewaltaufrufen und anderen verbotenen Inhalten. Deshalb habe das Betreiber*innenkollektiv eine Vereinigung gebildet, auf die das Vereinsrecht anwendbar sei. Die Betroffenen reichten gegen das Verbot der Plattform Klage ein und scheiterten damit im Januar 2020 vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Begründung des Gerichts lag darin, dass die mutmaßlichen Betreiber*innen als Einzelpersonen nicht klageberechtigt seien. Um im Prozess klageberechtigt zu sein,  müssten sie sich laut Gericht als Mitglieder des mutmaßlichen Vereins bekennen, was vor dem Hintergrund der damit zusammenhängenden drohenden Strafverfolgung unmöglich erscheint. Die bisher laufenden Verwahren gegen die fünf Betroffenen wurden aufgrund des Mangels an Beweisen eingestellt. Auf eine materielle Prüfung der Vorwürfe verzichtete das Gericht ausdrücklich.

 

Linksunten.indymedia war eine Open-Posting-Plattform, das heißt, jede*r konnte dort eigene Inhalte anonym veröffentlichen. Die Inhalte umfassten größtenteils linke Theoriedebatten, Demonstrationsaufrufe und antifaschistische Recherchen, die auch von traditionellen Medien als Grundlage ihrer Berichterstattung genutzt wurden. Deshalb stellt linksunten.indymedia keine Vereinigung mit verbotenem Zweck, wie der Veröffentlichen von z.B. Gewaltaufrufen, sondern eine publizistische Plattform dar, die im Rahmen des Rundfunkstaatsvertrags zu behandeln und durch die Pressefreiheit geschützt ist. Wir sehen in dem Verbot von linksunten.indymedia somit einen schweren Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit, da damit durch eine fragwürdige Berufung auf das Vereinsrecht eine journalistische Plattform durch die Hintertür  verboten wird.

 

Einzelne Beiträge auf der Plattform mögen als verfassungsfeindlich einzustufen sein. Allerdings wurde gegen diese nicht einzelnen juristisch vorgegangen und die unterstellte Strafbarkeit somit nicht durch ein Gericht festgestellt – stattdessen wurde einfach die gesamte Plattform verboten.

 

Das Verbot war unmittelbar aus den Vorfällen bei G20 motiviert. Dies ist beunruhigend, da somit die Presse- und Meinungsfreiheit aus politischem Kalkül eingeschränkt wird. Die Argumentation des Bundesinnenministerium fußt dabei darauf, dass die Betreiber*innen diese verfassungsfeindlichen Inhalte nicht entfernten. Da allerdings keine Aussagen darüber vorliegen, wie groß der Anteil dieser mutmaßlich verfassungsfeindlichen Beiträge auf der Plattform war, schafft der Fall linksunten.indymedia einen besorgniserregenden Präzedenzfall. Basierend auf der Argumentation, dass einzelne mutmaßlich verfassungsfeindliche Beiträge auf einer Plattform ausreichen, um diese zu verbieten, müssten konsequenterweise auch andere Plattformen wie beispielsweise Facebook verboten werden, da dort regelmäßig Todesdrohungen und klare Bekenntnisse gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung publiziert werden. Die Argumentation zum Verbot von linksunten.indymedia ist insbesondere vor dem aktuellen gesellschaftlichen Hintergrund bemerkenswert. Während das Bundesinnenministerium fast 30 Jahre braucht um eine militante Neonazi-Organisation zu verbieten, reicht hier im Falle einer linken Plattform eine mehr als schwammige Argumentation. Wir stellen uns entscheiden gegen solch eine Instrumentalisierung des Vereinsrechts.

 

Wir sehen das Verbot von linksunten.indymedia daher als massiven Eingriff in die Presse- und Meinungsfreiheit. Insbesondere sehen wir auch die dort angewendete Argumentation und Vorgehensweise, die Plattform über den Umweg des Vereinsrecht es zu verbieten, als höchst problematisch an. Denn dies öffnet die Tür dahingehend, dass auch in Zukunft kritische Portale selektiv mit Berufung auf das Vereinsrecht verboten werden könnten. Wir fordern daher die sozialdemokratischen Mitglieder des Bundestags und insbesondere der Bundesregierung auf, auf eine Rücknahme des Verbots der Plattform linksunten.indymedia hinzuwirken und so die Presse- und Meinungsfreiheit zu stärken.

Antrag 135/I/2020 Raus aus dem Octagon! – Gegen die Kommerzialisierung von rechtem Kampfsport

30.09.2020

Neonazis sind im Sport kein neues Phänomen. Doch neben gewaltaffinen Spektren der Fußballfanszenen und rechter Musikkultur haben sich nun Teile der Kampfsportwelt zum dritten Standbein einer erlebnisorientierten Rekrutierung der radikal rechten Szene entwickelt. Neonazis trainieren nicht mehr vereinzelt in Vereinen, sondern betreiben eigene Trainingsräume, vertreiben Merchandise, veranstalten Kampfevents und vernetzen sich international. Die radikal rechte Szene investiert zurzeit ganz gezielt in den Bereich des Kampfsports. Und sie verdient daran. Dadurch können sie sich noch salonfähiger und sich in der Kampfsportszene weiter ausbreiten. Es braucht dringend eine Unterbindung dieser Entwicklung.

 

Ideologie

Die radikal rechte Szene hat den Wert von Kampfsport für die eigenen ideologischen Strategien erkannt. Das Ideal eines „gesunden Volkes“ anknüpfend an den Körperkult des Nationalsozialismus, wird mit Ideen der modernen, aus dem Hardcore stammenden Straight-Edge-Bewegung verbunden. Mit dem Fokus auf körperliche Fitness unter Verzicht auf Alkohol und Drogen sollen Reinheit, Fitness und Stärke gebündelt werden unter dem Motto „Gesunder Geist – Gesunder Körper“. Dabei geht es nicht um das persönliche Wohlbefinden, sondern sowohl um das Bild eines gesunden Körpers nach weißen, rassistischen Vorstellungen als auch um das Training für den politischen Straßenkampf und die Wehrhaftigkeit einer Nation bzw. Europas. Das Erlernen und Verbessern von Technik und Tricks entspricht also einer „Bewaffnung“ der Szene, mit der die Ausmaße und Konsequenzen der Gewalt enorm gesteigert werden. Die derzeitigen Entwicklungen im rechten Kampfsport zeigen, dass es einen Nährboden für die Ausbreitung dieser Ideologie gibt, in der sich immer mehr ein identitätsstiftendes „Wir“ herausbildet, das rassistisch, völkisch und nationalistisch aufgeladen ist. Die Zusammenhänge von radikal rechter Gewalt und Kampfsportausbildung bleiben bis heute allerdings größtenteils noch ein Dunkelfeld, da es kaum Erhebungen darüber gibt bzw. Verstrickungen in die rechte Kampfsportszene nicht beachtet werden.

 

MMA

MMA (Mixed Martial Arts) ist ein Vollkontaktkampfsport, der Elemente aus Standkampf (z.B.: Boxen, Kickboxen, Muay Thai) und Bodenkampf (z.B.: Grappling, Jiu-Jitsu) und Griff- und Wurftechniken (z.B.: Judo) miteinander verbindet. Die grundlegende Idee ist, durch eine Kombination der Disziplinen einen technisch und körperlich höchst anspruchsvollen Kampfsport zu kreieren. MMA ist nicht per se ein Sport, der nur von radikal Rechten betrieben wird. Der Großteil der Trainingsräume, die diesen Sport anbieten, betreiben ihn als Sport ohne rechtsideologische Agenda. Gesellschaftlich ist MMA aber noch immer verschrien als extrem brutaler Sport. Zudem werden die Kämpfe oft gladiatorenhaft und bewusst martialisch inszeniert. Während bis 2013 keine Frauenkämpfe erlaubt waren, werden heute ca. 10% der Kämpfe von Frauen ausgetragen. Dennoch ist MMA noch immer eine Männerdomäne. Diese Sportart bietet aus den genannten Gründen also einen guten Boden für die Ausbreitung neonazistischer Ideologie.

 

Ein Problem, das die Ausbreitung rechter Strukturen im MMA den Weg bereitet, ist, dass MMA noch nicht als offizieller Sport vom DOSB (Deutschen Olympischen Sportbund) anerkannt wurde. Während anerkannte Sportarten wie Boxen, Ringen usw. unter offiziellen Dachverbänden organisiert sind, die Vereine (häufig gemeinnützige Sportvereine) umfassen, offizielle Turniere organisieren und ein überall gültiges Regelwerk haben, ist das bei MMA nicht der Fall.

 

In Deutschland ist der Großteil der Kampfsportschulen und Trainingsräume, in denen MMA-Training angeboten wird, weder gemeinwohlorientiert als Sportverein noch über Verbände organisiert. Zahlreiche Anbieter*innen wenn nicht sogar die Mehrzahl sind kommerziell geführte Sportschulen, die ihre Dienste auf einem freien und ungeregelten Kampfsportmarkt anbieten. Diese Form von „Wildwuchs“ begünstigt die Ausbreitung radikal rechter Strukturen bzw. ermöglicht die Kommerzialisierung durch radikal rechte Veranstalter*innen. Es gibt demnach keine staatliche Sportförderung und die Handhabung der MMA-Events und die dazugehörigen Auflagen werden unterschiedlich auf kommunaler Ebene entschieden. Prävention vor rechten Strukturen, wie sie etwa in Fußballclubs gefördert wird, ist hier deswegen besonders schwer. Es gibt allerdings Bemühungen von zwei größeren Dachverbänden („German Mixed Martial Arts Federation“ – GEMMAF, „Global Association of Mixed Martial Arts“ – GAMMA) dem entgegenzuwirken, indem sie sich auf ein festes Regelwerk einigen, Kämpfer*innen vor Turnieren durch einen Background-Check prüfen und für die Anerkennung von MMA als offizielle Sportart streiten. Doch bisher ordnen sich nur wenige Trainingsräume diesen Dachverbänden zu.

 

Kommerzialisierung von rechtem Kampfsport

Die fehlende einheitliche Organisation des MMA-Sports ermöglicht nicht nur, dass vereinzelte radikal Rechte bei einzelnen gängigen Turnieren als Kämpfer*innen gelistet sind, sondern auch, dass dezidiert rechte Kampfsportevents mit eigenem Merchandise und manchmal auch in Verbindung mit Rechtsrockkonzerten veranstaltet werden können. Exemplarisch dafür steht der „Kampf der Nibelungen“, ein 2013 von Dortmund aus von neonazistischen Vereinigungen ins Leben gerufene Kampfsportevent, das 2018 im sächsischen Ostritz erstmals offiziell in Verbindung mit dem Rechtsrock-Festival „Schild und Schwert“ veranstaltet wurde.

 

Der „Kampf der Nibelungen“ ist nicht nur ein Treffpunkt für recht Hooligangs, Neonazi-Kader und Teile der internationalen Neonaziszene und dient damit der Vernetzung. Er ist auch eine zunehmende Finanzierungsquelle für die radikal rechte Szene. Die Eventkultur ermöglicht, rechtsoffene Menschen für die Szene zu rekrutieren. Die rechte Erlebniswelt aus Gewalt und Ideologie zieht immer mehr Menschen an. 2017 wurde der „Kampf der Nibelungen“ beim Deutschen Patent- und Markenamt offiziell angemeldet. Er kann vermarktet werden, beispielsweise durch eigene Handschuhe mit Logo. 2018 wurde das am „Kampf der Nibelungen“ orientierte Kampfsportevent „Tiwaz“ von lokalen Autohäusern, aber auch von einer bundesweit bekannten Biermarke gesponsert. Außerdem vermarkten Plattformen, vor allem aus den europäischen Nachbarländern aber auch deutsche Versandhäuser, nicht nur Kleidung mit klarer NS-Symbolik, sondern kreieren für die Szene neue Symboliken, die an Runen erinnern sollen, und Gewalt oder Körperkult betonende Slogans, die auf dem deutschen Markt noch nicht verboten sind. Diese Labels sponsoren wiederum vereinzelte Kampfsportevents. Immer mehr Labels zielen darauf ab, neonazistische Komplettausrüster zu werden. Neben Kleidung, Sportausrüstung und der Eröffnung eigener Trainingsräume, die wiederum kleinere bis großere Turniere austragen, verkaufen sie sogar Nahrungsergänzungsmittel und vegane Fitnessnahrung, sodass sich alles im Spiegel des ideologischen Fitnesstrends der rechten Szene innerhalb des Kampfsports vermarkten lässt. Es findet eine deutliche Kommerzialisierung des rechten Kampfsportes statt.

 

Die bei solchen Kampfsportevents antretenden Kämpfer*innen kommen jedoch nicht alle zwangsläufig aus radikal rechten Trainingsräumen, sondern aus Kampfsporthallen aus dem ganzen Bundesgebiet, wie auch aus Frankreich, Russland, Tschechien, Skandinavien, Österreich und der Schweiz und trainieren in Kampfsporthallen, die keineswegs organisiert radikal rechts sind, die aber kaum sensibilisiert sind und das organisierte Kampfsportevent als Möglichkeit zur Kampferfahrung wahrnehmen. Hierüber rekrutiert die rechte Szene wiederum einzelne Kämpfer*innen und breitet mit dem Eventmerchandise ihr Einzugsgebiet weiter aus, wenn die Kämpfer*innen in ihre eigenen Trainingsräume zurückkommen.

 

Die Strategie ist offenkundig: Durch die immer weiter fortschreitende Kommerzialisierung, finanziert sich die Szene gut, sie können sich ausbreiten und die Kampfsportszene unterwandern.

 

Sie wollen Fuß fassen durch massive Präsenz. Dem muss entschieden entgegengewirkt werden.

 

Deswegen fordern wir:

  • Wir setzen uns für die Durchsetzung des Verbots von rechtsradikalen Kampfsportevents ein.
  • Wir setzen uns für ein Verbot des Vertriebs von Merchandise für rechte Kampfsportevents ein. Das Deutsche Patent- und Markenamt soll zudem     keine rechten Kampfsportevents mehr offiziell anmelden, sich mit neu entstehenden rechtsradikalen Symbolen auseinandersetzen und bei Notwendigkeit intervenieren.
  • Die Einrichtung eines bundesweiten Meldesystems, bei dem rechtsradikale Vorfälle innerhalb von Trainingsräumen, Vereinen oder Turnieren dokumentiert werden. Insbesondere soll eine bundesweite Beschwerdestelle eingegliedert werden, bei der rechte Kampfsportler*innen, die auf Fightcards von Kampfsportevents stehen, und das Zeigen von neonazistischen und rechten Symboliken oder Slogans bei Kämpfen oder das Abspielen rechter Musik bei den Einmärschen zum Kampf gemeldet werden können.
  • Ein Austausch zwischen den sportpolitischen Akteur*innen der SPD, dem DOSB, den Landessportbünden und den MMA-Dachverbänden GEMMAF und GAMMA zur Prüfung einer Zulassung von MMA als offiziellen Sport durch den DOSB unter der Berücksichtigung der Entwicklung von Qualitätsstandards zu bestehenden Risiken und Problemlagen im MMA, sport-ethischer Prinzipien und dem Ziel der Ausarbeitung von Maßnahmen zur Prävention von rechter Gewalt, sodass der MMA-Sport zukünftig flächendeckend einheitlich organisiert werden kann und das Sportangebot vom freien Markt in gemeinnützige Sportvereine umgelagert werden kann.
  • Eine Unterstützung der MMA-Organisationen und Veranstalter*innen, die eine demokratische Haltung vertreten und sich klar von der radikal rechten Szene abgrenzen, sodass noch während der Nicht-Anerkennung von MMA die großen und überwiegend nicht rechten Organisationen durch Regularien bezüglich Hausordnungen für Kleidung, Tattoos und Musik und Lizenzauflagen für Sponsor*innen und Veranstalter*innen zu einer Einheitlichkeit gebracht werden können.
  • Förderung von Initiativen, die Interventions- und Präventionsarbeit in den Kampfsportschulen, den Trainingsräumen, bei den professionellen und semiprofessionellen Turnierveranstalter*innen leisten. Ebenso sollen Kampagnen/Broschüren, die für diese Thematik sensibilisieren, aus öffentlichen Mitteln gefördert werden und an all jene Orte, Veranstaltungen und Akteur*innen gesandt werden

 

Antrag 150/I/2020 #politics: Social-Media-Plattformen als Ort der politischen Debatte sichern

30.09.2020

Social-Media-Plattformen sind längst Teil unseres Alltags. Viele Menschen sind dort täglich, viele junge Menschen sogar stündlich unterwegs und posten Bilder, Texte oder schreiben mit Freund*innen. Social-Media-Plattformen sind ein Ort für alles, für süße Tierbilder und Updates aus dem Freund*innenkreis, aber sie sind auch ein zentraler Ort für politische Debatten und Meinungsbildung. Die Wichtigkeit von Social-Media-Plattformen für die politische Kommunikation und Meinungsbildung dürfte spätestens deutlich sein, seit der US-Präsident Drohnenangriffe twittert und die CDU auf YouTube zerstört wird.

 

Social-Media-Plattformen bieten dabei – zumindest theoretisch – auch marginalisierten Stimmen die Möglichkeit sich Gehör zu verschaffen und politische Argumente einzubringen und Debatten außerhalb der etablierten Medien- und Politikakteur*innen anzustoßen. So ermöglichen sie es, dass sich Leute in autoritären Regimen leichter organisieren können, wie Beispiele aus dem Arabischen Frühling zeigen. Aber auch in Demokratien vernetzen sich Bewegungen online und können so ihren Protest beispielsweise bei Fridays For Future oder den Black-Lives-Matter-Protesten schneller gemeinsam auch in die Offline-Welt übertragen. Allerdings zeigen sich auch deutliche Nachteile dieser offenen Debattenorte.

 

Hate Speech

So hetzten AfD-Anhänger*innen und andere Rechtsradikale* in den digitalen Kommentarspalten, Menschen werden bedroht und eingeschüchtert, sodass sie sich oft aus den digitalen Debatten zurückziehen. Auch wenn die Barrieren, Hate Speech im Internet zu verbreiten deutlich niedriger sind, so stellt Hate Speech kein rein digitales Problem dar, sondern ist es Symptom für menschenverachtendes Verhalten, welches nach wie vor auf allen Ebenen angegangen werden muss. Im Allgemeinen führt Hate-Speech immer wieder zu einer Debatte darüber, was in sozialen Medien stehen darf. Soziale Netzwerke werden dabei politisch viel zu oft als eine Art ‚Wilder Westen‘ dargestellt, in dem Gesetze nicht gelten. Dieses Bild entsteht vermutlich dadurch, dass Hasskommentare oft nicht geahndet werden, auch wenn sie zur Anzeige gebracht werden. Der Umfang von Hate Speech lässt sich weit definieren. Betroffene erfahren Abwertung, Angriffe oder gegen sie wird zu Hass und Gewalt aufgerufen. Hassrede adressiert regelmäßig bestimmte Personen und Personengruppen und ist Ausdruck struktureller Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die Begriffsbestimmung von Hate Speech ist bedeutend für die strafrechtliche Bewertung. Dass bspw. antisemitische, rassistische oder frauen*feindliche Aussagen mit fadenscheinigen Begründungen als zulässige Meinungsäußerungen geurteilt werden, ist kein neues Phänomen. Im Fall von Renate Künast hat das Landgericht Berlin wüste sexistische Beschimpfungen gegen die Grünen-Politikerin als „Kommentare mit Sachbezug“ und nicht als Beleidigung gewertet. Hier ist wichtig hervorzuheben, dass Hassrede von menschenfeindlicher Abwertung lebt und Gerichte in der Lage sein müssen, eine eindeutige Zuordnung vorzunehmen. Ansonsten mangelt es nicht nur an Sensibilität auf der Seite der Rechtsanwender*innen, sondern auch an zuverlässigem rechtlichen Schutz für Betroffene. Neben klassischen rechtsradikal motivierten Hasskommentaren müssen wir dabei auch geschlechtsspezifische digitale, über Social-Media-Plattformen ausgeübte Gewalt gegen Frauen* und nichtbinäre Personen in den Fokus setzen. Diese kann beispielsweise in Form von Beleidigungen und Beschimpfungen, Gewalt- bzw. Vergewaltigungsandrohungen und -phantasien, Erpressung, Doxxing (die Veröffentlichung privater Informationen ohne das Einverständnis der betroffenen Person), Mobbing, Identitätsdiebstahl, Stalking, heimlichen Aufnahmen, Bildmontagen in Bezug auf eine Person, Erstellung von täuschend ähnlichen Accounts oder Verleumdungen mit der Absicht, einer Person zu schaden, stattfinden. Dabei hat digitale Gewalt ähnliche Auswirkungen wie schwerwiegendes Mobbing – etwa psychische Beschwerden, psychosomatische Erkrankungen, Depressionen oder Suizidgedanken. Insbesondere von härteren Formen digitaler Gewalt, z.B. sexuelle Belästigung oder Stalking, sind weitaus mehr Frauen* als Männer* und insbesondere junge Frauen* betroffen. Darüber hinaus hat digitale Gewalt gegen Frauen* und nichtbinäre Personen häufig eine Dimension politischer Motivation: Digitale Gewalt trifft Frauen* und queere Menschen insbesondere dann oft, wenn diese sich für feministische oder queere Themen einsetzen. Teilweise organisieren sich Täter*innen dabei sogar in Chatforen, um gezielt Frauen* auf beispielsweise Twitter anzugreifen. Dies geschieht in der Regel aus einer misogynen und/oder queerfeindlichen Motivation der Täter*innen, die sich durch solche digitale Gewalt selbst normalisieren kann. Schwarze Frauen* und queere Personen sowie Women* und queere Persons of Color sind zusätzlich zu diesen Attacken ebenfalls massiven rassistischen Angriffen ausgesetzt. Wir erachten es daher als verheerend, dass durch digitale Gewalt zum einen Frauen* und nichtbinäre Menschen sowie Schwarze Personen und People of Color systematisch aus dem demokratischen Raum Social Media gedrängt werden, und zum anderen die öffentliche Debatte in, aber auch durch Soziale Medien systematisch in Richtung tendenziell antifeministischer, männlich geprägter Inhalte verschoben bzw. verzerrt wird.

 

Die Bundesregierung und der damalige Justizminister Heiko Maas reagierten auf diesen Hate-Speech mit der Einführung des sogenannten Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Dies verpflichtet die Social-Media-Plattformbetreiber*innen mit mehr 2 Millionen Nutzer*innen Beleidigungen und andere „rechtswidrige“ Inhalte innerhalb einer 7-Tage-Frist nach Eingang einer Beschwerde zu löschen, bei „offensichtlich rechtswidrigen“ Inhalten beträgt die Frist 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde. Die Entscheidung, was „offensichtlich rechtswidrig“ ist, wird dabei allerdings nicht von Gerichten getroffen, sondern von den Plattformen selbst. Dies lehnen wir ab, da die Entscheidung, welche Posts und Kommentare den Strafbestand der Volksverhetzung, Beleidigungen etc. erfüllen, in einem Rechtsstaat von Gerichten zu entscheiden ist und nicht nach undurchsichtigen Regelungen privatwirtschaftlicher Unternehmen. Zwar schließt das NetzDG nicht aus, dass gemeldete Kommentare ebenfalls strafrechtlich zur Anzeige gebracht werden können, die Frage, was aufgrund des NetzDG zu löschen ist und was nicht, trifft allerdings ausschließlich zunächst das Unternehmen. Da die Plattformbetreiber*innen in Falle von Nicht-Löschungen mit Geldstrafen belegt werden können, führt dies in der Praxis dazu, dass immer mehr Inhalte gelöscht und Nutzer*innen gesperrt werden – auch Journalist*innen, Satiriker*innen und Politiker*innen sind davon betroffen. Welche Posts dabei gelöscht werden, und welche nicht, ist dabei oft nicht nachzuvollziehen. So gibt es Fälle, in denen wortgleiche Posts von einigen Nutzer*innen gelöscht werden, während andere identische Posts vorhanden bleiben.

 

Das NetzDG wurde im Rahmen eines ‘Gesetzespaket gegen Hass und Hetze’ im Juni 2020 überarbeitet. Die zentralste Änderung ist hierbei die Einführung einer Meldepflicht für Social-Media-Plattformen an das Bundeskriminalamt (BKA). Diese verpflichtet die Betreiber*innen der Social-Media-Plattformen, Posts, die sie für strafrechtlich relevant halten, nicht mehr nur zu löschen, sondern auch an das BKA zu melden. Informationen, die für die Identifikation der Nutzer*innen notwendig sind sind dabei ebenfalls zu übermitteln. Als solche Informationen werden im NetzDG explizit die IP-Adresse und die Port-Nummer der Nutzer*innen genannt, sofern diese vorhanden sind. Eine IP-Adresse ist eine Art virtuelle Adresse, während eine Port-Nummer eine Art digitaler Fingerabdruck ist, die ein Gerät identifizieren kann. Allerdings werden Port-Nummern von den meisten Netzbetreiber*innen nicht erfasst, ebenso können IP-Adressen durch beispielsweise die Nutzung von Virtual-Privat-Networks (VPN), bei der die Internetaktivitäten über verschiedene IP-Adressen gelenkt werden, verschleiert werden, sodass die ursprüngliche nicht mehr erkennbar ist. Diese Meldepflicht gilt für die Verbreitung von Propagandamitteln oder die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, der Bildung und Unterstützung krimineller oder terroristischer Vereinigungen, die Verbreitung kinderpornographischer Inhalte, aber auch für volksverhetzende Posts und Gewaltdarstellungen, die Belohnung und Billigung von Straftaten oder Bedrohungen. Ausgeschlossen von dieser Meldepflicht sind hingegen Beleidigungen, üble Nachrede sowie Verleumdung. In solchen Fällen sollen die Plattformen stattdessen Nutzer*innen Informationen bereitstellen, wie sie eine Strafanzeige stellen können. Wenn ein Post an das BKA gemeldet wird, überprüft dieses, ob der Post eine Straftat darstellt. Falls dies zutrifft, kann das BKA weitere Nutzer*innendaten anfordern, damit der Fall an die jeweils zuständige Landesbehörde überwiesen werden kann.

 

Diese Meldepflicht erleichtert zwar eine juristische Verfolgung, allerdings bleibt die erste Entscheidung, welche Inhalte strafrechtlich relevant sind und damit weitergeleitet werden müssen, den Plattformbetreiber*innen überlassen und nicht – wie in einem Rechtsstaat notwendig – den Gerichten. Da den Betreiber*innen Geldstrafen drohen, wenn sie strafrechtlich relevante Inhalte nicht melden, ist es wahrscheinlich, dass auch Posts an das BKA gemeldet werden, die nicht strafrechtlich relevant sind. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der bisherigen Lösch-Praxis der Unternehmen zu befürchten. Daher kann die Meldepflicht auch führen, dass vielfach Nutzer*innendaten an das BKA weitergeleitet und dort gespeichert werden, ohne das eine Straftat vorliegt. Nutzer*innen werden erst nach vier Wochen informiert, falls ihr Posts und ihre Daten an das BKA übermittelt worden sind, sofern das BKA diesem nicht vorher widerspricht. Wir lehnen diese Datenweitergabe an das BKA ohne einen vorherigen juristischen Beschluss ab. Die bloße Einschätzung eines privaten Unternehmens darf nicht dazu führen, dass massenweise Nutzer*innendaten an Strafverfolgungsbehörden weitergereicht werden. Viele Beleidigungen, Drohungen, gezielte Desinformationen und Diffamierungen verstoßen bereits jetzt klar gegen das Gesetz, es besteht lediglich ein Vollzugsdefizit. Deshalb fordern wir auf soziale Medien zugeschnittene Schwerpunktstaatsanwaltschaften an allen Landgerichten Deutschlands, um Ermittlungsverfahren tatsächlich durchzuführen. Darüber hinaus fordern wir niedrigschwellige Meldestellen für Online-Delikte bei den LKAs.

 

Eine Alternative zu dieser Datenweitergabe ist das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren. Dabei werden Daten bei einem Verdacht auf ein strafbares Verhalten bis zu zwei Monaten gespeichert und erst nach einem richterlichen Beschluss an die Strafverfolgungsbehörden ausgehändigt werden. Angewandt auf das NetzDG hieße das, dass Nutzer*innendaten von einem gemeldeten Post zunächst von den Plattformbetreiber*innen gespeichert werden müssten und nach einem richterlichen Beschluss über den betreffenden Posts an die Behörden weitergegeben werden müssten. Somit würde verhindert werden, dass Betreiber*innen von Social-Media-Plattformen massenhaft direkt Daten ohne richterlichen Beschluss an Strafverfolgungsbehörden weiterreichen. Allerdings ist auch dieses Verfahren durchaus kritisch zu betrachten, da Nutzer*innendaten auch hier zunächst ohne juristische Kontrolle gespeichert werden würden. Auch besonders aufgrund der oben genannten Problematiken bei der Erfassung der Identifikationsnummern, wie der Verschleierung von IP-Adressen, ist auch dieses Vorgehen unverhältnismäßig.

 

Ein weiterer Punkt gegen die Meldepflicht ist das Widerspruchsrecht, dass Nutzer*innen nach einem Beschluss der Regierung aus dem April 2020 gegen die Löschung ihrer Posts erhalten sollen. Dies soll die Plattformbetreiber*innen dazu zwingen, auf Antrag der Nutzer*innen ihre Entscheidung gegenüber diesen zu begründen und erneut zu prüfen. Ebenso muss der*die Nutzer*in die Möglichkeit zur Stellungnahme erhalten. Durch die Meldepflicht könnte es daher im Rahmen von stattgegeben Widersprüchen dazu kommen, dass Posts wieder online gestellt werden, dass BKA dennoch bereits die Nutzer*innendaten erhalten hat.

 

Sofern es sich um besonders schwere Straftaten (wie Gefahr für Leben) handelt, hat das BKA auch die Möglichkeit Passwörter anzufordern, was einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis darstellt. Diese Pflicht zur Passwortweitergabe gilt dabei nicht nur für Plattformen, die unter das NetzDG fallen, sondern für alle Anbieter*innen von digitalen Medien (sog. Telemedien). Diese Passwortweitergabe ist allerdings wenig erfolgversprechend, da Passwörter nach der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) von den Plattformen nur verschlüsselt gespeichert und somit auch nur verschlüsselt weitergegeben werden können. Daher müssen die Passwörter von den jeweiligen Stellen zunächst entschlüsselt werden, was viel Zeit in Anspruch nimmt, sofern das Entschlüsseln überhaupt gelingt. Über die Weitergabe ihres Passworts werden die Nutzer*innen nicht informiert. Diese Weitergabe von Passwörtern sehen wir als Einschränkung von Freiheitsrechten im Internet allgemein. Das Vorgehen gegen Hate Speech darf nicht daran geknüpft sein, dass Nutzer*innen damit rechnen müssen, dass ihre Daten an Strafverfolgungsbehörden oder den Verfassungsschutz weitergereicht werden.

 

Im Zuge rechtsterroristischer Anschläge entflammte ebenso erneut eine Debatte über die sogenannte Klarnamenpflicht im Internet und auf Social-Media-Plattformen. Diese von konservativen Politiker*innen geforderte Klarnamenpflicht sieht vor, dass keine Anonymität auf Social-Media-Plattformen bestehen darf und Nutzer*innen nur noch unter ihrem richtigen Namen Inhalte posten dürfen. Diese Forderungen stellt einen massiven Eingriff in die Privatsphäre von Nutzer*innen dar, den wir entschieden ablehnen. Einerseits wird selbst Hate-Speech, der unter Klarnamen veröffentlicht wird, derzeit nicht immer adäquat verfolgt. Andererseits haben auch in einem Rechtsstaat viele Menschen nachvollziehbare Gründe, weshalb sie nicht unter einem Klarnamen kommunizieren. Wer sich beispielsweise antifaschistisch engagiert, kann sich in einigen Gegenden Deutschlands nicht offen dazu bekennen, ohne erhebliche Risiken für das alltägliche Leben auf sich zu nehmen. Um die Privatsphäre der Nutzer*innen zu schützen, muss auch untersagt werden, dass Gesichtserkennungsprogramme Social-Media-Plattformen als Datenbanken nutzen, die dann ebenfalls Strafverfolgungsbehörden zugänglich gemacht werden. Dies kann dazu führen, dass Menschen sich nicht trauen, beispielsweise an Demonstrationen teilzunehmen, da sie dort meist keine Kontrolle haben, wer dort von ihnen Fotos macht und anschließend auf Social-Media-Plattformen veröffentlicht.

 

Wir sehen die dringende Notwendigkeit, deutliche rechtliche Schritte gegen Hate-Speech zu setzen, allerdings darf und kann die Einschränkung grundlegender digitaler Freiheitsrechte nicht die Lösung sein. Die Freiheit des Internets darf nicht der Preis für jahrelange Versäumnisse im Bereich der Bekämpfung von Rechtsterrorismus sein. Wir fordern anstatt der Verschärfung der Gesetze, die bestehenden Gesetze anzuwenden und Straftaten wie Hate-Speech konsequent zu verfolgen. Wir sind uns des Spannungsfeldes zwischen der Freiheit des Internet und seiner Nutzer*innen sowie dem Aufkommen von Hate-Speech durchaus bewusst. In diesem hochsensiblen Bereich ist daher auch eine besondere Schulung und Ausbau der betreffenden Stellen bei Polizei und Justiz sowie die Verbesserung und Ausweitung der Angebote für Betroffene notwendig.

 

Gezielte Desinformationen & Politische Werbung

Hate-Speech ist allerdings nicht die einzige Gefährdung der öffentlichen Debatte auf Social-Plattformen. Gezielte Desinformationen (sogenannte “Fake News) verbreiten sich insbesondere auf Social-Media-Plattformen schnell. Gezielte Desinformationen können dabei auch gezielt von sogenannten ‚Bots‘ (Accounts, die von Programmen gestreut werden, die automatisiert Inhalte posten) gestreut werden. Diese Desinformationen werden meistens verbreitet, um Parteien und Kandidat*innen einen Vorteil zu bereiten, indem beispielsweise politische Gegner*innen in ein schlechtes Licht gerückt werden. Gezielte Desinformationen werden auch dazu genutzt, um die Diskussion von Themen zu beeinflussen. Beispiele hierfür sind die Streuung von Falschmeldungen über Übergriffe von Geflüchteten*, die gezielt verbreitet werden, um die Stimmung gegen geflüchtete Menschen aufzuheizen. Insbesondere vor Wahlen stellt diese Beeinflussung des Meinungsklimas ein deutliches Problem dar, wie der Präsidentschaftswahlkampf der USA 2016 oder auch der Vorlauf zum Brexit-Votum zeigte. Die Betreiber*innen der bekanntesten Social-Media-Plattformen sowie u.a. Vertreter*innen der Werbeindustrie unterzeichneten unter Leitung der Europäischen Kommission daraufhin einen Verhaltenskodex, also eine Selbstverpflichtung, um solchen Desinformationen entgegen zu wirken. Dieser Kodex beinhaltet u.a. die Zusagen, Werbeanzeigen auf gezielte Desinformationen zu überprüfen, politische Werbung und Anzeigen deutlich zu kennzeichnen, Regelungen zu Bots in ihren Nutzungsbedingungen festzulegen, die Position von Nutzer*innen zur Nutzung der Plattformen allgemein zu stärken sowie Forschungen zu gezielte Desinformationen zu fördern und nicht zu hindern.

 

Allerdings wurden auch im Vorlauf zur Europawahl unter der Begründung, dass Posts gegen die Richtlinien zu politischen Inhalten und Wahlen verstoßen würden, Posts ohne erkenntliche Gründe gelöscht und Nutzer*innen gesperrt. Auch Politiker*innen, wie Sawsan Chebli, und Zeitungen, wie die Jüdische Allgemeine, waren davon betroffen. Weitergehend kritisieren mittlerweile auch mehrere Landesmedienanstalten, die für die Überwachung der Regulierungen von Rundfunkmedien und Telemedien zuständig sind, dass die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung von gezielte Desinformationen intransparent und unzureichend sind. Die Selbstregulierung der Plattformen in diesem Bereich ist daher als gescheitert zu betrachten, wie die Landesmedienanstalten ebenfalls schlussfolgern. Es braucht daher klare Vorgaben, wie mit gezielte Desinformationen umzugehen ist und welche Schritte Plattformen ergreifen müssen, um diesen entgegenzuwirken. Dies darf nicht länger auf freiwilliger Basis entschieden werden, da gezielte Desinformationen die politische Meinungsbildung und das Meinungsklima auf undemokratische Weise beeinflussen können. Hier sehen wir die Gesetzgeber*innen in der Pflicht, Wege zu finden, wie mit gezielte Desinformationen – insbesondere im Rahmen von Wahlkämpfen – umgegangen werden muss. Dabei darf es keine staatlichen Instanzen geben, die festlegen, was Wahrheit ist und was nicht. Stattdessen halten wir beispielsweise Warnhinweise neben mutmaßlich gezielten Desinformationen für sinnvoll, sofern diese durch unabhängige Faktenchecker*innen überprüft wurden und für falsch befunden worden. Inwiefern eine solche Einstufung als mutmaßliche gezielte Desinformation vorgenommen wird, ist nach festgelegten, transparenten Kriterien zu entscheiden. Diese Faktenchecker*innen sollten einen journalistischen Hintergrund haben und nicht von Plattformen als Arbeitgeber*innen abhängig sein. Um es den Nutzer*innen leichter zu machen, gezielte Desinformationen zu erkennen, fordern wir Aufklärungskampagnen über gezielte Desinformationen, die von den Landesmedienanstalten zu entwickeln sind und über die Social-Media-Plattformen unentgeltlich ausgespielt werden müssen. 

 

Neben gezielten Desinformationen ist das Kaufen von Likes, Kommentaren usw. und somit von Reichweite ebenfalls eine Möglichkeit, Einfluss auf das Meinungsklima und die politische Meinungsbildung über Social-Media-Plattformen zu nehmen. Während im traditionellen Rundfunk (Fernsehen, Radio) politische Werbung generell verboten ist und es nur klare Ausnahmeregelungen für die Zeit vor Wahlkämpfen gibt, gibt es für Social-Media-Plattformen keine solche Regelungen. Dies ist insbesondere kritisch, da politische Werbung auf diesen Plattformen oft nicht eindeutig als solche gekennzeichnet ist – beispielsweise wenn Bots eingesetzt werden, oder Likes gekauft werden, um die Reichweite von Postings zu erhöhen. Zwar gab es vor der Bundestagswahl 2017 die Zusicherungen von allen demokratischen Parteien, keine Social Bots (Bots, die Profile bespielen und oft nicht als automatisiert zu erkennen sind) zu verwenden, allerdings gibt es hierzu nach wie vor keine gesetzlichen Regelungen. Die AfD kündigte damals an, explizit Social Bots einsetzen zu wollen, was die Notwendigkeit einer Regelung verdeutlicht. Wir fordern eine allgemeine Kennzeichnungspflicht von Social Bots und ein Verbot von diesen und anderen Maßnahmen wie das Kaufen von Likes, Kommentaren usw. zur künstlichen Generierung von Reichweite für politische Posts. Politische Werbung muss stets deutlich als solche erkennbar seien. Dies ist allerdings klar abzugrenzen, von der privaten und unbezahlten politischen Meinungsäußerung von Influencer*innen. Selbstverständlich haben diese das Recht, ihre Meinung frei zu äußern.

 

Social-Media-Plattformen und Meinungsmacht

Private Social-Media-Plattformen sind nicht der Sicherstellung der Meinungsvielfalt verpflichtet, sondern können alle Posts löschen, die gegen ihre Nutzungsbedingungen verstoßen. Daher ist der Vorwurf der Zensur, wenn Posts gelöscht werden, nicht passend, da lediglich staatliche Institutionen die Meinungsfreiheit – und Vielfalt sichern müssen. Dies stellt allerdings ebenfalls ein Problem dar, da Social-Media-Plattformen eine deutliche Meinungsmacht innehaben. Damit ist gemeint, dass was dort gepostet wird, den politischen Diskurs beeinflussen kann. Allein Facebook hatte 2019 in Deutschland 32 Millionen Nutzer*innen, während die Tagesschau beispielsweise 2019 durchschnittlich von ca. 9.8 Millionen Zuschauer*innen gesehen wurde. Wenn solch große Social-Media-Plattformen allerdings beschließen würden, keinen politischen Content von Parteien links der CDU zuzulassen, ist es fraglich, ob es Möglichkeiten gebe, dagegen rechtlich vorzugehen. Die traditionellen Rundfunkmedien sind durch den Rundfunkstaatsvertrag aus eben diesen Gründen der Meinungsmacht dazu verpflichtet, eine Vielfalt an Meinungen abzubilden. Dies gilt – wenn auch in geringerem Umfang im Vergleich zu den öffentlich-rechtlichen Anbieter*innen – auch für private Rundfunkanstalten. Wie politische Meinungen auf Social-Media-Plattformen auch von staatlicher Seite zensiert werden können, zeigt die Plattform TikTok. Diese Plattform kommt, anders als die anderen meistgenutzten Plattformen in Deutschland, nicht aus den USA, sondern aus China. Die App, die insbesondere bei jungen Menschen und Minderjährigen sehr beliebt ist, löscht Inhalte, die sich gegen die chinesische Regierung richten oder aus sonstigen Gründen der Plattform missfallen, oder filtert diese heraus, sodass sie entweder überhaupt nicht mehr für andere Nutzer*innen sichtbar sind oder ihre Reichweite stark eingeschränkt wird. Recherchen von Netzaktivist*innen haben ebenso offen gelegt, dass die Reichweite von Menschen mit Beeinträchtigungen gezielt eingeschränkt wird – angeblich um die betroffenen Personen vor Mobbing zu schützen. In Wirklichkeit werden damit marginalisierte Stimmen auch auf Social-Media-Plattformen verdrängt – und das völlig legal.

 

Social-Media-Plattformen als Ort der demokratischen Debatte sichern

Wir wollen Social-Media-Plattformen, die online die Gesellschaft der Freien und Gleichen verwirklichen. In der alle gleichberechtigt teilhaben und sich äußern können ohne Angst haben zu müssen, bedroht oder beleidigt zu werden. In der nicht privatwirtschaftliche Interessen bestimmen, was wie diskutiert wird, sondern die Menschen selbst, wobei die einzigen Einschränkungen demokratisch legitimierte Gesetze sind, die die Rechte von Minderheiten und Einzelpersonen wirksam schützen. Dies ist für uns grundlegend für einen demokratischen Diskurs. Nach den jetzigen Strukturen ist das nicht möglich. Daher müssen wir Gegenvorschläge machen, wie wir dieses Ideal erreichen wollen.

 

Eine Möglichkeit ist die bestehenden Social-Media-Plattformen in öffentlich-rechtliche Netzwerke in Anlehnung an die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu überführen oder entsprechend neue Plattformen zu schaffen. Zentrale Herausforderungen sind hier allerdings die Sicherstellung, dass keine staatlichen Akteur*innen und Institutionen Zugriff auf die Daten dieser Netzwerke bekommen und keine Zensur vorgenommen wird. Da soziale Medien international verfügbar sind und dies auch weiterhin sein müssen, muss dieser Schritt auf der Ebene der internationalen Staatengemeinschaft durchgesetzt werden. Wir erkennen allerdings an, dass die Schaffung von öffentlich-rechtlichen Netzwerken auf internationaler Ebene ein langfristiger und hochkomplexer Prozess ist. Daher ist dies unser langfristiges Ziel. Die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit autoritären Regimen in diesem Bereich lehnen wir ab.

 

Allerdings brauchen wir dennoch Wege, die Meinungsmacht privater Social-Media-Plattformen dennoch schnellstmöglich einzugrenzen und sie zum Erhalt der Meinungsvielfalt zu verpflichten. Dies ist notwendig, da die Frage, welche Inhalte gelöscht werden, und wer in welchem Ausmaß zu Wort kommt, besonders bei politischen Inhalten von höchster Relevanz ist. Die Regulierung von Medien ist immer ein hochsensibler Akt, da die freie Meinungsäußerung und freie Medien feste Grundpfeiler jeder Demokratie sind. Wir stellen allerdings fest, dass es im Bereich der Social-Media-Plattformen dennoch eindeutig Regelungen braucht, da sie höchst relevante Akteur*innen in der Medienlandschaft und der politischen Meinungsbildung darstellen. Wir sehen den Medienstaatsvertrag, der bereits von allen Ministerpräsident*innen unterzeichnet wurde und nach der Ratifzierung durch die Landesparlamente voraussichtlich im September 2020 in Kraft treten soll und für alle Plattformen mit mind. einer Million Nutzer*innen gelten wird, als einen ersten wichtigen Schritt. Dieser umfasst einige wichtige Punkte, wie eine Kennzeichnungspflicht von Bots, die Sicherstellung der Gleichbehandlung von journalistisch-redaktionellen Angeboten, sodass Algorithmen keine bestimmten Inhalte bevorzugen dürfen, sowie die Verpflichtung zur journalistischen Sorgfaltspflicht und Strafe für Desinformationen. Diese Schritte gehen zwar in die richtige Richtung, die scheinbare wahllose Löschung von politischen Inhalten bleibt dadurch allerdings unberührt, genauso wie der Missbrauch von Social-Media-Plattformen im Wahlkampf.

 

Die etablierten kapitalistischen Plattformbetreiber*innen haben es geschafft, die dezentrale Struktur des frühen Internets zu monopolisieren. Dieser Plattform-Kapitalismus ist nichts anders als die Ökonomisierung des öffentlichen Diskurses. Die algorithmischen Verfahren, die beispielsweise den eigenen Twitter- oder Facebook-Feed zusammenstellen, sollen uns möglichst lange auf den jeweiligen Seiten verweilen lassen, sodass möglichst viele Werbeanzeigen verkauft werden können. Schon allein deshalb kann ein neutraler öffentlicher Diskursraum nicht endgültig durch den Plattform-Kapitalismus geschaffen werden. Diese Gewinnorientierung erschwert die Regulierung dieser privaten, gewinnorientierten Social-Media-Plattformen weiter. Der Zugang zu den Plattformen wird den Nutzer*innen entgeltfrei zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug erhalten die Plattformbetreiber*innen die entsprechenden Nutzer*innendaten, welche sie sammeln, auswerten und privaten Werbeträger*innen zur Verfügung stellen, um diesen auf bestimmte Zielgruppen zugeschneiderte Werbeangebote zu ermöglichen. Die Profitquelle der Unternehmen ist also nicht der Plattformbetrieb an sich, sondern der Verkauf von Werbefläche. Da emotionalisierende Inhalte mehr Aufrufe generieren, und somit auch rentablere Werbeflächen darstellen, sind gezielte Desinformationskampagnen, die die Nutzerinnen empören und aufbringen, deshalb für die Plattformbetreiber*innen sogar von Vorteil. Mehr noch: die Entfernung von gezielten Desinformationen, die viel geklickt und geteilt werden, steht im direkten Konflikt zur Profitorientierung der Unternehmen. Nur mit massiver öffentlicher Aufmerksamkeit und damit verbundenen Einbrüchen seiner Aktien, konnte beispielsweise Facebook im Nachgang der U.S. Wahl 2016 überhaupt dazu motiviert werden, nur ein wenig zu handeln. Aufgrund der Monopole und Oligopole im Bereich der sozialen Medien, in denen sich Öffentlichkeiten zentral in wenigen Plattformen sammeln, sind alternative Plattformen für Nutzer*innen dazu oft einfach keine Option. Wir schließen uns deshalb der Forderung vieler progressiver Stimmen weltweit an, und fordern die Zerschlagung der großen Plattformbetreiber*innen. Im Kartellrecht müssen Regeln festgeschrieben werden, die die Kombination bestimmter Geschäftsmodelle untersagen. Fusionen von digitaler Anbieter mit Monopolstellung sind grundsätzlich zu untersagen. Denn wenn ein Unternehmen sich lediglich auf den Plattformbetrieb konzentriert, und die Klickzahlen und die daraus generierten Profite in den Hintergrund rücken, besteht kein natürliches Interesse mehr, sich gegen die Entfernung der gezielten Desinformationen zu wehren. Neben dieser Zerschlagung müssen auch bereits bestehende Alternativen zu den etablierten, zentralisierten Social-Media-Plattformen gefördert werden, wie dezentrale Netzwerke. Im Gegensatz zu ihren zentralisierten Pendants laufen diese mit freier Software auf vielen verschiedenen Servern, die auf Basis offener Standards ein gemeinsames Netzwerk bilden. Damit hat kein*e Betreiber*in die alleinige Macht über die Plattform. Dennoch können aber die einzelnen Instanzen moderiert werden und die dortigen Benutzer*innen für Vergehen sanktioniert werden (beispielsweise durch Account-Sperren). Die momentan gültigen Regularien verhindern derzeit, dass sich solche – meist von kleinen Akteur*innen – getragenen Netzwerke etablieren können. Die aktuellen Anforderungen, beispielsweise im Bereich des Urheber*innenrechts lassen sich nur von großen, gewinnorientierten Plattformen erfüllen. Langfristig fordern wir daher, dass die Rechtslage die Verbreitung von dezentralen, gemeinnützig organisieren Plattformen begünstigt und fördert. Teile von solchen Netzwerken können z.B. auch von öffentlich-rechtlichen organisierten Betreiber*innen bereitgestellt werden. Außerdem fordern wir, dass die großen Plattformen zur Interoperabilität verpflichtet werden. Plattformen müssen sich für andere Anbieter öffnen. So wird die Souveränität der Nutzer*innen gestärkt.

 

Darüber hinaus fordern wir die Weiterentwicklung des Medienstaatsvertrags in einen Netzwerk-Staatsvertrag für Social-Media-Plattformen auf europäischer Ebene in Anlehnung an den Staatsvertrag für private Rundfunkmedien. Dieser muss klare Regelungen für die oben benannten Probleme bereitstellen. Insbesondere müssen sich die Social-Media-Plattformen verpflichteten, politische Meinungsäußerungen zuzulassen und nur politische Posts zu löschen, deren Rechtswidrigkeit festgestellt wurde. Löschungen aufgrund eigener politischer Überzeugungen der Netzwerkbetreiber*innen sind durch den Netzwerk-Staatsvertrag als unzulässig festzustellen, ebenso wie die Einschränkung der Reichweite von Nutzer*innen. Betreiber*innen von Social-Media-Plattformen haben die Algorithmen, welche die Inhaltsauswahl beispielsweise auf der Startseite (den sogenannte ‘Feed’) bestimmen, offenzulegen und diese transparent und nachvollziehbar darzustellen. Die Landesmedienanstalten sowie ihre europäischen Äquivalente sind entsprechend aufzustocken, um die Umsetzung dieser Regelungen zu kontrollieren.

 

Ein solcher Netzwerk-Staatsvertrag wird nicht alle genannten Probleme und Herausforderungen sofort lösen können, die mit Social-Media-Plattformen eingehen. Wir sehen allerdings dies als einen entscheidenden ersten Schritt, dass rechtliche Regelungen dafür sorgen, Social-Media-Plattformen als einen öffentlichen Ort der politischen Debatte zu sichern. Insbesondere zur Bekämpfung von Hate-Speech werden noch weitere Schritte notwendig sein.

 

Antrag 171/I/2020 Kein Vergessen der deutschen Kolonialverbrechen!

30.09.2020

1904, das ist das Jahr an dem der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts geschah.

 

40.000 bis 60.000 Herero und 10.000 Nama, Damara und San wurden in den Jahren bis 1908 ermordet. Tausende verletzt, ausgebeutet und traumatisiert. Begonnen wurde all das vom Deutschen Kaiserreich. Bis heute fehlt ein Wort der Entschuldigung, ein Wort des Bedauerns, eine Anerkennung der Schuld.

 

Dabei bleibt festzuhalten: Kriegsverbrechen verjähren nicht und Trauer, Verlust wie auch Schuld vergehen nicht.

Es zeigt zudem: Die deutsche Kolonialzeit ist weder abschließend geschichtlich aufgearbeitet worden, noch im öffentlichen Diskurs genügend präsent. Dass Deutschland sich weigert, sich die eigene Verantwortung am Genozid mit allen Konsequenzen einzugestehen, ist ein ernstes Problem.

 

Was geschah kann nicht verschwiegen werden!

Doch was genau ereignete sich vor 116 Jahren?

Im Januar begann der Aufstand der Herero gegen die deutschen Besatzer*innen. Der Auslöser waren erneute Repressalien gegen die Herero, Besetzung von Gebieten und zunehmend rassistische Gewaltpraktiken der Kolonialverwaltung, wie u.a. die Prügelstrafe. Zudem beanspruchten deutsche Siedler immer größere Teile des Landes für sich und der Reichstag wies in der sog. „Grund- und Bodenfrage“ den Herero, Nama, Damara und San ein Territorium zu. Weitere schwere Vergehen waren Vergewaltigung und Mord, derer sich Siedler gegenüber Herero, Nama, Damara und San schuldig machten.

 

Hierdurch verschlechterte sich die Situation der Hereros, Damara und San stetig, so dass sich die Stämme 1904 zu einem Aufstand entschlossen. Wobei laut Verschonungsbefehl des Großhäuptlings ausdrücklich Kinder und Frauen verschont werden sollten, woran sich auch bis auf wenigen Ausnahmen gehalten wurde.

 

Wenige Monate später wurden in mehreren Gefechten die Hereros militärisch besiegt.

 

Am 02.10.1904 erließ Lothar von Trotha dann den Vernichtungsbefehl. Alle Herero sollten in die Wüste getrieben werden, der Zugang zu Wasserquellen verhindert werden und alle, die sich den deutschen Linien näherten, ohne Vorwarnung erschossen werden. In den folgenden Monaten wurden so zehntausende Hereros erschossen oder verhungerten/verdursteten.

 

Auch bei Frauen und Kindern wurde keinerlei Ausnahme gemacht.

 

Dabei ist ausdrücklich zu erwähnen, dass Lothar von Trotha, der in Deutsch-Südwestafrika die Genozide befahl, damals unter Kaiser Wilhelm II gehandelt hat. Wilhelm II war nicht nur politisch verantwortlich, er hat zudem von Trotha auch als nicht brutal genug empfunden.

 

Ein Tag nach dem Vernichtungsbefehl wechselten dann die Stämme der Nama die Seiten. Zuvor hatten sie noch im Auftrag der Deutschen gekämpft, nun verbündeten sie sich mit den Hereros. In den folgenden vier Jahren folgten daraufhin verschiedene kriegerische Auseinandersetzungen mit zahlreichen Menschenrechtsverletzungen von deutscher Seite.

 

Während dieser Zeit wurden auch erste Konzentrationslager im heutigen Namibia errichtet. Durch stetige Überbelegung, schlechtes Trinkwasser und einseitige mangelhafte Ernährung breiteten sich verschiedene Krankheiten aus, die schnell tausende Todesopfer forderte. Die gesunden Gefangenen wurden zur Zwangsarbeit eingesetzt. Unter anderem sollten die Gefangenen in der Wüste nach Toten suchen, die Schädel aufsammeln, auskochen und das Fleisch entfernen. Die Schädel wurden dann nach Deutschland verschickt, um dort an Krankenhäuser für die Begründung der Rassentheorien genutzt zu werden.

 

Im März 1908 fand das letzte Gefecht in der Wüste statt, welches von deutscher Seite gewonnen wurde. Am Ende starben 50.000 bis 70.000 Hereros, Nama, Damara und San.

 

Das Verhalten der Bundesregierungen? Eine Schande!

Seit 2002 erheben die Hereros, Nama, Damara und San juristische Forderungen gegen Deutschland. Zwar hatte Heidemarie Wieczorek-Zeul im Rahmen einer Gedenkfeier für die Massaker um Entschuldigung gebeten, die Bundesregierung erklärte anschließend jedoch, dass sie dort als Privatperson gesprochen habe und keine Forderungen daraus resultieren könnten. Bis 2018 wurden ca. 100 der ca. 3000 Schädel nach Namibia zurückgeführt. Ein großer Teil ist nach wie vor in den Archiven deutscher Universitäten. Erst 2016 erkannte die deutsche Bundesregierung erstmals die Massaker von 1904-1908 als Genozid an, schränkte jedoch ein, dass die UN-Völkermordkonvention nicht rückwirkend anwendbar sei und sich somit keinerlei Entschädigungen daraus ergäben. Zudem wurde eine Einbeziehung der Opferverbände ausgeschlossen.

 

Eine offizielle Entschuldigung ist bis heute nicht ausgesprochen worden.

 

Internationale Folgen

Die Forderungen von Entschädigungszahlungen Deutschlands an die Hereros, Nama, Damara und San haben auch International eine wichtige Bedeutung. Frankreich, Großbritannien und andere ehemaligen Kolonialmächte beobachten die juristischen Vorgänge ganz genau, da eine Zahlung Deutschlands von finanziellen Entschädigungen wahrscheinlich auch sie betreffen würde, da Opfergruppen aus ihren ehemaligen Kolonien auf dieser Basis ebenfalls Entschädigungen fordern könnten. Zudem würden die Entschädigungszahlungen Deutschlands dazu beitragen, dass die Debatte um koloniale Schuld international öffentlich geführt wird und den Druck auf andere ehemalige Kolonialmächte erhöhen, Entschädigungen zu zahlen und sich mit dem begangenen Unrecht auseinanderzusetzen.

 

Schuld bleibt Schuld!

Rein juristisch kann man zwar argumentieren, dass sich die UN-Völkermordkonvention nicht rückwirkend angewenden lässt. Das kann man machen, doch man handelt dann moralisch verwerflich und verletzt die Hinterbliebenen der Opfer immer wieder aufs Neue. Es ist zudem einer sozialdemokratischen Partei unwürdig und scheinheilig. Denn wo bleibt die Solidarität, die Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen der Opfer?

Es erscheint fast schon grotesk, dass die folgenden Forderungen im Jahre 2020 aufgestellt werden müssen und noch nicht bereits freiwillig und aus moralischer Verpflichtung erfüllt worden sind, von einem der reichsten Länder der Welt, welches sich auf das Erbe aus dem Kaiserreich stützt und zu den dort begangenen Verbrechen eine historische Verantwortung trägt. Wir fordern eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus.

 

Außerdem fordern wir alle SPD-Mitglieder im Bundestag, Bundesrat und in der Bundesregierung, sowie den Bundesparteitag der SPD dazu auf, die Nachfahren der Genozidopfer förmlich um Entschuldigung zu bitten.

 

Wir fordern selbige auf, sich für die Identifizierung und Rückgabe aller nach Deutschland verschleppten Gebeine und Wertgegenstände von Menschen aus Namibia und anderen ehemaligen Kolonien einzusetzen. Dies soll schnellstmöglich durchgesetzt werden, so dass bis spätestens 2024, also zum 120. Gedenkjahr, alle Gebeine in Namibia beigesetzt werden können und die Hinterbliebenen trauern können. 

 

Wir fordern von der Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag, sich zu einem bedingungslosen und offenen Dialog über Versöhnungsmaßnahmen mit den Nachfahren der Genozidopfer und mit der namibischen Regierung bereit zu erklären.

 

Wir fordern von der Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag, dass sie sich für den Aufbau eines Ausgleichsfonds für die Hinterbliebenen der Opfer einsetzen, um darüber Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen auszahlen zu können. 

 

Wir fordern die Bundesregierung auf, nach Anerkennung der eigenen Schuld und einer förmlichen Entschuldigung, andere ehemalige Kolonialmächte aktiv zu einem ähnlichen Versöhnungs- und Ausgleichsprozess aufzufordern und sie gegebenenfalls dabei zu begleiten. Bedingungslose internationale Solidarität mit allen Opfern von Kolonialverbrechen sollte unverhandelbar sein.

 

Wir fordern den Bundesparteivorstand und den Bundesparteitag der SPD auf, bis zum 120. Gedenktag eine umfassende Aufarbeitung der Kolonialpolitik der SPD durchzuführen. Fakt ist, dass bis 1906 viele einflussreiche Vertreter*innen der SPD sich für eine „sozialistische Kolonialpolitik“ aussprachen und auch nicht gegen die Bewilligung der Kriegskredite für den Krieg gegen die Hereros stimmten. Der Abschlussbericht soll dann als Grundlage dienen, um einen Dialogprozess mit den Opferverbänden zu beginnen und konkrete Veranstaltungen, Versöhnungs- und Aufklärungsangebote zu erarbeiten.

 

Antrag 12/I/2020 Keine Verwirkung von Lohnansprüchen!

30.09.2020

Wir fordern die SPD-Bundestagsfraktion dazu auf, eine Gesetzesvorlage in den Bundestag einzubringen, die die Verwirkung von Lohnansprüchen gesetzlich ausschließt. Dafür soll § 611a Abs. 2 BGB um den folgenden Satz ergänzt werden:

 

„Die Verwirkung der Vergütung ist ausgeschlossen.“

 

Die Mehrheit der Arbeitnehmer*innen in Deutschland leistet regelmäßig Überstunden. Viele von ihnen lassen sich diese Überstunden jedoch nicht ordnungsgemäß vergüten, weil sie eine Kündigung fürchten. Erst nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses ist die Position der Arbeitnehmer*innen stark genug, ihr Recht auf Überstundenvergütung durchzusetzen. Selbst wenn die Arbeitnehmer*innen dann den Schritt vor Gericht wagen, kann dieses Recht in der Praxis regelmäßig nicht durchgesetzt werden. Verantwortlich dafür ist der Rechtsgrundsatz der Verwirkung. Dieser besagt, dass die Arbeitnehmer*innen ihr Recht auf Überstundenvergütung verwirken, wenn sie ihr Recht über einen längeren Zeitraum nicht geltend gemacht haben und die Arbeitgeber*innenseite sich darauf eingerichtet hat, dass die Arbeitnehmer*innenseite ihr Recht auch in Zukunft nicht durchsetzen würde.

 

Die gängige Rechtspraxis verkennt die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer*innen. Sie geht an der Realität des Arbeitslebens vorbei. Im Regelfall geht der Mensch seiner Arbeit mit einer klaren Vergütungserwartung nach. Daher kann es der Arbeitgeber*innenseite nicht zugebilligt werden, dass sie sich subjektiv darauf einstellen darf, die Arbeitnehmer*innen ab einem gewissen Zeitpunkt für ihre Überstunden nicht mehr bezahlen zu müssen.

 

Durch die Gesetzesänderung kann der Anspruch auf Überstundenvergütung nicht mehr verwirkt werden. Er unterliegt jedoch weiterhin der Verjährung und kann damit immer nur für die letzten drei Jahre durchgesetzt werden. Auch die objektive Schranke zur ehrenamtlichen Arbeit wird durch die Gesetzesänderung nicht verschoben.