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Antrag 108/I/2023 Denk-Mal barrierefrei – Denk mal an und für alle Menschen

27.04.2023

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gilt seit 2008 in Deutschland im Rang eines Bundesgesetzes und hat Bindungswirkung für sämtliche staatliche Stellen. Zu den garantierten Menschenrechten laut UN-BRK gehört die grundsätzlich zu schaffende Barrierefreiheit. Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen dann, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) ist daher in § 8 Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr verankert: „Zivile Neu-, Um- und Erweiterungsbauten im Eigentum des Bundes einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sollen entsprechend den allgemein anerkannten Regeln der Technik barrierefrei gestaltet werden.“ Gemäß dieser Soll-Vorschrift ist barrierefreies Bauen der Regelfall. Davon kann nur in besonderen Fällen abgewichen werden, nämlich dann „wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt werden.“ Leider ist in der politischen und baulichen Praxis viel zu häufig eine Umkehr dieses menschenrechtlich gebotenen und gesetzlich verankerten Regel-Ausnahme-Verhältnisses wahrzunehmen.

 

Die Bundesländer sind im Rahmen ihrer föderalen Zuständigkeiten unmittelbar an die verbindlichen Vorgaben der UN-BRK gebunden und zu ihrer Umsetzung verpflichtet. Aus diesem Grunde haben sie in der Regel eigene Landesbehindertengesetze geschaffen. Für Berlin gilt das am 16. September 2021 vom Abgeordnetenhaus beschlossene und am 7. Oktober 2021 in Kraft getretene Gesetz zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Land Berlin (Landesgleichberechtigungsgesetz – LGBG) als rechtliche Grundlage der Politik für Menschen mit Behinderung in all ihrer Vielfalt (§ 3 LGBG).

 

Das LGBG ist inklusionspolitisch von zentraler Bedeutung. Es verpflichtet den Berliner Senat und die öffentlichen Stellen, in Umsetzung der UN-BRK und gemäß Artikel 11 der Verfassung von Berlin den vollen, wirksamen und gleichberechtigten Genuss aller Rechte durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Das LBGB garantiert den Berliner*innen mit Behinderungen das Recht auf eine umfassende Barrierefreiheit (§ 4) und die Teilhabe in allen Lebensbereichen (§ 11).

 

Auch der Denkmalschutz hat die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten

Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt die Umsetzung des konventionsübergreifenden Prinzips der Inklusion. Unbestritten ist, dass ein wichtiges Ziel der Denkmalschutzgesetze die sinnvolle Nutzung eines Denkmals ist. Sie ist häufig Überlebensbedingung und kann von der Barrierefreiheit abhängen. Bundes- und landesrechtliche Bestimmungen bilden daher ein Schnittstelle zwischen Barrierefreiheit und Denkmalschutz. Bei der Ausübung des eingeräumten Ermessens in der Entscheidungsfindung sind die Belange von Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Ja nach Bundesland sind die entsprechenden Klauseln für das Ermessen aber unterschiedlich – Berlin hat hier noch erheblichen Nachholbedarf.

 

Der Denkmalschutz stellt vor diesem Hintergrund der UN-BRK keinen nur für sich zu betrachtenden isolierten Gesetzeszweck dar. Vielmehr geht es gerade bei baulichen Anlagen um die Erhaltung im Interesse der Allgemeinheit (vergleiche § 2 Absatz 2 DSchG). Menschen mit Behinderungen sind Teil der Allgemeinheit und daher auch beim Denkmalschutz selbstverständlich mitzubeachten (vgl. Artikel 3 UN-BRK).

 

Denkmalschutz und Denkmalpflege ist Aufgabe der einzelnen Bundesländer. Entsprechend unterschiedlich sind die erlassenen Denkmalschutzgesetze, die Organisationsformen und der Aufbau der Behörden im Bereich des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege – und auch die Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Behinderungen in den jeweiligen Denkmalschutzgesetzen der Länder. Grundsätzlich ist der Denkmalschutz Thema bei barrierefreien Umgestaltungen von Denkmalen im Bestand aber auch bei neuen An- und Erweiterungsbauten sowie bei Neubauten in der Umgebung von Denkmalen. Das Verhältnis von Denkmalschutz und Barrierefreiheit ist ein immer wieder auftretender politischer Dauerkonflikt. Ursächlich ist u.a., dass die Bundesländer in ihren Denkmalschutzgesetzes die Verpflichtungen der UN-BRK noch nicht ausreichend aufgegriffen haben. Dies gilt auch für Berlin.

 

Das am 24. April 1995 vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz zum Schutz von Denkmalen in Berlin (Denkmalschutzgesetz Berlin – DSchG Bln) ist bis heute im Wesentlichen unverändert. Zumindest wurden hinsichtlich der Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt im September 2021 im § 11 die Wörter „mobilitätsbehinderter Personen“ durch die Wörter „von Menschen mit Behinderungen“ ersetzt. Weitaus klarer und umfassender garantiert das Niedersächsische Denkmalschutzgesetz (NDSchG) die Rechte von Menschen mit Behinderungen: „“Ein Eingriff in ein Kulturdenkmal ist zu genehmigen, soweit … ein öffentliches Interesse anderer Art, zum Beispiel … die Berücksichtigung der Belange von alten Menschen und Menschen mit Behinderungen, das Interesse an der unveränderten Erhaltung des Kulturdenkmals überwiegt und den Eingriff zwingend verlangt.“

 

Noch 2021 haben sich Senat und Abgeordnetenhaus gegen die Aufnahme von Rechten von Menschen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt entschieden. Die vom Land Berlin mit der Begleitung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beauftragte „Monitoring-Stelle Berlin“ hatte angesichts der Novellierung des DSchG Bln 21 auf der Grundlage der Ergebnisse einer Normenprüfung des Denkmalschutzgesetzes auf notwendige rechtliche Änderungsbedarfe hingewiesen. Auch seitens der SPD-Politik wurden Vorschläge zur Verbesserung der Rechte und vor allem der Lebensqualität im Alltag negiert.

 

Wir fordern

1. eine zügige Novellierung des Gesetzes zum Schutz von Denkmalen in Berlin, u.a. in Bezug auf:

 

§ 7 Landesdenkmalrat

Zugänglichkeit ist ein zentraler Belang für die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Der weitest mögliche Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Denkmälern ist in der UN-BRK explizit vorgegeben (Artikel 30 Absatz 1 c). Auf Grundlage der allgemeinen Verpflichtung aus Artikel 4 Absatz 3 UN-BRK braucht es dringendst der partizipatorischen Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in diesbezügliche Entscheidungsprozesse. Die Vertretung von Menschen mit Behinderungen als Expert*innen in eigener Sache sollte daher im Landesdenkmalrat gesetzlich etabliert werden. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, dass Abwägungsentscheidungen zwischen der Barrierefreiheit als öffentlichem Belang und Denkmalschutzbelangen oftmals nach einem angemessenen Ausgleich widerstreitender Interessen durch kreative Lösungen im Einzelfall verlangen und daher dringendst entsprechender Expertise dringend bedürfen.

 

§ 11 Absatz 1 und 6 DSchG (Genehmigungspflichtige Maßnahmen)

 

Aus den Vorgaben aus Artikel 9 (Zugänglichkeit) als auch aus Artikel 30 (Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport) UN-BRK ergeben sich besondere Anforderungen an die Zugänglichkeit denkmalgeschützter Gebäude und Einrichtungen. Durch explizit geeignete Maßnahmen ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu Denkmälern und Stätten von nationaler Bedeutung erhalten. Bei Einrichtungen, die der Öffentlichkeit offenstehen, muss eine gleichberechtigte Nutzbarkeit für Menschen in aller Vielfalt mit und ohne Behinderungen gesetzlich avisiert werden.

Folglich ist gesetzlich sicherzustellen, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen bei einschlägigen Abwägungsentscheidungen hinreichend beachtet werden. Die gleichberechtigte Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen stellt eine Menschenrechtsfrage von Verfassungsrang dar und ist daher auch ausdrücklich als überwiegender öffentlicher Belang in § 11 Absatz 1 DSchG zu normieren und in § 11 Absatz 6 DSchG klarzustellen. § 11 Absatz 6 DSchG muss die Verpflichtung zur barrierefreien Gestaltung von Denkmälern als Grundsatz formulieren, von dem nur in besonders begründeten Fällen abgewichen werden kann. Ausnahmen aufgrund der tatsächlichen physischen Gegebenheiten sind im Einklang mit dem Machbarkeitsvorbehalt nach dem Wortlaut, dem Sinn und Zweck und der Systematik von Artikel 30 Absatz 1 c) UN-BRK möglich so weit die faktische Realisierbarkeit im Rahmen der verfügbaren Ressourcen nicht gegeben ist.

 

§ 13 Absatz 1 DSchG (Wiederherstellung; Stilllegung)

Aufgrund der bezüglich § 11 DSchG bereits ausgeführten Gründen sowie insbesondere hinsichtlich der staatlichen Verpflichtung zum Abbau von Barrieren auch im Denkmalbestand (gemäß Artikel 9 Absatz 1 Satz 2 a) UN-BRK) ist es sinnvoll und zweckmäßig, bei ohnehin aus Sicht des Denkmalschutzes erforderlichen Wiederherstellungsmaßnahmen zugleich Verbesserungen hinsichtlich der Zugänglichkeit des wiederherzustellenden Denkmals für Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen.

 

§ 15 DSchG (Öffentliche Förderung)

Aufgrund der zu § 11 DSchG bereits ausgeführten Rechtsgründen ist es insbesondere auch aufgrund der allgemeinen staatlichen Verpflichtung zum Ergreifen geeigneter Maßnahmen (vergleiche Artikel 4 Absatz 1 UN-BRK) sinnvoll und zweckmäßig, die staatliche Förderung von Denkmalschutzmaßnahmen mit Anforderungen an die Barrierefreiheit bzw. die Vornahme angemessener Vorkehrungen zu verknüpfen und die Möglichkeit hierzu in Form einer gebundenen Ermessensentscheidung explizit gesetzlich zu verankern.

 

2. eine Überwindung des in der Politik noch viel zu häufig anzutreffenden „politischen Silo-Denkens“. Es braucht eine stärkere Gewährleistung u.a. der gesetzlich verankerten frauen- und menschenrechtlichen Querschnittsaufgaben wie es die UN-Behindertenrechtskonvention und die Frauenrechtekonvention (CEDAW) erfordert. Diese sind Maßstab für jedes Gesetz, jede Richtlinie, jede Verordnung einer jeder Regierung und Parlamentes auf allen föderalen Ebenen. Hierfür sind entsprechende Kompetenzschulungen vorzusehen.

 

3. die Einbeziehung von Expert*innen bzw. Sachverständigen zum Barrierefreien Bauen. Dem hier noch zu beobachtendem eklatantem Fachkräftemangel für „Design für all“ ist aktiv durch Aus-, Fort- und Weiterbildung entgegenzuwirken. Entsprechende Förderprogramme sind aufzulegen, entsprechende Fachstellen auf allen behördlichen Ebenen der Verwaltung sind zu schaffen und zu finanzieren.

 

4. einen inklusiven Eingangsbereich für das Museum für Naturkunde als aktuelles Beispiel

Etliche der oben beschriebenen unzureichenden Gewährleistungen der Rechte von Menschen mit Behinderungen führen aktuell und vor allem künftig jahrzehntelang andauernden gravierenden Benachteiligungen und Diskriminierungen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Aufgrund des demographischen Wandels ist hier mit einer deutlichen Zunahme zu rechnen.

 

Der Zukunftsplan des Museums für Naturkunde zielt unter anderem darauf ab, den historisch begründeten Campusgedanken des im Laufe der 1870er und 1880 erstellten Wissenschaftsforum für Forschung, Lehre und Wissenstransfer (drei Gebäude) in die Gegenwart zu überführen und die Außenflächen der Liegenschaft so umzugestalten, dass ein aktiver Austausch zwischen Besuchenden aus Berlin und der ganzen Welt und Mitarbeitenden auch hier wieder möglich werden kann. Bewilligt sind u.a. für die Sanierung des Museumsgebäudes Zuwendungen von Bund und Land in Höhe von 660 Millionen Euro – Steuergeld, welches von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gezahlt worden ist.

 

Das Museum für Naturkunde möchte mithilfe des Zukunftsplans erreichen, ein inklusives offenes und integriertes Forschungsmuseum zu werden. Zu diesem Zweck soll der historische Haupteingang umgestaltet werden, so dass alle Besuchenden auf dem gleichen Wege das Museumsinnere erreichen können. Dabei geht es nicht nur um das Überwinden der großen Haupttreppe, sondern auch das der zahlreichen weiteren Stufen die außen wie innen folgen.

 

Die aktuelle Position des Gartendenkmalamtes sieht allerdings ein anderes Konzept vor. Eine Erweiterung des Eingangsbereichs in den Vorplatzbereich wird abgelehnt, was bedeutet, dass das Recht von Menschen mit Beeinträchtigungen auf Barrierefreiheit verwehrt ist. Ihnen wird mit dieser Entscheidung nicht erlaubt, das Museum für Naturkunde „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“ zu betreten.

 

Dies ist ein gesellschaftspolitischer, keineswegs nur ein behindertenpolitischer Skandal. Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft wird heute anders definiert als im späten 19. Jahrhundert. Damals war es noch gang und gäbe, dass Menschen mit Beeinträchtigungen, seien es Behinderungen in der Mobilität oder den Kommunikationsformen, sei es wegen Kinderwagen, Rollstühle oder Rollatoren, in der Planung neuer Gebäude nicht vorkamen, ja sie teilweise auch bewusst exkludiert wurden. Ihnen blieb es damals verwehrt, am öffentlichen Leben und Kulturangebot in voller Gänze teilzuhaben. Ein solcher Missstand darf sich heute nicht wiederholen: Neue Gebäude sind inklusiv zu planen und historische Gebäude entsprechend baulich barrierefrei zu verändern.

 

Unverständlich ist auch, dass Gebäudesubstanz vor dem immateriellen aber wesentlichen historischen Auftrag, das Wissen in die breite Öffentlichkeit hineinzutragen, gestellt wird.

 

Im Juni 2023 wird der laufende Architekturwettbewerb zum Abschluss kommen. Um eine attraktive und den Denkmalbestand respektierende Lösung zu finden, wurde die Umgestaltung des Portals als zentraler Bestandteil in diesen aufgenommen. Ein Ideenteil wird den teilnehmenden Büros die Möglichkeit geben, kreative Entwürfe einreichen zu können. Bisher hat das Landesdenkmalamt im Vorfeld des Wettbewerbs jedoch lediglich seitlichen Anrampungen zugestimmt. Eine Lösung für die Überwindung der weiteren Stufen konnte nicht gefunden werden. Andere Lösungsansätze für die Umgestaltung wurden abgelehnt, da der Eingriff in die Bausubstanz oder in das Gartendenkmal zu groß und die Maßnahme daher nicht mit der Kunst- und Baudenkmalpflege vereinbar sei.

 

Ein Blick auf die ersten beiden Bauabschnitte und die Pläne für den laufenden 3. Bauabschnitt zeigt, wie verantwortungsvoll mit dem Denkmalbestand und der Historie bislang umgegangen worden ist. Es wurde stets dafür Sorge getragen, so substanzschonend wie möglich vorzugehen. Der Haupteingang nimmt jedoch eine besondere Stellung ein. Er soll für ein inklusives und integratives Museum stehen und gleichzeitig ein Statement mit Vorbildcharakter für eine inklusive Gesellschaft werden. Daher ist es von essenzieller Bedeutung, die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen höher einzustufen als den Schutz wertvoller historischer Bausubstanz. Noch verhindert das Landesdenkmalamt Architektur und Außenanlagen inklusiv umzugestalten und zukunftsfähig zu machen.

 

5. Ein Förderprogramm zur Ermöglichung von mehr Klagen zur Erreichung der Barrierefreiheit

Es braucht ein Mehr an gerichtlichen Entscheidungen zur Barrierefreiheit. Während es – soweit ersichtlich – kaum Entscheidungen gibt, in denen das Fehlen barrierefreier Einrichtungen gerügt wird, zeigt sich umgekehrt eine großzügige denkmalschutzrechtliche Genehmigungspraxis. Auch zur gerichtlichen Durchsetzung von Barrierefreiheit braucht es neuaufzulegender Förderprogramme.

 

 

Antrag 105/I/2023 Trans*liberation now: Für ein echtes Selbstbestimmungsgesetz

27.04.2023

Wir begrüßen, dass das Bundesjustiz- und das Bundesfamilienministerium Eckpunkte für das im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien vorgesehene Selbstbestimmungsgesetz vorgelegt haben. Damit rückt die lange überfällige Abschaffung des „TSG“ endlich näher. Wir unterstützen ausdrücklich, dass die Anpassung von Vornamen und Geschlechtseintrag künftig in einem einfachen Verfahren vor dem Standesamt ohne vorherige Zwangsgutachten möglich sein soll.

 

Dennoch bleiben die Eckpunkte hinter einem echten Selbstbestimmungsgesetz zurück. Wir fordern deshalb die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion und die sozialdemokratischen Mitglieder der Bundesregierung auf, sich für folgende Verbesserungen und Klarstellungen einzusetzen:

  1. Die Erklärungen zur Änderung von Namen und Geschlechtseintrag müssen an jedem Standesamt abgegeben werden können. Es wäre nicht zumutbar, wenn Menschen nur für die Abgabe dieser Erklärung das Standesamt ihrer Geburt aufsuchen müssten.
  2. Auch Menschen, die ohne deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland leben, müssen das Selbstbestimmungsgesetz in Anspruch nehmen können. Die derzeit übliche Prüfung, ob das Recht des Heimatstaats eine vergleichbare Regelung kennt, verursacht unnötigen und zeitraubenden Bürokratieaufwand.
  3. Auch die Anpassung geschlechtsspezifischer Nachnamen soll in das Selbstbestimmungsgesetz aufgenommen werden. Wenn ein trans* Mensch einen Namen mit geschlechtsspezifischer Endung führt, wie es z.B. in nord- und osteuropäischen Ländern verbreitet ist, würde es andernfalls zu einer sinnwidrigen Diskrepanz zwischen Vor- und Nachnamen kommen.
  4. Auch bei Minderjährigen unter 14 Jahren soll das Familiengericht eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung treffen können, wenn die Sorgeberechtigten die Zustimmung zur Anpassung von Namen oder Geschlechtseintrag verweigern. Im familiengerichtlichen Verfahren ist sicherzustellen, dass ein*e Verfahrensbetreuer*in bestellt wird, die mit der Situation und den Bedürfnissen von trans* Menschen vertraut ist.
  5. Bei Minderjährigen ist das Verfahren altersunabhängig so zu gestalten, dass diese die Erklärung zur Änderung von Namen und Geschlechtseintrag selbst abgeben, wie es im Eckpunktepapier bereits für Minderjährige ab 14 Jahren vorgesehen ist.
  6. Das Standesamt soll von Amts wegen das Familiengericht anrufen, wenn ein*e Minderjährige*r die Anpassung von Namen und Geschlechtseintrag verlangt und die Sorgeberechtigten auch nach Aufforderung durch das Standesamt keine Zustimmung erteilen.
  7. Sowohl die Sorgeberechtigten als auch das Familiengericht müssen verpflichtet sein, die Wünsche eines minderjährigen Kindes bezüglich des eigenen Namens und Geschlechtseintrags vorrangig zu berücksichtigen. Bei entsprechender Reife muss die Entscheidung in das Selbstbestimmungsrecht des Kindes fallen. Daher muss auch die Altersgrenze für eine eigenständige Entscheidung ohne Beteiligung der Eltern abgesenkt werden.
  8. Ergänzend zum Offenbarungsverbot, das mit § 5 TSG bereits Teil der geltenden Rechtslage ist, ist eine ausdrückliche Regelung aufzunehmen, wonach Menschen nach Anpassung von Namen oder Geschlechtseintrag einen gesetzlichen Anspruch gegen private und öffentliche Stellen auf Ausstellung von Dokumenten, Zeugnissen und anderen Bescheinigungen mit den neuen Personendaten haben.

 

Das Selbstbestimmungsgesetz soll darüber hinaus nur Erleichterungen für die Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag enthalten. Um die Lebenssituation von trans* Menschen wirksam zu verbessern, braucht es aber weitere Maßnahmen. Wir fordern deshalb die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion und die sozialdemokratischen Mitglieder der Bundesregierung auf, sich für folgende zusätzliche Maßnahmen einzusetzen und diese zeitnah in die Wege zu leiten:

  1. Um trans* Menschen zu unterstützen und in die Lage zu versetzen, ihr Selbstbestimmungsrecht in Anspruch zu nehmen, ist die in den Eckpunkten vorgesehene Stärkung von Beratungsangeboten besonders wichtig. Insbesondere für Minderjährige sind niedrigschwellige spezialisierte Anlauf- und Beratungsstellen auszubauen, abzusichern oder neu zu schaffen, die diese bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen und während des Verfahrens, das das Selbstbestimmungsgesetz vorsieht, begleiten können. Die Einführung eines Rechtsanspruchs auf eine qualifizierte Beratung ist zu prüfen. Weiterhin ist zu prüfen, ob Sorgeberechtigte von trans* Kindern zur Wahrnehmung einer Beratung verpflichtet werden können.
  2. Eltern, die ihren Geschlechtseintrag haben ändern lassen, sind in der Geburtsurkunde des Kindes mit einer Bezeichnung einzutragen, die ihrem geänderten Geschlechtseintrag entspricht.
  3. Wie vom Koalitionsvertrag gefordert müssen die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen vollständig von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Das gilt auch für eventuell angeforderte Gutachten. Das Bundesministerium für Gesundheit muss zeitnah ein Konzept vorlegen, mit dem sichergestellt wird, dass trans* Menschen bei entsprechender ärztlicher Empfehlung einen Anspruch auf Kostenübernahme hinsichtlich der Behandlungen haben, die in der einschlägigen S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“ empfohlen werden, welche unter Federführung der der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung erarbeitet wurde.
  4. Bezüglich der Teilnahme an Sportveranstaltungen und Wettkämpfen ist sicherzustellen, dass keine Regelungen getroffen werden, die trans* Sportler*innen ohne sachlichen Grund ausschließen oder unverhältnismäßig benachteiligen.

 

Antrag 102/I/2023 Reform der europäischen Drogenpolitik: Entkriminalisierung der Cannabispflanze

27.04.2023

Das Europarecht muss so angepasst werden, dass Mitgliedstaaten der EU selbst über die Legalisierung von Cannabis entscheiden können. Dafür muss die Cannabispflanze aus der EU-Liste von Straftaten im Zusammenhang mit illegalem Handel von Drogen und Grundstoffen entfernt werden. Europarechtlich wird der Handel mit Cannabis bis heute als Straftat eingestuft. Diese Einstufung ist überholt.

 

Die SPD spricht sich für eine wissenschaftlich fundierte und evidenzbasierte Drogenpolitik aus. Dies umfasst eine niedrigschwellige Präventions- und Aufklärungsarbeit, die Behandlung von Kurz- und Langzeitschäden, die Reduzierung gesundheitlicher Schäden und krimineller Aktivitäten sowie die gesellschaftliche Wiedereingliederung. Dabei sollten auch Präventionsmaßnahmen, insbesondere für Jugendliche, im Fokus stehen. Kommt es zu einer Legalisierung von Cannabis, darf zudem die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht außer Acht gelassen werden.

Antrag 101/I/2023 Kein catchiger Titel, aber dafür catchige Krankheiten: für Testmöglichkeiten von STIs

27.04.2023

Sexuell übertragbare Krankheiten (STIs) kommen immer häufiger vor: In Deutschland hat sich die Zahl der Syphilis-Fälle in den Jahren von 2009 bis 2019 verdoppelt und seit 2001 sogar vervierfacht. Dass einige STIs auch über Oralsex übertragbar sind, ist oft unbekannt. Aufgrund der leichten Übertragbarkeit wäre es wichtig, sich vor allem bei wechselnden Sexualpartner*innen regelmäßig auf STIs zu testen, auch wenn keine Symptome auftreten. Leider ist das aufgrund verschiedener Hindernisse nicht die Lebensrealität vieler Menschen:

Zum einen sind STIs weiterhin tabuisiert. Zudem sind STI-Tests nicht leicht zugänglich: Wenn man im Internet nach STI-Tests in Berlin sucht, erhält man viele kommerzielle Angebote wie private Testzentren oder Testkits für zu Hause, die über 100 Euro kosten.

Zwar gibt es bereits einige sehr gute Angebote, zum Beispiel von der Berliner Aidshilfe oder dem Checkpoint (einem Zentrum für sexuelle Gesundheit mit Test- und Behandlungsangebote für STIs sowie Beratungsangebote zu sexueller Gesundheit, Chemsex/Substanzkonsum und queeren Themen), bei dem die Kosten für HIV-Tests, die meist zwischen 5 und 25 Euro liegen, erstattet werden können.

Bislang gibt es außerdem die Möglichkeit von STI-Tests in den Gesundheitsämtern von vier Bezirken (Mitte, Marzahn-Hellersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf) mit telefonischer Voranmeldung. HIV-Tests dort kosten 10 Euro für Zahlungsunfähige.

Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist allerdings in der Regel an das Vorliegen von Anzeichen einer STI gebunden bzw. wenn bei dem*der Sexpartner*in bereits eine STI festgestellt wurde. Es ist allerdings nicht immer so, dass die Anzeichen einer STI bemerkt oder als solche wahrgenommen werden. So können diese unbemerkt an weitere Personen übertragen werden. Es ist daher wichtig präventiv die Möglichkeit zu haben, unabhängig vom Geldbeutel, einen STI-Test zu machen bevor es zur unbemerkten Verbreitung bzw. auch Schäden durch Nicht-Behandeln der Infektion kommt. Auch die vorhandenen Strukturen und Angeboten müssen gestärkt und ausgebaut werden, um Hürden wie lange Anfahrtswege und überlastete Testkapazitäten zu senken.

Ein anonymes Testangebot bereitzustellen ist heutzutage noch für viele Menschen wichtig. Offene, niedrigschwellige Testangebote bieten in der Regel anonyme Tests an. Sie auszubauen ist daher ein wichtiges Anliegen. Gerade auch, weil es ebenso Menschen gibt, die ohne gesetzliche Krankenversicherung ihr Leben bestreiten müssen und daher diese niedrigschwelligen Testangebote benötigen.

Epidemiologische Kennziffern verdeutlichen, dass FINTA*-Personen sowie queere Menschen am häufigsten an STIs leiden. Hinzu kommt auch, dass selbige oftmals sowieso schlechteren Zugang zu medizinischer Infrastruktur haben. Die Ausweitung der Testmöglichkeiten stellt auch eine Möglichkeit da, die bestehende Stigmatisierung durch sexuell-übertragbare Krankheiten weiter einzudämmen und mehr Aufmerksamkeit für STIs zu erzeugen.

Aus diesem Grund fordern wir, dass…

  • das Testangebot für sexuell-übertragbare Krankheit so ausgebaut wird, dass in jedem Bezirk mindestens eine Möglichkeit zur Testung besteht. Dies soll möglich sein, durch unabhängige, gemeinnützige und finanzierte Stellen, um die Kostenlosigkeit zu gewährleisten. Entsprechend soll § 1 Gesundheitsdienst-Zuständigkeitsverordnung (GDZustVO) angepasst werden.
  • Es soll ein gesetzlicher Anspruch geschaffen werden, sodass STI-Tests auch ohne Anlass, also ohne Symptome bzw. STI-Nachweis bei Sexpartner*in, von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden.
  • Das Land Berlin wird aufgefordert die Förderung von Projekten, welche STI-Tests anonym und niedrigschwellig anbieten in dem Maße zu erhöhen, sodass diese zukünftig höhere Kapazitäten für Tests bereitstellen können und diese kostenfrei in Anspruch genommen werden können
  • die STI-Testung in ärztlichen Praxen mit infektiologischem Schwerpunkt für alle jederzeit zugänglich ist und die Kosten für die Tests vollständig von der Krankenkasse getragen werden.
  • der Zugang zur HIV-Prophylaxe PrEP (Präexpositionsprophylaxe) und die dauerhafte und vollständige Kostenübernahme durch Krankenkassen allen, unabhängig vom Sexualverhalten, ermöglicht wird.
  • Zielgruppenspezifische finanzielle Mittel für mehr Aufklärung und Informationen zu Testzentren.

zusätzlich in allen Bildungseinrichtungen nicht-stigmatisierende Bildungsangebote und Ansprechpersonen eingerichtet werden und auch außerhalb von Bildungseinrichtungen Aufklärungsangebote ausgebaut werden.

Antrag 100/I/2023 Respekt und finanzieller Ausgleich für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige

27.04.2023

Wir fordern die Mitglieder der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag und der Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass bei der Höhe des Pflegegeldes die Inflationsentwicklung seit der letzten Festsetzung 2017 berücksichtigt wird. Darüber hinaus sollen die bereits eingetretenen finanziellen Nachteile durch eine Einmalzahlung ausgeglichen werden und zukünftig die im Koalitionsvertrag bereits vereinbarte Dynamisierung regelhaft vorgenommen werden.