Obdachlosigkeit und obdachlose Menschen gehören wie selbstverständlich zum Berliner Stadtbild. Auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Ausbildungsplatz und in den öffentlichen Verkehrsmitteln begegnen sie uns, ohne dass wir uns weiter mit ihnen beschäftigen. Auch der Staat hat die Situation und die Probleme obdachloser Menschen viel zu lange unterschätzt und sie vor allem als „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ begriffen, was dazu geführt hat, dass sich vor allem zivilgesellschaftliche und kirchliche Organisationen um die Bedürfnisse und Sorgen obdachloser Menschen kümmern. Diese sind dabei chronisch unterbesetzt, haben finanzielle Probleme und könnten ihre Angebote ohne das ehrenamtliche Engagement vieler Bürger*innen überhaupt nicht aufrechterhalten. Das muss sich ändern! Wir brauchen staatliche, auf die Bedürfnisse obdachloser Menschen zugeschnittene, barrierearme und garantierte Hilfsangebote!
Zuständigkeit der Behörden
Die Bekämpfung von Obdachlosigkeit und die politischen Maßnahmen, die dafür notwendig sind, liegen derzeit in der Zuständigkeit aller drei föderalen Ebenen: Bezirke, Land und Bund.
Die Bezirke übernehmen dabei die Hauptverantwortung. Sie nehmen Anzeigen der Obdachlosigkeit von den Betroffenen auf (die bürokratische Grundvoraussetzung für den Zugang zu Unterkünften und weiteren Verwaltungsmaßnahmen), finanzieren und betreuen die gewerblichen, ehrenamtlichen oder städtischen Träger, die Unterkünfte betreiben und obdachlosen Menschen Angebote der Grundversorgung wie Nahrungsmittel oder Hygienemöglichkeiten zur Verfügung stellen, stellen Personaldokumente aus, stellen Beratungsangebote zur Verfügung und stellen Sozialarbeiter*innen ein.
Das Land Berlin ist verantwortlich für die Finanzierung der Bezirke, die gesetzlichen Rahmenbedingungen auf dessen Grundlage die Bezirke Obdachlosigkeit bekämpfen, und via seiner landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften auch für den staatlichen Wohnungsbau und die Zweckbindung landeseigener Wohnungen.
Der Bund – genauer gesagt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales – ist gemeinsam mit den Bezirken zuständig für die Jobcenter. Das Sozialgesetzbuch II (SGB II) ist die bundesrechtliche Grundlage für die Grundsicherung und die Funktionsweise der Jobcenter. Die Kosten für die Grundsicherung trägt der Bund, die Kosten für die Unterkunft von Grundsicherungsempfänger*innen teilen sich Bund und Bezirk.
Aus diesen verschränkten Strukturen entstehen massive bürokratische Hürden – sowohl für Betroffene als auch für wirksame politische Lösungsansätze.
Sucht eine obdachlose Person Unterstützung, ist dies der Start eines Marathons durch die Behörden. Für einen dauerhaften Zugang zu vielen Unterkünften bedarf es einer Anzeige der Obdachlosigkeit. Diese wird vom Bürger*innenamt aufgenommen. Um Zugang zur Grundsicherung zu erlangen, benötigen obdachlose Personen außerdem einen Personalausweis. Die Ausstellung eines vorläufigen Personalausweises kostet 10€ und erfolgt ebenfalls durch das Bürger*innenamt.
Obdachlose Menschen können jedoch nicht zu einem beliebigen Bürger*innenamt gehen. Die Zuständigkeit für obdachlose Menschen ist unter den zwölf Berliner Bezirken nach Geburtsmonat der betroffenen Personen aufgeteilt, um die Kosten und den Aufwand gleichmäßig über die Bezirke zu verteilen. So kann es passieren, dass eine obdachlose Person, deren täglicher Alltag in Wilmersdorf stattfindet, für einen solchen Termin irgendwie nach Marzahn-Hellersdorf kommen muss. Und selbst wenn sie es schafft, kann es sein, dass das Bürgeramt zu hat, da die Sprechzeiten in jedem Bezirk unterschiedlich sind, und darüber Auskunft zu erhalten für eine obdachlose Person sehr schwer ist.
Wenig überraschend funktioniert diese theoretisch-gleichmäßige Aufteilung der Betroffenen auf die zwölf Bezirke in der Realität kaum. Dazu kommt, dass viele Bezirke gar keine Obdachlosenunterkünfte betreiben und alle Bezirke im Bereich der Obdachlosenhilfe unterfinanziert sind. So konzentriert sich Obdachlosigkeit auf jene Hotspots, wo große soziale und gewerbliche Träger angesiedelt sind.
Falls eine obdachlose Person zur richtigen Zeit im richtigen Bürgeramt gelandet ist und sich die 10€ Verwaltungsgebühr leisten konnte, muss sie nun zum Jobcenter gehen, um Grundsicherung zu beantragen, inklusive der dazu genauestens auszufüllenden Anträge. War dies erfolgreich, muss die Person eine Wohnung finden – als obdachloser Mensch auf dem aktuellen Berliner Wohnungsmarkt quasi unmöglich. Hat die Person einen Mietvertrag unterschrieben, muss sie mit diesem erneut zum Jobcenter, um die Übernahme der Kosten zu beantragen.
Dieses hölzerne Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen entlarvt das eigentliche Kernproblem: Obdachlosigkeit wird nicht als ganzheitliches soziales Problem erfasst, dessen Lösung gezieltes Handeln erfordert. Keine politische Behörde ist dafür dezidiert verantwortlich. Stattdessen werden Teilbereiche des Problems auf verschiedene föderale Ebenen verteilt und in verschiedenen Gesetzestexten untergebracht, die mit Obdachlosigkeit eigentlich nichts zu tun haben.
In Berlin ist Obdachlosigkeit im Allgemeinen Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (ASOG) geregelt. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung müssen aber nicht vor obdachlosen Personen geschützt werden, ihnen muss geholfen werden!
Auf Bundesebene wird Obdachlosigkeit in das Sozialgesetzbuch II und somit in die Grundsicherung und die Jobcenter eingegliedert. Instrumente, die sich um den Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit von Menschen mit Wohnraum drehen. Die Jobcenter und ihre Mitarbeiter*innen sind überhaupt nicht darauf ausgelegt oder dazu ausgebildet obdachlose Menschen zu unterstützen.
Und in der Lösung der ganz materiellen, alltäglichen und grundlegendsten Herausforderungen obdachloser Menschen, verlassen sich die staatlichen Institutionen ganz auf die Arbeit ehrenamtlicher, sozialer oder gewerblicher Träger, die sie dazu auch noch schlecht finanzieren und bezahlen.
Wir fordern daher eine ganzheitliche politische Herangehensweise, die Obdachlosigkeit als soziales Problem betrachtet, dessen betroffene gezielte Unterstützung benötigen, nicht als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder ein bloßes Anhängsel anderer sozialpolitischer Themenfelder.
Daher fordern wir:
- Die Schaffung einheitlicher Rahmenbedingungen für obdachlose Menschen in allen Bürger*innenämtern.
- Die Zuständigkeit für die Betreuung, Versorgung und die Unterbringung nach dem ASOG soll auf Landesebene zentralisiert werden. Der Senat hat dabei sicherzustellen, dass Anlaufstellen über das gesamte Stadtgebiet verteilt und jeweils ortsnah zu erreichen sind. Die Zuordnung von obdachlosen Personen zu einem Bezirksamt nach Geburtsort ist im Gegenzug abzuschaffen. Hinsichtlich von Melde- und Ausweisangelegenheiten ist obdachlosen Personen – wie allen anderen Berliner*innen auch – freier Zugang zu den Bürger*innenämtern ihrer Wahl zu verschaffen.
- Die Gebühr für die Ausstellung eines vorläufigen Personalausweises ist abzuschaffen.
- Es soll ein Kooperationsabkommen zwischen dem Land Berlin und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales erzielt werden, um die Zuständigkeiten für die bezirkliche Dokumentenausstellung und die Beantragung und Verwaltung von Grundsicherungsleistungen für obdachlose Personen in einer Behörde zu bündeln und in einem Behördengang zu ermöglichen. Diese Behörde soll ebenfalls medizinische und psychologische Beratungsleistung und Betreuungsangebote durch Sozialarbeiter*innen vornehmen können.
- Die Schaffung einer eigenen Landesbehörde für die Bekämpfung von Obdachlosigkeit, welche bei der Senatsverwaltung für Soziales angesiedelt werden soll. Die gesetzliche Grundlage für diese Behörde soll in einem eigenen Obdachlosigkeitsgesetz geschaffen werden. Obdachlosigkeit soll nicht mehr im ASOG geregelt sein.
- Massive Ausweitung der Finanzierung. Die Bezirke brauchen bedarfsgerechte und gesicherte Finanzierung für Sozialarbeiter*innen, Notunterkünfte und die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse von obdachlosen Menschen.
Langfristig fordern wir die Schaffung eines neuen Sozialgesetzbuches XV auf Bundesebene eigens für die zielgerichtete Bekämpfung von Obdachlosigkeit als soziales Problem. Letztendlich soll die Zuständigkeit gänzlich aus den Jobcentern entfernt werden und bei einer eigenen Bundesbehörde zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit angesiedelt werden. Die Maßnahmen sollen von Bundesebene finanziell verstetigt werden, damit die neue Behörde die Kommunen und die Betroffenen bestmöglich, bedarfsgerecht, zielgerichtet und effizient unterstützen kann.
Unterbringung
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es verschiedenen Angebote der Unterbringung für obdachlose Menschen. Auf der einen Seite stehen zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Berliner Obdachlosenhilfe, die Kältehilfe Berlin und die Berliner Stadtmission, all diese stellen in begrenztem Umfang Unterkünfte und Schlafplätze für obdachlose Menschen, teilweise auch exklusiv für Frauen, zur Verfügung und erhalten dafür staatliche Fördergelder.
Für die Unterbringung von staatlicher Seite aus sind die jeweiligen Bezirksämter zuständig. In der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales sind sechs Mitarbeitende hauptamtlich für die Betreuung angestellt, Hamburg hat bei nur einem Fünftel der obdachlosen Menschen acht Hauptamtliche, also deutlich mehr. Von staatlicher Seite werden zum aktuellen Zeitpunkt etwa 1.100 Notübernachtungsplätze angeboten, von denen einige frei bleiben. Darüber hinaus werden die U-Bahnhöfe Moritzplatz und Lichtenberg als Übernachtungsmöglichkeit offen gehalten.
Unbeachtet von dieser Betrachtung bleiben hierbei Maßnahmen zur Unterbringung und Unterkünfte, die von den obdachlosen Menschen selbst organisiert werden, zum Beispiel in Parkanlagen, leerstehenden Häusern und Bahnhöfen.
Problematisch bei der aktuellen Form der Unterbringung sind die jeweiligen Umstände, was dazu führt, dass nicht alle Plätze wahrgenommen werden und einige frei bleiben. So werden keine Einzelzimmer angeboten, was mit Blick auf Aspekte der Sicherheit und des Sicherheitsgefühls oft zu schwierigen Situationen führt. Darüber hinaus gibt es selten Unterkünfte für Paare oder ganz speziell und exklusiv für Frauen, sowie Unterkünfte für Halter von Haustieren, zu denen ein großer Teil der obdachlosen Menschen zählt. Ein anderer Punkt ist, dass einzelne Angebote oftmals schließen müssen, da ihnen zu wenig haupt- und ehrenamtliches Personal zur Verfügung steht, welches die Unterbringung durchführt und begleitet. Formen der selbstorganisierten Unterbringung von obdachlosen Menschen finden nur selten Anklang und werden ab einer gewissen Größe durch die Polizei und die Bezirksämter, nicht selten unter Einsatz von Gewalt, aufgelöst, wobei meist vor allem die „Ordnung im öffentlichen Raum” im Fokus steht, als vielmehr die Art und Weise der Unterbringung obdachloser Menschen. Ziel muss es sein, allen obdachlosen Menschen langfristig die Möglichkeit zu geben, eine Wohnung zu beziehen, die sich an ihren Bedürfnissen orientiert.
Daher fordern wir:
- So schnell wie möglich Notunterkünfte, zum Beispiel aus Containern oder in leerstehenden Hotels und Bürogebäuden, die auf die grundlegenden Bedürfnisse (Privatsphäre, Barrierefreiheit, Haustiere, Partnerschaften, Sicherheit) obdachloser Menschen eingehen, zu bauen und zur Verfügung zu stellen.
- In bereits bestehenden Unterkünften für obdachlose Menschen muss, wenn möglich, eine Unterbringung in Einzelzimmer gewährleistet werden. In neu zu bauenden Unterkünften muss eine Unterbringung in Einzelzimmer unter allen Umständen gewährleistet sein.
- Modellprojekte – wie housing first – mehr in den Fokus zu rücken und diese auszuweiten.
- Die bestehenden Unterkünfte durch geschultes und ausgebildetes Personal, sowie deutlich höhere Finanzmittel, zu unterstützen.
Langfristig soll die Unterbringung obdachloser Menschen zentrale Aufgabe der von uns geforderten neuen Behörde werden.
housing first
Housing First Berlin ist ein an skandinavischen Modellen orientiertes Modellprojekt zur langfristigen Bekämpfung von Obdachlosigkeit in Berlin. Das Konzept basiert auf der unbefristeten Unterbringung Betroffener in Wohnraum mit einem eigenen Mietvertrag und professioneller Betreuung. Betroffene erhalten sofortigen, bedingungslosen Zugang zu Wohnraum. Die Unterbringung erfolgt vor einer potenziellen Behandlung – denn ein Zuhause ist eine wichtige Ressource für Genesung. Das Projekt gewährleistet ein begleitetes Unterstützungsangebot und richtet sich an alleinstehende Erwachsene, die langjährig obdachlos sind. Die Teilnehmenden gehen eine niedrigschwellige Kooperationsvereinbarung ein und haben mindestens einen persönlichen Kontakt pro Woche mit dem Team. Derzeit sollen 25 Prozent der Teilnehmenden Frauen sein. Das Projekt kann bis zu 40 Wohnungen vermitteln – nach einem Jahr Projektlaufzeit konnten bereits 20 Wohnungen vermittelt werden: das Projekt ist erfolgreich. Jedoch sind 40 Wohnungen bei, nach letzten offiziellen (kritisierbaren) Zählungen 1976 Menschen ohne Obdach in Berlin, zu wenig!
Das Konzept Housing First wird bereits international angewendet und ist evidenzbasiert. 70 bis 90 Prozent der Teilnehmenden können ihren Wohnraum langfristig halten; die Gesundheit der Betroffenen wird verbessert und das Konzept reduziert kostspielige Kontakte mit öffentlichen Dienstleistungen.
Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht – jeder Mensch hat Anrecht auf angemessenen Wohnraum! Dennoch leben Menschen auf der Straße und es ist für viele schwer, Wohnraum zu finden. Der deregulierte Wohnungsmarkt wirkt sich am meisten auf psychisch kranke und arme Personen aus – sie finden keinen Wohnraum! Housing First kann nachweislich zu einer verbesserten Situation auf dem Wohnungsmarkt beitragen!
Daher fordern wir:
- Das Projekt Housing First Berlin, welches nachweislich und nachhaltig wirksam ist, muss als Regelkonzept der Berliner Wohnungslosenhilfe über die ganze Stadt ausgeweitet werden.
- Investitionen des Landes Berlin in das Unterbringungssystem müssen künftig in den Bau und die Bewirtschaftung bezahlbarer Wohnungen fließen.
- Städtische Wohnungsbaugesellschaften (GEWOBAG, degewo etc.) müssen Soforthilfe leisten, mehr Wohnungen für das Projekt Housing First zur Verfügung stellen und neue Wohnungen hierfür bauen.
- Von den städtischen Wohnungsbaugesellschaften zur Verfügung gestellte Wohnungen müssen verkehrsgünstig liegen.
Frauen in Obdachlosigkeit
Die Zahl der Obdachlosen Frauen in Deutschland wächst stetig. Waren in den 1990er- Jahren noch 15 Prozent der Obdachlosen in Deutschland weiblich, so sind es inzwischen 25 Prozent. Das bedeutet: über 70.000 Frauen. In Berlin leben Schätzungen zufolge 2.500 Frauen auf der Straße, doch wie viele es genau sind, weiß niemand.
Viele wohnungs- und obdachlose Frauen teilen ähnliche Probleme: neben der Schwierigkeit einen geregelten Alltag zu führen, erleben Sie häufig Gewalt. Man kann davon ausgehen, dass jede obdachlose Frau in Berlin bereits Opfer sexueller Gewalt geworden ist. In den Wintermonaten stehen Frauen in sieben Notunterkünften 77 Betten zur Verfügung. Danach nimmt diese Zahl drastisch ab: Nur drei Notunterkünfte für Frauen haben das ganze Jahr geöffnet. 31 Betten können obdachlose Frauen in Berlin von April bis Oktober nutzen. Die derzeitigen Unterkünfte sind nicht von allen Stadtteilen aus erreichbar, ohne auf den kostenpflichtigen ÖPNV angewiesen zu sein. So gibt es derzeit keine einzige, ganzjährig geöffnete, Notunterkunft (Größe?) für Frauen in der City West.
Selbst öffentliche Toiletten bieten obdachlosen Frauen keinen Schutz vor Gewalt, da diese nur kostenpflichtig betreten werden können. Neben diesen Punkten ist die Beschaffung von Hygieneprodukten ein großes Problem für obdachlose Frauen.
Daher fordern wir:
- Die Durchführung einer geschlechtsspezifischen Datenerhebung.
- Die Schaffung neuer staatlicher Unterkünfte für Frauen in allen Stadtteilen. Konkret: eine Notunterkunft für obdachlose Frauen in der City West.
- Überwachung von Hotspots von sexuellen Übergriffen durch die verstärkte Präsenz von sensibilisiertem und geschultem Sicherheitspersonal.
- Die Ermöglichung einer kostenfreien Nutzung aller Toiletten im öffentlichen Raum für Frauen.
- Die Ausstattung von öffentlichen Toiletten mit kostenfreien Hygieneprodukten und Schwangerschaftstests.
Migration und Obdachlosigkeit
Obdachlosigkeit ist international. In der Berliner Stadtmission wurden im Winter 2017/18 Obdachlose Menschen aus insgesamt 90 Ländern, v.a. Polen, Rumänien und Bulgarien beherbergt. Schätzungen zufolge sind knapp die Hälfte der in Berlin lebenden Obdachlose aus Osteuropa, da diese in ihren Heimatländern zunehmend stigmatisiert und gewaltsam verfolgt werden. So gilt in Ungarn ein Gesetz, das Obdachlosen verbietet, auf der Straße zu leben. Einen Anspruch auf soziale Unterstützung haben viele weder in Deutschland noch in ihren Heimatländern. Doch selbst wenn Ansprüche bestehen, dann sind diese aufgrund der Sprachbarriere und der Unübersichtlichkeit des deutschen Rechtssystems nur schwer durchzusetzen. Die betroffenen Menschen benötigen bei der Durchsetzung ihrer Rechte Unterstützung in ihrer Sprache.
Daher fordern wir:
- Die Unterstützung der Berliner Obdachlosenhilfe durch die Anstellung von Menschen mit Sprachkenntnissen oder den Einsatz von Dolmetscher*innen.
- Eine gesamteuropäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe.
- “Housing First” als Förderprojekt bei der Kommission anzusiedeln.
- Die sozialdemokratischen Bundesminister*innen und Mitglieder der SPD-Fraktion im Bundestag setzen sich für die internationale Durchsetzung der Grund- und Menschenrechte von obdachlosen Menschen ein, indem ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof und eine Staatenklage vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wegen regelmäßiger Verletzungen der Rechte von Obdachlosen eingeleitet wird
Altersarmut und Obdachlosigkeit
Ein relevanter Teil der Menschen, die täglich die Angebote von Suppenküchen, Hilfseinrichtungen und Organisationen der Obdachlosenhilfe in Anspruch nehmen, sind Rentner*innen, die über eine Wohnung verfügen. Aufgrund einer sehr niedrigen Rente werden diese Rentner*innen oftmals vor die Aufgabe gestellt, sich zwischen Geld für anstehende Mietkosten und Geld für Heizkosten und Lebensmittel zu entscheiden, wobei oftmals die Wahl auf das Geld für anstehende Mietkosten fällt, da sie Wohnungen, die sie zum Teil schon Jahrzehnte bewohnen, nicht verlassen wollen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt im Monat sind daher immer mehr Rentner*innen auf die kostenlosen Angebote der Hilfsorganisationen angewiesen, um ihr eigenes Überleben sichern zu können.
Daher fordern wir:
- Die Einführung von Hilfsangeboten im Rahmen der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Obdachlosenhilfe, welche auf die Bedürfnisse von Rentner*innen eingehen können und die sie bei Behördengängen, Besorgungen und auf der Suche nach ggf. günstigeren Wohnungen unterstützen.
medizinische Versorgung
Über 70 Prozent der obdachlosen Menschen leiden an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung – häufig Suchterkrankungen, Depressionen und Psychosen. Obdachlose Menschen sind jedoch selten krankenversichert, die Kostenübernahme in der medizinischen Regelversorgung ist daher häufig schwierig.
Einrichtungen wie die Ambulanz der Stadtmission und der Caritas bieten kostenlose medizinische Versorgung für obdach- und wohnungslose Menschen an. Die Ambulanz der Stadtmission wird von der Deutsche Bahn Stiftung unterstützt, sie erlässt der Ambulanz die Miete. Zudem arbeiten fast zwei Drittel des Personals in medizinischen Ambulanzen für obdachlose Menschen ehrenamtlich. Nur durch dieses gesellschaftliche Engagement kann die medizinische Versorgung obdachloser Menschen gestemmt werden! Denn allein Ärzt*innen arbeiten in den Einrichtungen über 2000 Stunden unbezahlt pro Monat.
Der Senat unterstützt finanziell, jedoch können dadurch bei weitem nicht alle Kosten gedeckt werden. Die Einrichtungen sind auf Spenden angewiesen. Die Mitarbeiter*innen in den Hilfseinrichtungen fühlen sich von der Politik allein gelassen!
Zudem ist die Versorgung obdachloser Menschen nach einem Klinikaufenthalt nicht ausreichend gewährleistet. Lange Wartezeiten auf einen Platz in therapeutischen Wohngemeinschaften und mangelnder Wohnraum führen dazu, dass die Menschen teilweise wieder zurück auf die Straße entlassen werden. Der deregulierte Wohnungsmarkt in Berlin wirkt sich am meisten auf psychisch kranke und arme Personen aus – sie finden keinen Wohnraum. Jedoch ist ein Zuhause eine wichtige Ressource für die Genesung der Patient*innen!
Daher fordern wir:
- Mehr öffentliche Gelder für die Bezahlung von medizinischem Personal in Ambulanzen für obdachlose Menschen bereitzustellen.
- Die Schaffung kostenloser ambulanter psychiatrischer Betreuung unabhängig von einer stationären psychiatrischen Behandlung und gleichzeitiger Unterbringung der Menschen in einem eigenen und sicheren Wohnumfeld. Das bedeutet, den Sozialpsychiatrischen Dienst auszuweiten, mehr Personal einzustellen und eine verstärke Zusammenarbeit von Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und Psychiater*innen.
- Ein Angebot sozialpsychiatrischer Gespräche in allen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen für obdach- und wohnungslose Menschen soll eingeführt und durch das Land Berlin finanziert werden, wobei die Inanspruchnahme der Hilfe durch Dolmetscher*innen immer möglich sein muss.
- Die Schaffung und Finanzierung von mehr (therapeutischem) Wohnraum für die Zeit nach einem Klinikaufenthalt für obdachlose Menschen.
- Eine unbürokratische allgemeine Krankenversicherung für obdachlose Menschen.
mobile Hilfsangebote
Im Rahmen der vielen verschiedenen Angebote der Hilfsorganisationen gibt es auch solche, die die Hilfsangebote zu Menschen bringen, die in Obdachlosigkeit leben und entweder durch Krankheit bedingt immobil oder in einem Maße den Kontakt zum gesellschaftlichen Leben verloren haben, dass dieser erst sehr langsam aufgebaut werden muss, bevor tradierte Hilfsmechanismen greifen können.
Ein weiterer Bestandteil dieser mobilen Hilfe sind aber auch die sogenannten “Kältebusse”, die in den Wintermonaten warme Nahrung, warme Getränke und Schlafsäcke an obdachlose Menschen ausliefern, die sich abends außerhalb von Unterkünften Schlafplätze suchen. Diese sogenannte “mobile Einzelfallhilfe” liegt dabei zum jetzigen Zeitpunkt vollkommen in der Verantwortung zivilgesellschaftlicher Organisationen.
Auch dieser Bereich der Hilfsangebote ist dabei nicht ausreichend mit hauptamtlichen Personal und Finanzmitteln, zur Finanzierung der Angebote aber auch zum Ausbau bestehender Angebote, ausgestattet, was dazu führt, dass die mobilen Hilfsangebote längst nicht alle Gäste und die ihnen bekannten auch nicht im notwendigen Maße unterstützen kann.
Daher fordern wir:
- Die finanzielle und personelle Ausstattung der mobilen Hilfsangebote deutlich auszubauen und staatliche Stellen, die die zivilgesellschaftlichen Angebote unterstützen, aufzubauen.
- Die Aufnahme mobiler Hilfsangebote in das Portfolio bereits bestehender staatlicher Hilfsangebote.
Sicherheit obdachloser Menschen
Die Sicherheit von obdachlosen Menschen ist zu jeder Zeit gefährdet. Sie werden dadurch schnell zum Ziel gewalttätiger Angriffe, wie Raubüberfälle, Körperverletzung, sexualisierter Gewalt, Vergewaltigung oder Totschlag. Vor allem Hunde bieten den obdachlosen Menschen Schutz und Gesellschaft, sind jedoch in den meisten Berliner Unterkünften verboten.
Dies führt dazu, dass einige Menschen nicht die Unterstützung bekommen können, die sie eigentlich benötigen. Solange wir nicht alle obdachlosen Menschen in Unterkünften unterbringen können, müssen Polizei und Hilfseinrichtungen enger zusammenarbeiten, wobei der Schutz der Privatsphäre immer Priorität haben muss. Obdachlose Menschen haben meist schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht und das Vertrauen in den Erhalt effektiver Hilfe im Notfall verloren.
Die Berliner Polizist*innen müssen für den Umgang mit obdachlosen Menschen sensibilisiert werden und Notunterkünfte durch, vom Land zur Verfügung gestelltes, geschultes Sicherheitspersonal unterstützt werden. Derzeit gibt es keine Anlaufstellen innerhalb der Polizei, an die sich obdachlose Menschen ohne Angst vor Repressionen, wenden können.
Daher fordern wir:
- Die allgemeine Öffnung der Notunterkünfte für Hunde oder separate Zimmer für Menschen mit Tieren.
- Engere Zusammenarbeit der Berliner Polizei mit den Hilfseinrichtungen und deren geschultes Personal.
- Sensibilisierung und Schulung der Berliner Polizist*innen im Umgang mit obdachlosen Menschen.
- Eine anonyme Anlaufstelle innerhalb der Polizei, zu etablieren, damit obdachlose Menschen Unterstützung erhalten können.
Drogenpolitik
Anfang 2020 sprach sich die SPD-Bundestagsfraktion gegen eine „Kriminalisierung der Konsument*innen“ aus, allerdings nur hinsichtlich von Cannabis. Wir begrüßen diesen Schritt fordern aber auch, die Entkriminalisierung für alle Drogenkonsument*innen auszuweiten.
Drogenkonsum ist unter obdachlosen Menschen weit verbreitet, Schätzungen zufolge leiden 21% der Obdachlosen unter Suchterkrankungen. Diese Menschen werden noch zusätzlich von der Gesellschaft stigmatisiert. Hier muss geholfen werden, anstatt zu bestrafen. Wir fordern daher die Meldepflicht für Drogenbesitz in Einrichtungen aufzuheben. Derzeit befinden sich Mitarbeiter*innen dieser Einrichtungen stets in einem rechtlichen Graubereich, wenn diese Drogenfunde nicht zur Anzeige bringen. Dies muss aufhören!
Zusätzlich fordern wir einen Ausbau der Möglichkeiten für obdachlose Menschen, legal zu konsumieren. Spritzenautomaten (z.B. am Bahnhof Zoo) gehen hier in die richtige Richtung, reichen aber bei weitem nicht aus. Diese kosten oft 50 Cent pro Spritze, was deutlich zu teuer ist. Außerdem reichen Automaten an sich niemals aus. Wir fordern daher einen massiven Ausbau von Konsumräumen in allen Berliner Bezirken insbesondere auch außerhalb des S-Bahnrings. Diese müssen niederschwellig zugänglich sein und von geschultem Personal betreut werden.
Zusätzlich ist eine kompetente Drogenberatung durch speziell geschultes Personal in der Muttersprache, des hilfesuchenden Menschens unumgänglich. Hier darf sich das Land Berlin nicht allein auf ehrenamtliche Helfer*innen verlassen. Es müssen Stellen geschaffen werden, die aus dem Berliner Landeshaushalt finanziert werden.
Daher fordern wir:
- Die Aufhebung der Meldepflicht für Drogenbesitz in Einrichtungen der Obdachlosenhilfe.
- Den massiven Ausbau von Konsumräumen in allen Berliner Bezirken.
- Eine kompetente Drogenberatung durch speziell geschultes Personal bei gleichzeitiger Unterbringung der Menschen in einem sicheren Wohnumfeld.
- Den Ausbau des Angebotes an sogenannten Spritzenautomaten.
Nutzung des ÖPNV
Um einen vor Kälte und schlechtem Wetter geschützten Raum und Schlafplatz zu finden, nutzen viele obdachlose Menschen Bahnsteige, Haltestellen und Bahnhofshallen und halten sich in diesen auf. Den ÖPNV nutzen sie für Wege zu unterschiedlichen Behörden, Hilfseinrichtungen, Schlafplätzen und Unterkünften, sowie als Möglichkeit, um sich aufzuwärmen und Zeitungen zu verkaufen.
Oftmals haben sie dabei keine – oder nicht mehr gültige – Tickets für den ÖPNV und werden in den Bereichen der Bahnhöfe als “Sicherheitsproblem” verstanden, weshalb sie von Kontrolleur*innen wegen des “Schwarzfahrens” aufgegriffen und von Sicherheitspersonal dem Ort verwiesen werden. Da obdachlose Menschen nur selten die hohen Strafzahlungen für das “Schwarzfahren” leisten können, droht ihnen bei Wiederholung eine mehrwöchige Freiheitsstrafe. Darüber hinaus werden im Rahmen von Umbau- und Renovierungsarbeiten sogenannte “dunkle Ecken” in den Bahnhöfen, in denen obdachlose Menschen, vom Personenverkehr abgeschirmt, Zuflucht suchen, immer mehr abgebaut, stärker beleuchtet und durch Kameras überwacht, was dazu führen soll. dass die obdachlosen Menschen aus den Bahnhöfen vertrieben werden.
Daher fordern wir:
- In Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn und der BVG Konzepte zu entwickeln, die es obdachlosen Menschen auch weiterhin ermöglichen sollen, Bahnhöfe und Bahnhofshallen als Schlafplatz oder Zufluchtsort vor schlechtem Wetter zu nutzen.
An der Forderung einer komplett entgeltfreien Nutzung des ÖPNV für alle Menschen
halten wir fest.
Verbesserung der Datenlage
Statistiken zur Zahl und Charakteristika obdachloser Menschen sind wichtig, damit sich das Berliner Hilfesystem an ihre Bedürfnisse anpassen kann und beispielsweise ausreichend Schlafplätze sowie Hygieneartikel für Frauen* zur Verfügung stehen. Deshalb ist die Forderung nach einer zielführenden Obdachlosenstatistik bereits seit 2017 Beschlusslage der Jusos Berlin.
In der Zwischenzeit wurde eine Zählung obdachloser Menschen unter dem Motto „Nacht der Solidarität“ durchgeführt. Die Durchführung sowie die daraus entstandene Statistik wurden von Sozialarbeiter*innen und der Selbstvertretung obdachloser Menschen in Berlin kritisiert. Es wird davon ausgegangen, dass die erfasste Zahl der obdachlosen Menschen viel geringer ist, als die tatsächliche Zahl. Für die kommende Zählung stellen wir deshalb die folgenden Forderungen:
Aus methodischer Sicht wurde bemängelt, dass in einigen Parks und Grünanlagen, wie beispielsweise im Tiergarten oder im Grunewald, gar nicht oder nicht flächendeckend gezählt wurde. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl der obdachlosen Menschen in Berlin viel höher ist.
Außerdem waren an der „Nacht der Solidarität“ viele freiwillige Helfer*innen beteiligt, die vorher keine Erfahrungen in der Arbeit mit obdachlosen Menschen hatten. Expert*innen gehen deshalb davon aus, dass viele der sogenannten verdeckten Obdachlosen in der Statistik nicht berücksichtigt werden. Beispielsweise halten sich viele Obdachlose in Fast-Food-Ketten auf, die rund um die Uhr geöffnet sind. Auch an diesen Orten wurde nicht gezählt. Nicht alle obdachlosen Menschen sind mit viel Gepäck unterwegs oder auf den ersten Blick als solche erkennbar.
Auch auf die Kritik der Selbstvertretung obdachloser Menschen muss reagiert werden. Die Zählung ist würdelos, solange sie nicht mit konkreten Handlungsschritten verbunden ist.
Daher fordern wir:
- Vor der nächsten Zählung muss klar zu kommunizieren, dass aus den erhobenen Zahlen ein entsprechender Ausbau der Unterbringungsmöglichkeiten folgt.
- Bei der kommenden Zählung die Freiwilligen im Vorfeld intensiv von Expert*innen zu schulen. Gleichzeitig bessere Schätzmethoden zur Erfassung verdeckter Obdachlosigkeit zu entwickeln.
- Das Zählen in unbeleuchteten Flächen und den Kontakt mit obdachlosen Menschen unter Berücksichtigung der Sicherheit der Zählenden zu gewährleisten, ohne hierfür Sicherheitskräfte einzusetzen.