Eine im März 2014 erschienene Studie der EU-Grundrechteagentur zeigte deutlich, dass Frauen* überproportional oft von Gewalt betroffen sind. Von 42.000 befragten Frauen* haben ein Drittel schon einmal häusliche oder sexuelle Gewalt erlitten, 22% davon in Partner*innenschaften. Häusliche und sexuelle Gewalt passiert unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sexueller Orientierung Die Istanbul-Konvention (2014) definiert Gewalt gegen Frauen* als Verletzung von Menschenrechten. Unser Rechtssystem, Hilfsangebote und letzlich die Gesellschaft sind für Betroffene nicht unterstützend genug.
Die Ursache von häuslicher und sexueller Gewalt liegt in der patriarchalischen Gesellschaft. Heteronormative Geschlechterhierarchien und ungleiche Machtverhältnisse führen zu systemischer Gewalt. Häusliche und sexuelle Gewalt ist immer ein Mittel, um einen Machtanspruch durchzusetzen, sie kann als Folge von struktureller Ungleichheit zwischen Männern* und Frauen* verstanden werden. Männer* werden immer noch als das „starke“ und Frauen* als das „schwache, unterlegene“ Geschlecht angesehen. Die Ausübung von häuslicher und sexueller Gewalt führt zur Reproduktion dieser Machtverhältnisse.
Häusliche und sexuelle Gewalt ist noch immer ein Tabuthema, unsere gesellschaftlichen Strukturen fördern ein Totschweigen von Fällen häuslicher und sexueller Gewalt. Fast 70 Prozent der Betroffenen von häuslicher und sexueller Gewalt haben die Vorfälle nie zur Anzeige gebracht.
Häusliche und sexuelle Gewalt muss aufgrund ihres überproportionalen Auftretens und der hohen Dunkelziffer endlich als gesamtgesellschaftliches Problem anerkannt werden!
Folgen häuslicher und sexueller Gewalt
Folgen von häuslicher und sexueller Gewalt sind nicht immer sichtbar, jedoch immer schwerwiegend. So treten psychische, physische und psychosomatische, chronische Organschäden (z.B. Seh- und Hörschädigungen) und Schäden am Bewegungsapparat auf.
Versorgungsdefizit im Gesundheitswesen
Für das Thema sensibilisierte Ärzt*innen können diese Folgen erkennen und die Betroffenen ansprechen. Oft wird häusliche Gewalt jedoch nicht als mögliche Ursache angesehen. Die körperlichen Symptome werden behandelt, jedoch steigt ohne eine ausreichende psychosoziale Behandlung das Risiko für unerkannte gesundheitliche Schäden. Die Chronifizierung der Beschwerden wird durch das Versorgungsdefizit für Betroffene von häuslicher und sexueller Gewalt im Gesundheitssystem in Kauf genommen.
Mediziner*innen und Pflegekräfte fühlen sich nicht gut vorbereitet für den Umgang mit sexueller und häuslicher Gewalt, sagen oft aus Unsicherheit lieber nicht, was ihnen auffällt oder es fällt ihnen gar nicht erst auf. Sie kennen sich nicht mit den verschiedenen Instrumenten zur Erfassung aus und/oder wissen nicht welche Beratungsstellen existieren. Laut einer Studie von Mark (2000) erkennen Hausärzt*innen in Berlin nur jeden zehnten Fall von häuslicher Gewalt. Dazu kommt, dass viele Betroffene den Weg zur medizinischen Behandlung aus Angst vor mangelndem Bewusstsein der Ärzt*innen für das Thema, einer Retraumatisierung oder einem Kontrollverlust gar nicht erst gehen.
Eine Nichtberücksichtigung von Gewalt als Krankheitsursache kann zu einer Überversorgung führen, z.B. durch übermäßige invasive Maßnahmen zur Diagnosestellung. Grundsätzlich fehlt es an auf speziell Betroffene ausgerichteter Versorgung; Schutzräumen, in denen sich Betroffene äußern können und speziellen Therapieformen.
Durch das Versorgungsdefizit entstehen in der Behandlung von Folgen häuslicher und sexueller Gewalt außerdem Unkosten in Milliardenhöhe. Laut der WHO variieren die Folgekosten häuslicher Gewalt weltweit zwischen 1 und fast 13 Milliarden Dollar (WHO 2004: 18).
Betroffene nehmen oft Kontakt zu medizinischem Personal auf
Viele Betroffene können oder wollen sich nicht an Polizei oder Justiz wenden, wenn sie von häuslicher oder sexueller Gewalt betroffen sind. Oft suchen sie jedoch medizinische Hilfe in Notaufnahmen, privaten Kliniken oder bei ihren Hausärzt*innen. Medizinisches Personal hat damit eine gute Möglichkeit zu intervenieren, tut es jedoch aufgrund von Unwissen oder fehlender Bereitschaft nicht. Oftmals fehlen Handlungsstrategien oder auch ganz einfach Kontaktmöglichkeiten zu Organisationen, die sich mit dem Thema bestens auskennen. Weiterbildungen für medizinisches Fachpersonal werden bereits seit vielen Jahren von mehreren Studien empfohlen (z.B. „Domestic violence victims in a hospital emergency department, 1993“), dies hatte bisher jedoch keine Konsequenzen.
Die Zusammenarbeit zwischen medizinischen Einrichtungen und Organisationen, die sich auf die Unterstützung von Opfern häuslicher oder sexueller Gewalt spezialisiert haben, muss gestärkt werden. Der Teufelskreislauf von häuslicher und sexueller Gewalt kann und muss mit allen Mitteln durchbrochen werden.
Maßnahmen
- Pflicht-Fortbildung von medizinischem Personal (Krankenhaus, Hausarztpraxen, niedergelassene Ärzt*innen, Hauskrankenpflege, stationäre Altenpflege, Versorgungszentren)
- Erkennen und Handeln bei häuslicher und sexueller Gewalt zu festem Bestandteil der Ausbildung im medizinischem Bereich machen
- Stärkung der Vernetzung zwischen medizinischen Einrichtungen und Hilfsorganisationen, die sich auf die Arbeit mit Betroffenen von häuslicher und sexueller Gewalt spezialisiert haben
- Förderung und Bekanntmachung von Gewaltschutzambulanzen (wie z.B. die der Charité), die Betroffenen von Gewalt anonym eine Dokumentation ihrer Verletzungen erstellen, falls sie sich später für ein Strafverfahren entscheiden
- Schaffung und Ausweitung von Schutzräumen für Betroffene von häuslicher und sexueller Gewalt, wie z.B. Frauenhäusern und Pflegefamilien
Wir sollten uns auf allen Ebenen dafür einsetzen, dass Betroffene von häuslicher und sexueller Gewalt die Hilfe erhalten, die sie benötigen und ihnen Schutzräume geboten werden. Die Sicherstellung der Schulung von medizinischem Personal als Ansprechpartner*innen ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.