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Antrag 06/III/2016 Silicon-Allee

22.11.2016

Berlin hat sich in den letzten Jahren den Titel als Startup-Hauptstadt Europas erarbeitet. In der Hauptstadt sorgen die Startups für immer neue Innovationen in der Industrie wie auch in der Gesellschaft. Dies macht Berlin auch für die etablierte Wirtschaft attraktiver. Deshalb sind die Startups ein wichtiger Jobmotor. Standortvorteile, wie vergleichsweise niedrige Mieten, niedrige Lebenshaltungskosten, eine gute Infrastruktur und ein reicher Pool an sehr gut ausgebildetem Personal, schaffen klare Wettbewerbsvorteile und machen Berlin, zusätzlich zu seiner kulturellen Attraktivität, hochinteressant für Unternehmen.

 

Startups unterscheiden sich dabei nicht in ihrer Form von etablierten Unternehmen, sondern in ihrem Selbstverständnis als neu gegründete, sehr dynamische und schnell wachsende Geschäftsmodelle. Die Bezeichnung als Startupunternehmen hat dabei keine Auswirkungen auf die Beschäftigungsbedingungen.

 

Ein großer Teil der Startups ist in der Digital- und Kreativwirtschaft tätig. In Berlin sind heute mehr als 70.000 Menschen in der Digitalwirtschaft – und damit auch oft in Startups- beschäftigt und es werden stetig mehr. Gut ausgebildete Arbeitskräfte aus der ganzen Welt kommen nach Berlin, um bei jungen Unternehmen zu arbeiten. Der stetige Zuwachs an Sturtups und die große Zahl an internationalen Beschäftigen stellen uns vor neue Herausforderungen, was Arbeits- und Rahmenbedingungen angeht.

 

Die meisten Arbeitsverhältnisse in Startups sind von einem hohen Grad an Flexibilisierung geprägt, welche zumeist nur den Arbeitgeber*innen zugutekommt. Viele Startups suggerieren oder praktizieren flache Hierarchien, die zu einem angenehmeren Arbeitsklima führen sollen. Zusammen mit zahlreichen Angeboten und einem neuen Verhältnis von Arbeits- und Privatleben, kommt es häufig zu einem Verschwimmen der Grenzen dieser beiden Sphären. Zwischengeschobene Termine und kurzfristig angeordnete unbezahlte Überstunden, die als Gefallen unter Freund*innen verpackt werden, führen oft zu einer weit über 40-Stunden Woche für die Arbeitnehmer*innen. Die damit einhergehende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse äußert sich auch in dem hohen Anteil an freiberuflich Tätigen bzw. der hohen Anzahl an Werkverträgen, kurzen Kündigungsfristen und stark befristeten irregulären Arbeitsverträgen. Diese flexiblen vertraglichen Rahmenbedingungen werden zumeist durch hohe Erwartungshaltungen der Arbeitgeber*innen bezüglich einer flexiblen zeitlichen Abrufbarkeit der Arbeitskraft, deren örtliche Einsetzbarkeit sowie des zu absolvierenden Arbeitspensums seitens der Arbeitnehmer*innen ergänzt. Dabei wird zunehmend auf eine Messung und Entlohnung der tatsächlich abgeleisteten Arbeitszeit verzichtet und stattdessen der Arbeitslohn an Projektarbeit oder komplexe Zielvorgaben gekoppelt. Dies führt dazu, dass der tatsächliche Stundenlohn häufig deutlich unter dem Mindestlohn liegt. Zudem ist es eine übliche Praxis einen Teil des Lohns in Gutscheinen, beispielsweise als Fitnessabo, auszuzahlen. Diese Boni sind in den Arbeitsverträgen oft nicht genau genug geregelt, wodurch Arbeitgeber*innen die Möglichkeit eröffnet wird, indirekte Lohnkürzungen durchzusetzen. Das Fehlen von betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen bei vielen Startups führt zudem dazu, dass die oben beschriebene Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse sowie die Verdichtung des Arbeitspensums für die einzelnen Arbeitnehmer*innen beinah schrankenlos weitergeführt werden können. Versuche der Mitarbeiter*innen sich zu organisieren und beispielsweise einen Betriebsrat zu gründen, werden häufig bereits im Kern erstickt. Dies geschieht beispielsweise über die Drohung jederzeit den Unternehmensstandort wechseln zu können. Durch die große Internationalität der Arbeitnehmer*innen sind viele nicht hinreichend über ihre Rechte informiert. Meist liegen Informationen zu Arbeitsrechten, Löhnen und Mitbestimmungsstrukturen nur in deutscher Sprache vor. Es ist dringend notwendig diese zu übersetzen und dadurch internationalen Gründer*innen und Arbeitnehmer*innen zugänglich zu machen. Insbesondere müssen diese über die grundlegenden Rechte für Arbeitnehmer*innen und die Möglichkeit zur Organisation beispielsweise in Gewerkschaften aufklären.

 

Die Konsequenzen von Entgrenzung und Verdichtung der Arbeit haben die Arbeitnehmer*innen zumeist allein zu tragen. Damit gemeint sind vor allem negative gesundheitliche Folgen auf Grund von Überlastung und Stress. Aber auch das Fehlen von Stabilität und die fehlende Möglichkeit das eigene Leben selbstbestimmt und langfristig planen zu können, bilden die negative Kehrseite, der allzu oft als jung, dynamisch und kreativ dargestellten Startup-Welt.

 

Obwohl wir eine große Chance in der Entwicklung von Startups in Europas sehen, betrachten wir sie gleichzeitig mit einem kritischen Blick und möchten auf die möglichen strukturellen Gefahren hinweisen. Die vermeintlich flachen Hierarchien, die Flexibilität und große Dynamik bedeuten in der Praxis keine Demokratisierung der Arbeitsstellen, Selbt- oder Mitbestimmung der Arbeitnehmer*innen. Die Unternehmenskultur, die viele Startups mitbringen, ist kein Schritt in die Richtung unserer Vorstellung von demokratischen Unternehmen, sondern ein Beispiel zur Förderung kapitalistischer Denkstrukturen. Die vermeintlich flachen Hierarchien schaffen psychischen Druck, der die Selbstbestimmung der Arbeitnehmer*innen erschwert. Im oftmals sehr persönlichen und freund*innenschaftlichen Verhältnis, werden Kritik und Beschwerden erschwert, Rechte nicht eingefordert und Lohnungleichheiten erleichtert. Letzteres wird von Geschäftsführer*innen damit begründet, dass sie auch nicht mehr verdienen würden, was jedoch ignoriert, dass diese in der Regel Unternehmensanteile besitzen. Die eingeforderte Flexibilität führt oft zu unbezahlten Überstunden und eine ständige Bereitschaft und Erreichbarkeit. Die große Dynamik der Startups bedeutet in der Regel eine große Unsicherheit der Arbeitsplätze, die die Mitarbeiter*innen zum Konkurrenzdenken statt Kooperation motiviert. Wir möchten die technischen Entwicklungen für eine bessere und gerechtere Gesellschaft nutzen und negative Konsequenzen rechtzeitig unterbinden.

 

Wie jedes andere Unternehmen sind auch Startups in der Verantwortung gute Arbeitsverhältnisse für ihre Arbeitnehmer*innen zu gewährleisten. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften definieren “Gute Arbeit” über faires Einkommen, berufliche und soziale Sicherheit sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz, der hilft, gesund das Rentenalter zu erreichen. Neben zwischenmenschlichen Komponenten zählen hierbei auch ausgewogene Arbeitszeiten und gute betriebliche Entwicklungsmöglichkeiten. Auch betriebliche Mitbestimmung ist elementarer Bestandteil des Leitbilds.

 

 

Wir fordern daher:

  • öffentliche Förderung von Startup-Unternehmen muss an die Erfüllung arbeitsrechtlicher Bestimmungen und in Anlehnung an die Kriterien „Gute Arbeit“ des DGB gekoppelt sein. Ebenso ist die Genderquote in Unternehmen und Geschäftsführung, sowie der gesamten Startuplandschaft ein Förderkriterium. Dazu kann eine Zweistufenförderung dienen, bei denen sich die Unternehmen  Überprüfungen unterziehen müssen.
  • der Mindestlohn muss auch in Startups gelten. Vertrauensarbeitszeiten dürfen nicht zu unbezahlten Überstunden führen.
  • Scheinselbstständigkeit und eine Unternehmenskultur nach „hire-fast – fire-fast“ müssen unterbunden werden. Der gesetzliche Kündigungsschutz muss ausgeweitet und gestärkt werden. Unter anderem muss die Mindestanzahl an Beschäftigten eines Unternehmens abgesenkt werden, um auch Start-Ups einzuschließen.
  • Prekäre Beschäftigung muss ebenso wie Union Busting (Gewerkschaftsvermeidung) skandalisiert werden. Eine Gesetzesinitiative gegen Union Busting mit Klagemöglichkeiten soll auf den Weg gebracht werden.
  • Betriebsratsgründungen und –wahlen sollen mit Förderanreizen belohnt werden.
  • Ausbildung, insbesondere im Verbund, sind zu fördern, um gerade bei Startups und Klein- und Mittelständische-Unternehmen Ausbildungsplätze zu schaffen.
  • Startups, die Betriebsratsgründung, Informationsveranstaltungen und Vernetzung mit anderen Klein- und Mittelständische-Unternehmen bzw. Start-ups durchführen, sollen davon profitieren.
  • Informationen zu Arbeitsrechten, Löhnen und Mitbestimmungsstrukturen in mehrere relevante Sprachen, mindestens jedoch in Englisch, Französisch, Spanisch und Arabisch zu übersetzten.
  • Vermeidungsstrategien und Geschäftssitzverlagerungen zur Umgehung nationaler Mitbestimmungsrechte und steuerlicher Pflichten müssen auf europäischer und internationaler Ebene unterbunden werden.

 

Antrag 02/III/2016 Änderung Anfechtungsfristen

22.11.2016

Die Mitglieder der SPD-Fraktion des Bundestages sowie das BMJ werden aufgefordert, durch eine Gesetzgebungsinitiative das Insolvenzanfechtungsrecht wie folgt zu ändern:

 

Es soll eine Anfechtbarkeit aller Sicherungen und Befriedigungen, die im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen wurden, ohne jede weitere Voraussetzung an die Stelle der bislang in § 130 und § 131 InsO geregelten Anfechtung unter einschränkenden Bedingungen innerhalb des kritischen Zeitraumes von bis zu drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung treten. Nur für nahe stehende Personen (§ 138 InsO) soll die Frist ohne weitere Voraussetzungen weiter drei Monate betragen. Die Bargeschäftsausnahme nach § 142 InsO soll allerdings auch für diese Anfechtungsmöglichkeit gelten. Soweit eine Anfechtbarkeit außerhalb von §§ 130, 131 InsO möglich ist, soll es dabei grundsätzlich verbleiben, so etwa bei Fällen vorsätzlicher Benachteiligung, wie sie jetzt von § 133 InsO erfasst sind, und für unentgeltliche Leistungen im Sinne von § 134 InsO.

 

Antrag 77/II/2015 Automatische Auskunft bei Datenspeicherung einführen

16.10.2015

Die SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus wird dazu aufgefordert, sich für eine Änderung des §42 des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) einzusetzen und somit eine automatische Auskunft über Speicherung personenbezogener Daten in den polizeilichen Dateien einzuführen. Diese Auskunft soll die Bezeichnung des Speicherorts, den Anlass der Speicherung sowie die gespeicherten Daten umfassen. Ebenfalls ist dem Auskunftsschreiben eine Rechtsbehelfsbelehrung beizufügen.  Über alle Veränderungen und Löschungen müssen die Betroffenen automatisch informiert werden.

Antrag 71/II/2015 Fasst Euch ein Herz - Organspendepraxis verbessern

16.10.2015

Die Etablierung der Organtransplantation in den 1950er Jahren ist zweifellos ein Meilenstein in der Medizingeschichte und rettete bis heute ungezählten Menschen das Leben. Eine Reihe von Skandalen in der Zuweisung von Organen um das Jahr 2012 führte aber zu einem alarmierenden Einbruch der Spendenzahlen, der bis heute nicht überwunden ist. Um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und insgesamt einen höheren Erfolg bei Organtransplantationen zu erreichen, sollen daher folgenden Maßnahmen beschlossen werden:

 

1) Widerspruchslösung einführen

 

Forderung: Das Transplantationsgesetz soll dahingehend überarbeitet werden, dass alle in Deutschland verstor­benen Personen grundsätzlich als Organspender*innen gel­ten und diesen Status erst durch einen schriftlichen Widerspruch verlieren. Alle Staatsbürger*innen mit Wohnort in Deutschland müssen in regelmäßigen Abständen über die relevanten medizinischen und organisatorischen Aspekte der Organspende informiert sowie deutlich erkennbar auf die Mög­lichkeit zum Widerspruch hingewiesen werden.

 

Zu prüfen ist auch die Einführung einer separaten Information und Widerspruchsmöglichkeit für Personen, die sich nur kurzzeitig im Bundesgebiet. Vor jeder Organentnahme muss überprüft werden, ob zu Lebzeiten ein Widerspruch eingelegt wurde. Jede*r muss einen Widerspruch unkompliziert und kostenfrei erklären können. Die Widerspruchslösung wird gültig mit Eintritt in die Volljährigkeit. Bei potentiellen minderjährigen Organspender*innen sollen die nächsten Angehörigen dem mutmaßlichen Willen des oder der Minderjährigen entsprechend über eine Organspende entscheiden. Bei Personen, die wegen geistiger Behinderung, langfristiger Bewusstlosigkeit o. ä. zu keinem Zeitpunkt als Erwachsene Widerspruch einlegen konnten, entscheiden die Angehörigen über eine Organspende.

 

Analyse: Im Jahr 2013 standen in Deutschland 876 tatsächlichen Organspenden über 10.000 bedürftige Patienten*innen gegenüber. Dieses Missverhältnis ist hauptsächlich durch eine geringe Mobilisie­rung der Bevölkerung zu erklären: Obwohl 68 % der Menschen zu einer Organspende bereit sind, besitzen nur 28 % einen Spendenausweis und gaben damit eine eindeutige Entscheidung ab. Von 1.370 potentiellen Organspenden 2013 wurden 402 durch die Ablehnung der Angehörigen verhin­dert. Um diesen umfassenden Mangel zu beheben und für klare Entscheidungen zu sorgen, wird gemäß des Votums des 113. Ärztetag aus dem Jahr 2010 eine Widerspruchslösung nach Vorbild Österreichs, Belgiens und anderen Ländern eingeführt.

 

2) Werbung für Organspende intensivieren

 

Forderung: Angesichts der rückläufigen Spendebereitschaft müssen auf allen Ebenen die Aufklärung über und Werbung für eine größere Aufmerksamkeit in der breiten Bevölkerung umgesetzt werden. Dazu soll eine Verstärkung der physischen Präsenz durch Informationsstände und Vorträge an Schulen erwogen werden.

 

3) Qualitätsmanagement im medizinischen Bereich stärken

Forderung: Das Bundesgesundheitsministerium wird in Zusammenarbeit mit Fachverbänden der Pflege und Medizin bereits in medizinischen Ausbildungen ein stärkeres Bewusstsein für problematische Arbeitsabläufe sowie die Bereitschaft zu deren Kritik und Verbesserung schaffen. Ansatzpunkte kann eine vertiefende Einführung oder Weiterentwicklung von Fehlermeldesystemen sein.

 

4) Überstundenregelungen für Krankenhauspersonal durchsetzen

Forderung: Das Bundesgesundheitsministerium wird in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften eine effektive Er­fassung und Begrenzung von Überstunden für ärztliches und pflegerisches Personal durchsetzen. Dazu sollen die Einführung von elektronischen Arbeitszeiterfassungssystemen vorgeschrieben und die Gewerbeaufsichtsämter zu einer stärkeren Kontrolle motiviert werden. Ebenfalls muss die Krankenhausfinanzierung entsprechend geändert werden, um die durch die Reduzierung der Überstunden nötigen zusätzlichen Arbeitskräfte einstellen zu können.

Analyse: Im MB-Monitor 2013 gaben von den dort befragten Ärzt*innen etwa 75 % an, mehr als 48 Stunden pro Woche zu arbeiten; 3 % davon sogar 80 Stunden oder mehr. 71 % der Beschäftigten verspürten Krankheitserscheinungen wie Schlafstörungen oder Übermüdung als Folge von Überstunden.Im Pflege-Thermometer 2009 gaben von den dort befragten Pflegekräften 40 % der Befragten an, zwischen 46 und 70 Überstunden geleistet zu haben. „Hochgerechnet auf alle Gesundheits- und Krankenpflegenden in Krankenhäusern in Deutschland wurden damit in den letzten sechs Monaten vor der Befragung Überstunden für rund 15.000 zusätzliche Vollzeitkräfte in Deutschland geleistet.“ Die Folgen solcher Belastungen für die menschliche Leistungsfähigkeit können bei der Arbeit im Krankenhaus zu schwerwiegenden Fehlern führen: Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung MDK stellte in seiner Behandlungsfehler-Begutachtung für das Jahr 2014 insgesamt 155 Todesfälle und 1.294 Fälle von verschieden ausgeprägten Dauerschäden durch medizinische Behandlungsfehler fest. Der MDK-Leiter Patientensicherheit Max Skorning stellt unter den vielfältigen Ursachen für Behandlungsfehler auch Übermüdung fest. In Umfragen unter Ärzt*innen aus Japan 2005 und Neuseeland 2007 räumten 42 % bzw. 26 % ein, Fehler aus Schlafmangel begangen zu haben. Auch um erfolgreiche Organtransplantationen zu gewährleisten, muss die Ausbeutung durch Überstundenarbeit beseitigt werden. Ansatzpunkt bildet dabei die mangelhafte Verwaltung: Bei 53 % der im MB-Monitor 2013 Befragten werden Überstunden nicht einmal ausreichend dokumentiert, womit die Grundlage für eine berechtigte Abgeltung fehlt.

 

Zur Lösung trägt zunächst die Einsetzung von elektronischen Arbeitszeiterfassungssystemen bei, die im Vergleich zu handschriftlichen Alternativen meist weniger leicht manipulierbar sind. Selbst wenn nachweislich mehr Arbeit als erlaubt geleistet wird, sehen sich viele Beschäftigte nicht in der Lage, ihr Anrecht gegenüber den Vorgesetzten einzufordern, weil dies nur mit einer verringerten Betriebsfähigkeit der Klinik und damit auf Kosten der Patienten*innen einher gehen würde. Daraus ergeben sich zwei Anforderungen: Zum Einen müssen stärkere Kontrollen der Arbeitszeitvereinbarungen durch die zuständige Gewerbeaufsicht durchgeführt werden, wie sie der Marburger Bund seit Langem fordert. Zum Anderen wird eine angemessene Neuregelung der Krankenhausfinanzierung nötig, weil das deutsche System diagnosebezogener Fallgruppen („German Diagnosis Related Groups“, G-DRG), die Investitionskostenzuschüsse der Länder und andere Finanzierungsquellen der Krankenhäuser gegenwärtig unzureichend sind – es ist zu befürchten, dass bei einer angemessenen Begrenzung von Überstunden die derzeitige Personalstärke in den meisten Krankenhäusern nicht ausreichen würde, um einen ordnungsgemäßen Betrieb zu leisten.

Antrag 61/II/2015 Jungen Geflüchteten helfen – statt Menschenbeschau!

16.10.2015

Wir fordern die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, die zuständigen Stadträt*innen in den Bezirken und die Mitglieder des Abgeordnetenhauses auf, dafür zu sorgen, dass keine demütigenden, die Menschenwürde verletzenden Altersfeststellungen bei jungen (unbegleiteten) Geflüchteten mehr stattfinden. Es sind insbesondere die Ganzkörperbeschauung – einschließlich des Genitalbereiches – und medizinisch nicht notwendigen Röntgenaufnahmen sofort einzustellen. Stattdessen muss die Altersangabe der*des Geflüchteten maßbeglich sein.

 

Eine demütigende Praxis in Berlin und Hamburg

In Berlin – wie auch in Hamburg – finden Untersuchungen statt, die den Genitalbereich der Geflüchteten einschließt. Außerdem werden in beiden Städten Röntgenaufnahmen – z.B. der Handwurzelknochen und dem Schlüsselbein-Brustbein-Gelenk – angefertigt. Die Charité nimmt diese Prozeduren im Auftrag der Jugendämter vor. Die Jugendämter nehmen offensichtlich die hohen Kosten für die Untersuchungen in Kauf, um den Geflüchteten die Leistungen der Jugendhilfe verweigern zu können. Ihren eigenen Angaben wurde in diesen Fällen nicht geglaubt. In den letzten Jahren berichteten Medien wiederholt davon, wie so Ämter versuchten, für junge Geflüchteten von der Jugendhilfe fernzuhalten.

 

Medizinisch hochfragwürdige Untersuchungen

Diese Altersfeststellungen sind medizinisch mindestens fragwürdig, wenn nicht ganz und gar unhaltbar. Die Kritik von anerkannten Mediziner*innen wurde bisher in Berlin leider bisher gänzlich ignoriert. Schon wenn nur ein Zweifel an den Untersuchungen bestünde, dürften sie nicht über Schicksale entscheiden.

 

Eine scheinbare „Freiwilligkeit“

Die hin und wieder suggerierte „Freiwilligkeit“ ist ein Trugschluss. Sich den Untersuchungen zu verweigern, bedeutet schlicht nicht die Unterstützung als anerkannter Minderjähriger zu erhalten. Entsprechende Papiere, mit denen sie ihr Alter beweisen könnten, führen die Jugendlichen nach einer beschwerlichen, lebensgefährlichen Flucht häufig nicht mit sich – wenn sie diese Nachweise im Herkunftsland überhaupt bekommen konnten.

 

Fehlende Rücksicht gegenüber Jugendlichen

Viele von ihnen sind traumatisiert. Sie haben nicht selten Gewalt erfahren – darunter möglicherweise auch sexualisierte Gewalt. Es kann deshalb nicht verantwortet werden, sie derartigen Situationen auszusetzen. Zudem sind die betroffenen jungen Geflüchteten noch in einer Sexualentwicklung, sodass sie die Untersuchungen als besonders demütigend wahrnehmen könnten.

 

Ungerechtfertigte Röntgenaufnahmen

Unter Mediziner*innen ist es anerkannte Lehrmeinung, dass medizinisch unbegründete Röntgenstrahlungen zu vermeiden sind. Eine Altersfeststellung stellt nach unserer Auffassung keinen hinreichenden Grund da, Jugendliche dieser Gesundheitsgefährdung gezielt auszusetzen.

 

Zügige Hilfe ist möglich

Vielmehr müssen die Jugendhilfe-Angebote für Geflüchtete genutzt und ausgeweitet werden. Weil ohnehin individuelle Entwicklungsstände der Ansatz für alle diese Maßnahmen sein sollten, besteht gar keine Notwendigkeit das exakte Alter auf den Monat oder Jahr genau – was wie gesagt gar nicht möglich wäre – zu bestimmen.

 

Andere Bundesländer sehen keine Notwendigkeit solcher Altersfeststellungen

Alle anderen Bundesländer – außer Hamburg – verzichten gänzlich auf nicht medizinisch gesicherten Altersfeststellungen und stellen in der Regel jungen Geflüchtete nicht unter Generalverdacht, falsche Altersangaben zu machen. Die Vorgaben sind in den meisten Bundesländern, den Aussagen der Geflüchteten zu glauben. In massiven Zweifelsfällen werden Gespräche mit Sozialpädagog*innen oder anderen Expert*innen herangezogen. Fehlerhafte Beurteilungen können dabei zwar auftreten, aber die Demütigung fällt weg. Schlussendlich hilft nur, dass die Behörden die Geflüchteten nicht als Problem ansehen, sondern die Chancen einer sofortigen, individuellen Unterstützung sehen.