Antrag 70/I/2019 Unser Umgang mit dem Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“

Mit dem Antrag „Den neoliberalen Renditewahn stoppen – Für mutige Schritte gegen die Wohnungskrise“ haben die Jusos Berlin eine wichtige Analyse zur Situation der Mieter*innen und zur Wohnungspolitik in Berlin getroffen und dessen Forderungen in den Bundesverband und die Landespartei getragen. Die Radikalität der Wirklichkeit hat bereits zu weitgehenden Maßnahmen des Landes Berlin geführt. Wir müssen allerdings feststellen, dass die bisherigen Mittel nicht ausgereicht haben, die massiven Mietsteigerungen und den grassierenden Wohnungsmangel in unserer Stadt zu beenden. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass sich aus der Stadtgesellschaft heraus Initiativen bilden, die den kapitalistischen Wohnungsmarkt bekämpfen. Bereits 2015 hat die Berliner Sozialdemokratie inklusive der SPD-Fraktion bewiesen, dass sie solche Bewegungen unterstützt, indem sie die Forderungen des Mietenvolksentscheids nach gemeinsamen Gesprächen weitgehend übernommen hat und anschließend durch das Abgeordnetenhaus beschließen ließ.

 

Dadurch konnten die Verbesserungen beim Mieter*innenschutz und dem Ausbau des sozialen Wohnungsmarktes beschleunigt inkrafttreten. Derzeit sammelt die Initiative “Deutsche Wohnen und Co. enteignen” Unterschriften in der Stadt für einen Volksentscheid um die Verstaatlichung der Wohnungen derjenigen Wohnungsunternehmen zu erreichen, denen in Berlin 3 000 oder mehr Wohnungen gehören. Dabei stützt sie sich u. a. auf Art. 15 GG: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. […]“

 

Art. 15 GG als Errungenschaft der Sozialdemokratie

Obgleich bisher noch nicht angewendet, stellt der Art. 15 eine der wichtigsten Errungenschaften der Sozialdemokrat*innen im Herrenchiemsee-Konvent und im Parlamentarischen Rat dar. Als stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im Parlamentarischen Rat kommentierte Walter Menzel den Art. 15: Die Sozialdemokraten [sic] würden es begrüßen, dass erstmals der Begriff Gemeineigentum verfassungsmäßig verankert sei. Die Forderung nach der Sozialisierung sei „ein wesentliches, vielleicht das entscheidende Ziel unseres [= der Sozialdemokrat*innen] Kampfes zur Befreiung des arbeitenden Menschen von den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaftsordnung“. Unter „Grund und Boden“ – „Boden“ als klassischerweise landwirtschaftlichem Begriff und „Grund“ als das, worauf Häuser stehen – werden dabei alle Arten von Grundstücken nebst Zubehör, also einschließlich von Häusern mit den in ihnen befindlichen Wohnungen verstanden. Die Möglichkeit der Sozialisierung von Wohnungseigentum ist somit ausdrücklich von Art. 15 bezweckt.

 

Wohnen ist eine Ware

Art. 15 S. 1 sieht aber noch eine weitere Kategorie der Sozialisierungsgegenstände vor: die derProduktionsmittel. Der Begriff mutet nicht nur marxistisch an – er ist es auch. In führenden juristischen Kommentaren wird auf Marx verwiesen. Wurzel des Art. 15, so heißt es im alles andere als linksradikalen „Bonner Kommentar“, sei „sozialistisches Gedankengut […]. Zentraler Punkt der auf Karl Marx zurückgehenden Theorie ist die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln“. Der Begriff des Produktionsmittels ist nach herrschender Auffassung weit auszulegen, als das, was der Produktion jeder Art von Gütern diene. Eine Beschränkung auf Güter gegenständlicher Art ist nicht vorgesehen. Insgesamt ist die Sach- und Rechtsgesamtheit, die der Produktion von materiellen und/oder immateriellen Gütern dient, umfasst. In Bezug auf die Forderung nach der Sozialisierung von Wohnungen bedeutet das: Das kapitalistische Wohnungsunternehmen verkauft die Ware Wohnen an die*den Wohnungssuchenden. Das Produktionsmittel, mit dem das Wohnungsunternehmen diese Ware produziert, ist – analog der Maschine in der klassischen Fabrik – die Wohnung. Denn hinter der Forderung „Wohnen ist keine Ware!“ steckt leider auch die Feststellung: Wohnen ist aktuell eine Ware, die kapitalistisch produziert und verteilt wird. Erst mit der Sozialisierung ihrer Produktionsmittel, der Wohnungen, wird die Ware Wohnen dem kapitalistischen Markt entzogen und verliert ihre Warenform.

 

Der Berliner Wohnungsmarkt: Paradebeispiel der Notwendigkeit der Sozialisierung

Obgleich das Wohnen ein soziales Grundrecht von Verfassungsrang gem. Art. 28 I 1 Verfassung von Berlin ist, ist die genau diese marktwirtschaftliche Organisation des Wohnens gescheitert. Die Preisbildung durch die – in Berlin nun einmal hohe – Nachfrage bei begrenztem Angebot führt zu dem hohen Mietpreisanstieg – zwischen 2011 und 2018 steigen die Mieten in Berlin um durchschnittlich 71 % –, führt darüber hinaus dazu, dass insbesondere Wohnungen des niedrigen Preissegments nicht mehr verfügbar sind und führen zur Verdrängung derjenigen, die die Wohnungen brauchen. Mit der regulären Aufhebung der Sozialbindung vieler Wohnungen in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Situation ebenfalls dramatisiert. Die Initiator*innen des derzeitigen Volksentscheids verweisen nicht zu Unrecht auf die Praktiken aggressiver Immobilienkonzerne wie der Deutsche Wohnen gegen ihre Mieter*innen wie um die Notwendigkeit der Sozialisierung ebensolcher Unternehmen zu rechtfertigen. Dabei waren sogar viele Wohnungen der Deutsche Wohnen einst in der Hand der städtischen GEHAG und GSW, wurden jedoch privatisiert – eine Enteignung stellt daher lediglich die Rücküberführung in öffentliches Eigentum dar. Die politische Linke in Berlin hat sich leider an den Privatisierungen der Vergangenheit beteiligt. Wir möchten uns zunächst bei der Stadtgesellschaft dafür entschuldigen und die begangenen Fehler mit der konsequenten Verfolgung einer Resozialisierungspolitik wiedergutmachen.

Bisher beschränkte sich die Sozialisierung von Wohnraum durch das Land Berlin beziehungsweise die städtischen Wohnungsbaugesellschaften auf die Nutzung von Vorkaufsrechten oder normale Markthandlungen wie Zukäufe im kapitalistischen Wettbewerb mit privaten Unternehmen. Beide Verfahren sind allerdings in ihrer Wirkkraft sehr beschränkt, wenn keine Wohnungen von Privaten angeboten werden, entfallen beide Mittel der Sozialisierung. Eine verfassungsrechtlich verankerte Sozialisierung bietet Chancen darüber hinaus Wohnraum in stattliche Hände zu überführen und damit:

  1. Mieter*innen zu schützen
  2. die Marktlogik der Preisentwicklung im privaten Immobiliensektor zu brechen
  3. daraus resultierende Aufwertung von Wohnraum und Kiezen zu bekämpfen
  4. Wohnraum langfristig bedürftigen Gruppen zur Verfügung zu stellen

 

Die Schwächen des Volksentscheids benennen

Die Radikalität der Forderung der Initiative und der Mut den großen Immobilienkonzernen so direkt entgegen zu treten, verdienen unseren Respekt. Allerdings müssen auch Fragen zur Umsetzung und Zielführung des Volksentscheides erörtert, um gemeinsam mit der Stadtgesellschaft gemeinsam möglichst erfolgreich den Wohnungsmarkt zu sozialisieren. Die Initiative fordert die Enteignung aller Wohnungsbauunternehmen, die inklusive Töchterfirmen mehr als 3 000 Wohnungen in Berlin besitzen und schätzen, dass etwa 200 000 Wohnungen enteignet werden würden. Die Grenze von 3 000 wurde willkürlich festgelegt und außerdem ist die Vermietungspolitik von Unternehmen nicht von deren Größe abhängig. Wenngleich Konzerne wie die Deutsche Wohnen AG regelmäßig unrühmliche Schlagzeilen produzieren, so gilt zugleich, dass auch kleinere Vermieter*innen unsozialen Vermietungspraktiken nachgehen, während es zugleich private Immobilienunternehmen, die gewillt sind mit Mieter*innen und der Stadtgesellschaft kooperieren. Wir Sozialdemokrat*innen sehen deswegen nicht die Größe der Wohnungskonzerne, sondern die Praktiken der Vermieter*innen als entscheidendes Kriterium bei der Frage nach der Sozialisierung an.

 

Verdrängung, Mietsteigerungen und Umwandlungen in Wohneigentum treffen die verschiedenen Stadtteile Berlins unterschiedlich hart. Insbesondere in Kiezen, die bereits für viele Menschen unerschwinglich geworden sind oder jenen, denen vergleichbare Zustände drohen, kann Sozialisierung von Wohnraum eine Lösung sein, um soziale Mischungen, die wir uns für die gesamte Stadt wünschen wiederherzustellen oder zu erhalten. Wir Sozialdemokrat*innnen sehen den Schutz der Mieter*innen als entscheidendes Kriterium bei der Sozialisierung an.

 

Marktlogiken und hohe finanzielle Aufwendungen für die Sozialisierung dürfen uns nicht von der Rückeroberung der Stadt abhalten. Wir stellen allerdings fest, dass bei einer erwarteten Entschädigungssumme, die laut Schätzungen im zweistelligen Milliardenbereich liegt, keine einzige neue Wohnung entsteht. Der Berliner Wohnungsmarkt krankt nicht nur an einem Verlust bezahlbaren Wohnraums, sondern an einem absoluten Mangel an Wohnraum selbst. Aufgrund der geringen Leerstandsquote in Berlin werden auch nach der Sozialisierung kurzfristig nur wenige freie Wohnungen zur Vergabe an Bedürftige zur Verfügung stehen. Die Bedürfnisse der zehntausenden wohnungssuchenden Berliner*innen und der wachsenden Stadt adressiert der Volksentscheid deshalb leider kaum. Wir Sozialdemokrat*innen wollen bei der Sozialisierung deswegen ein Hauptaugenmerk auf die Enteignung von potentiellem Bauland für soziale Stadtentwicklung setzen.

 

Gemeinsam Wohnraum sozialisieren – mit Plan, Druck und Vernunft

Trotz der genannten Kritikpunkte an der Initiative ist die Sozialisierung von Wohnraum und für sozial entwickelbarem Bauland aufgrund der oben aufgelisteten Argumente geboten. Es ist deswegen dringend erforderlich seitens der Sozialdemokratie aber auch des Senates auf die Initiative “Deutsche Wohnen und Co. enteignen” zuzugehen und gemeinsam Sozialisierung unter Ausbesserung der Schwächen zeitnah zu diskutieren. Wenn wir das nicht tun, droht ein Konflikt, wie zur Frage der Nichtbebauung des Tempelhofer Feldes, der bis heute nicht beigelegt ist.

In den Verhandlungen mit der Initiative gilt es viererlei zu klären. Erstens müssen gemeinsame Zielvorgaben bezüglich der Sozialisierung festgelegt werden. Die von der Initiative vorgesehene Enteignung von 200 000 Wohnungen auf einmal ist selbst für eine Millionenstadt für Berlin nicht umsetzbar und ohne juristischen Widerstand der Betroffenen vorstellbar ist. Die hier geäußerte Kritik an den Zahl und Vorgaben des Volksentscheids müssen berücksichtigt werden. Zweitens müssen Pläne bezüglich der finanziellen Ausgestaltung der Sozialisierung vereinbart werden. Grundlage dafür müssen zunächst Ankaufsziele und Kostenabschätzungen seitens der Berliner Verwaltung vorliegen. Wenn diese vorliegen, muss eine tragfähiges, realisierbares und langfristiges Finanzierungskonzept entwickelt werden, dass Sozialisierungen grundsätzlich ermöglicht und finanzielle Risiken adäquat abbildet. Die Initiator*innen sind dazu aufgerufen, ihre Finanzierungsvorschläge unter Berücksichtigung von inkrafttretender Schuldenbremse und haushaltspolitischer Erwägungen vorab zu konkretisieren. Drittens müssen Kriterien entwickelt werden, die die Sozialisierungsobjekte priorisieren. Dabei müssen beispielsweise verschiedene Faktoren eine Rolle spielen:

 

  1. konkrete Gefahren für die Mieter*innen, beispielsweise angedrohte Mietkündigungen, auslaufende Sozialbindungen für mietpreisgebundene Wohnungen oder angekündigte Luxusmodernisierungen
  2. ebenso unsozialen Vermietungspraktiken der Vermieter*in in anderen Wohnanlagen
  3. die Mietpreisentwicklung im betreffenden Wohngebiet
  4. die Sicherstellung sozialer Mischung im betreffenden Wohngebiet
  5. mangelnder bezahlbarer Wohnraum im betreffenden Wohngebiet
  6. die Potenziale für Schaffung neuen Wohnraums oder sozialer Infrastruktur (beispielsweise in Dachgeschossen oder auf Außenflächen)
  7. Verstöße der Vermieter*in sich gegen Instrumente der sozialen Stadtentwicklung beispielsweise Mietspiegel, Mietpreisbremse, Zweckentfremdungsverbot, kooperative Baulandentwicklung uvm.

 

Viertens müssen rechtliche Konstrukte entwickelt werden, die analog zur Abwendungsvereinbarung beim Vorkaufsrecht Möglichkeiten eröffnet, Vermieter*innen rechtlich soziale Vermierungspraktiken verpflichten zu können, ohne die betreffenden Immobilien sozialisieren zu müssen. Das Abschreckungsmittel der Enteignung ist dabei entscheidend, denn über die sozialisierten Wohnungsbestände hinaus werden private Vermieter*innen unter Androhung des Entzugs der verbliebenden Immobilien dazu gezwungen sich auf unsere stadtgesellschaftliche Regeln des Eigentums und dessen Nutzung verpflichten.

 

Was wir wollen, ist ein gemeinwohlorientierter Umgang mit Wohnraum. Die Sozialisierung von Wohnraum und Bauland bedeutet nicht, dass damit der Kapitalismus überwunden würde. Aber sie ist ein sinnvoller Diskussionsbeitrag zu den wohnungspolitischen Problemen unserer Stadt. Sozialisierung ist nur in gemeinsamer Anstrengung von Stadtgesellschaft und Politik am ehesten gestaltbar. Packen wir es an. Mit dem Begehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ergibt sich die Chance, neue Ideen zur Lösung der Probleme des Wohnungsmarktes zu erörtern. Dabei wird die SPD Berlin der Debatte um das Begehren nicht entkommen – sie wird sich positionieren müssen. Es wäre geradezu fatal, wenn sie sich als wichtigste linke Kraft in Berlin komplett gegen die Sozialisierung stellen würde, allerdings ist es unsere Aufgabe, die Ideen der Initiative in politische umsetzbare Bahnen zu lenken.

 

Wir fordern daher:

  • das Bekenntnis der Sozialdemokratie zur Enteignung unter angemessener Entschädigung als möglichen Eingriff in den Wohnungsmarkt
  • die Kooperation mit der Initiative „Deutsche Wohnen und Co.“ nach Vorbild des Mietenvolksentscheids um gemeinsam die Sozialisierung des Wohnraums in unserer Stadt zu erörtern, Sozialisierungsziele sowie deren Finanzierung und Umsetzung unter Berücksichtigung gesamtstädtischer Interesse anzugehen
  • eine schwerpunktmäßige Sozialisierung von Bauland und Bauerwartungsland
  • die Entwicklung von Abwendungsvereinbarung um auch die Vermieter*innen nicht sozialisierter Wohnungen auf soziale Standards zu verpflichten

 

Empfehlung der Antragskommission:
Erledigt bei Annahme 304/II/2019