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Antrag 185/I/2018 Rechtschaffenheit kennt keine Altersgrenze – Lehren aus dem „Koblenzer Neo-Naziprozess“

30.04.2018

Im Jahr 2012 begann der „Koblenzer Neo-Naziprozess“ gegen die rechtsterroristische Vereinigung Aktionsbüro Mittelrhein am Landgericht Koblenz. Den damals 26 Angeklagten wurde auf über 900 Seiten Anklageschrift u.a. die Bildung einer kriminellen Vereinigung, Körperverletzung und Brandstiftung vorgeworfen. Die Angeklagten sollen Andersdenke bedroht und Hakenkreuze gesprüht haben. Der Hass der angeklagten Nazis soll in gewalttätigen Überfällen gegen Linke gegipfelt haben, wie z.B. auf das linksautonome Wohnprojekt Praxis in Dresden-Löbtau im Februar 2011, auf linke Aktivist*innen beim Verteilen von Flugblättern in Wuppertal im Januar 2011 und in Bad Neuenahr im Mai desselben Jahres.

 

An über 300 Verhandlungstagen wurde reichlich Beweismaterial vorgetragen. Zu einer Verurteilung kam es jedoch nicht. Das Verfahren wurde im Mai 2017 endgültig eingestellt – weil der Vorsitzende Richter laut Landesrichtergesetz wegen Vollendung seines 65. Lebensjahres in Pension treten musste und ein neues Verfahren nicht begonnen wurde. Letzteres wurde damit begründet, dass ein neues Verfahren womöglich zehn Jahre dauern würde und daher unverhältnismäßig lang sei. Zwar hat das Oberlandesgericht Koblenz im Dezember 2017 entschieden, dass der Prozess fortgesetzt werden muss. Da die zuständige Kammer jedoch in neuer Besetzung verhandeln wird, muss die Beweisaufnahme wieder von vorne beginnen.

 

Auch in Berlin treten Richter*innen gem. § 3 Berliner Richtergesetz mit Ende des Monats, in dem sie das 65. Lebensjahr vollendet haben, in den Ruhestand. Dies darf ausdrücklich nicht hinausgeschoben werden. Dass laufende Strafverfahren abgebrochen werden und neu beginnen müssen, weil eine Richterin oder ein Richter pensioniert wird, kommt zwar nicht häufig, aber trotzdem immer wieder vor. Bei der Geschäftsverteilung achten die Gerichtspräsidien auf anstehende Pensionierungen und ergreifen entsprechende Maßnahmen. Dies beruht auf einer Prognose, wie lange bestimmte Strafverfahren wohl dauern werden. Gerade bei unerwartet „komplizierten“ Prozessen kann diese Prognose aber auch falsch sein. Insbesondere im Bereich des Rechtsterrorismus, aber auch bei anderen schweren Gewalttaten schwächen diese Ausnahmefälle das Vertrauen in die Justiz und den Rechtsstaat massiv.

 

Ein Prozessabbruch kann am effektivsten vermieden werden, wenn zu Beginn eines Strafverfahrens eine weitere Richterin oder ein weiterer Richter hinzugezogen wird, der den Prozess nach der Pensionierung seiner Kollegin bzw. seines Kollegen übernehmen kann. Das Institut des Ergänzungsrichters bzw. der Ergänzungsrichterin (§ 192 GVG) wird aufgrund knapper personeller Ressourcen und der hohen Belastung der Gerichte jedoch nur selten genutzt.

 

Um Prozessabbrüche vollständig zu vermeiden, fordern wir daher:

  1. Eine deutliche Verbesserung der personellen Ausstattung der Gerichte – nicht nur in der Strafgerichtsbarkeit. Dazu gehört die Schaffung zusätzlicher Richter*innenstellen, aber auch zusätzliches Personal in den Geschäftsstellen. Die Hinzuziehung einer Ergänzungsrichterin oder eines Ergänzungsrichters darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil gerade keine personellen Kapazitäten dafür vorhanden sind.
  2. Eine Änderung des § 192 GVG. Bisher heißt es dort, dass Ergänzungsrichter*innen bei Verhandlungen längerer Dauer hinzugezogen werden können. Der Wortlaut soll zukünftig lauten: „Unter Berücksichtigung der Zahl der Angeklagten und des Umfangs einer Sache sollen Ergänzungsrichter[*innen] bestellt werden“.
  3. Der Landesgesetzgeber soll darüber hinaus prüfen, ob § 3 des Berliner Richtergesetzes um eine Ausnahmeregelung ergänzt werden kann, die Richter*innen in bestimmten Fällen ein Hinausschieben ihrer Pensionierung ermöglicht, ohne das Recht auf den gesetzlichen Richter anzutasten. Es muss sichergestellt sein, dass die Justizverwaltung, welche über die Verlängerung zu entscheiden hat, den Vorgang nicht dazu nutzen kann, die Besetzung eines Spruchkörpers zu beeinflussen.

 

Antrag WV152/I/2018 Community Policing: Paradigmenwechsel in der Berliner Polizeiarbeit

30.04.2018

Die Debatte um den Themenkomplex Innere Sicherheit war in den letzten Jahren für die politische Linke, gerade im Land Berlin, von Orientierungslosigkeit und reaktionären Impulsen gekennzeichnet. Angesichts dessen, dass rechte Parteien den öffentlichen Diskurs mit Forderungen nach immer repressiveren staatlichen Maßnahmen dominieren, sehnen sich nun einige sozialdemokratische Politiker*innen danach das Thema Innere Sicherheit – im Sinne von Sofortmaßnahmen, die eine grundsätzliche Debatte zu den strukturellen Implikationen und Gefahren von ausgeweiteter Staatsgewalt zunächst vertagen – von links zu besetzen.

 

Anstatt jedoch fundamentale Kritik an den von Rechts geforderten Maßnahmen zu äußern und sozial integrative Gegenmodelle zu formulieren, verkommt dieser Wunsch gängiger Weise zur simplen reaktionären Übernahme eben jener Praktiken. Mehr repressive Polizeipräsenz, zunehmende Aufrüstung, Ausweitung von Überwachungsinstrumenten, höhere Strafmaße, verkürzte Justizverfahren. Man will den Bürger*innen scheinbar beweisen, dass man genauso entschlossen gegen Kriminalität vorgehen kann, validiert dabei aber gleichzeitig die repressiven, teils-destruktiven, und meist nicht zielführenden Praktiken, welche vom rechten Spektrum angeführt werden. Dabei zeigen Blicke in jene Länder, die tough on crime als Staatsräson verinnerlicht haben, dass eine solche Eskalationsspirale der immer härteren Maßnahmen keines Wegs mehr Sicherheit schafft, sondern zu einem sozialen Klima der Angst und der ständigen empfundenen Bedrohung führt.

 

Wir verweigern uns einem Einstieg in diese Eskalationsspirale. Wir fordern ein Modell für die Berliner Polizei, welches auf sozialer Integration und Kriminalprävention basiert. Der Notruf, die Funkstreife, und die Videokamera am kriminalitätsbelasteten Platz sind lediglich reaktive Maßnahmen die erst Greifen, wenn die Straftat bereits passiert- und der Schaden bereits angerichtet ist. Die dem zugrundeliegenden Probleme werden mit diesen Werkzeugen jedoch weder identifiziert, noch behoben.  Wir fordern daher ein Konzept, welches an einem Punkt vor dem Notruf oder der Strafanzeige ansetzt. Wir fordern ein Konzept, welches Repression durch Kommunikation ersetzt. Wir fordern ein Konzept, welches die Bürger*innen in die Sicherheitsarchitektur integriert, und sie als zentrale Akteur*innen aktiviert. Wir fordern ein Konzept, dessen Fundament auf der Strategie des Community Policing basiert.

 

Was ist Community Policing?

Community Policing ist ein Polizeistrategiekonzept, welches auf kontinuierlichen, stabilen, kommunikativen Beziehungen zwischen der Polizei und der kommunalen Gemeinschaft zum Zwecke der Problemidentifizierung und Kriminalprävention basiert. Ein personell gleichbleibendes Team von Beamt*innen wird dabei dediziert und permanent einem bestimmten überschaubaren geographischen Abschnitt der Stadt zugeordnet, in welchem es täglich für die Mitglieder der lokalen Gemeinschaft präsent, sichtbar und ansprechbar ist. Um physische Barrieren abzubauen verzichten die Beamt*innen dabei in der Regel auf Streifenwagen und bewegen sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad fort. Ziel ist es dabei durch kontinuierliche gegenseitige Kommunikation und Interaktion eine Partnerschaft zwischen den Bürger*innen und den Beamt*innen aufzubauen, um Probleme vor Ort gemeinsam zu identifizieren und passende Lösungsansätze zu erarbeiten.

 

Die Community Policing Einheit ist dabei üblicherweise organisatorisch und handlungspraktisch von den anderen polizeilichen Diensteinheiten der Kriminalitätsbekämpfung- und Ermittlung getrennt. Erkennt die Community Policing Beamt*in Anhaltspunkte, die Kriminalermittlungen rechtfertigen, liegt es in ihrer Diskretion diese an die dafür zuständige Einheit zu informieren. Die Community Policing Beamt*in wendet, abgesehen von unmittelbaren Vorfällen, selbst keine Exekutivmaßnahmen an. Auch in der Anwendung von repressiven Maßnahmen ist sie auf akute Notfälle, sowie zum Zweck der Selbstverteidigung beschränkt. So verzichten Community Policing Einheiten in Großbritannien zum Beispiel komplett auf das mitführen von Schuss- und Hiebwaffen.

 

Zusätzlich spielen Elemente kommunaler Bürger*innenteilhabe in Community Policing Konzepten eine zentrale Rolle. Die spezifischen Maßnahmen sind stark abhängig von den Gegebenheiten vor Ort und der jeweiligen Strategie der Polizei. Sie können beispielsweise die Form von kommunalen Rundtischen oder mobilen Sprechstunden einnehmen. Wichtig ist einerseits, dass Bürger*innen einen verlässlichen Anlaufpunkt zur Kommunikation haben, und dass andererseits eine effektive Rechenschaftspflicht zwischen den Beamt*innen und den Bürger*innen hergestellt wird. Die Ziele der Polizeiarbeit werden dann von den Bürger*innen und den Beamt*innen gemeinsam erarbeitet und formuliert.

 

Die Aufgaben der Problemidentifikation und Problemlösung beziehen sich dabei explizit nicht auf die Identifikation und Verhaftung von Straftäter*innen. Vielmehr stehen Alltagsprobleme aus dem Kiez im Mittelpunkt, welche sich auf das ganzheitliche Klima auswirken, und nicht einmal unmittelbar strafrechtlich relevant sein müssen. Warum kommt es an dieser Kreuzung häufig zu Unfällen? Haben die Kinder einen sicheren Schulweg? Warum treffen sich an bestimmten Punkten regelmäßig Suchtkranke, und wie kann man diesen helfen? Warum kommt es zu Spannungen und Konflikten zwischen bestimmten Anwohnern? Gibt es im Kiez Angebote, die Jugendliche mit viel unstrukturierter Freizeit auffangen können? Die Rolle der Community Policing Beamt*innen ist die von sozialen Mediator*innen, die sich flexibel und kontextgerecht den oftmals unterschiedlichen Problemstellungen einer jeden lokalen Gemeinschaft anpassen. Ein solches Netzwerk lokaler Interessensvertreter*innen bietet Vorteile für alle beteiligten. Zum einen ergibt sich ein kohärentes Gesamtbild der sozialen Lage und den bestimmten Problemstellungen im Kiez, welches allen Akteur*innen ermöglicht besser auf diese zu reagieren. Zum anderen können Community Policing Beamt*innen in bestimmten Situationen auf dieses Netzwerk zuzugreifen. So können z. B. Suchtberatungsstellen oder Jugendhäuser in Problemlösungsprozesse integriert werden, oder umgekehrt auf Beamt*innen zugehen und diese auf bestimmte Problemlagen aufmerksam machen.

 

Die Policing Community Einheiten sollen sich dabei gleichermaßen aus lokal vernetzten und aus anderen Einsatzgebieten hinzugezogenen Beamt*innen zusammensetzen. Damit wird die bereits bestehende Ortskenntnis der Beamt*innen sinnvoll um eine kontrollierende Außenperspektive ergänzt. Dabei muss gewährleistet sein, dass die Polizeiarbeit innerhalb eines festgelegten Rahmens stattfindet, weshalb ein allgemein gültiger Ziel- und Kompetenzkatalog definiert werden muss, der die Grundlage jeder Polizeiarbeit bilden soll. Zudem soll sich die Polizeiarbeit ausdrücklich nicht nur an den Bedürfnissen der Bürger*innen orientieren, die sich an der Diskussion beteiligen, sondern die Bedürfnisse aller im Kiez lebender Personen berücksichtigen. Zu diesem Zweck sollen lokale Vereinigungen, karitative Verbände und Unternehmen aktiv in das Konzept eingebunden werden.

 

Community Policing Beamt*innen sind im Kiez eingebettete Akteur*innen, die neben unmittelbar kriminologischen Aspekten vorrangig das soziale Gesamtgefüge im Blick haben sollen. Dabei sind sie jedoch weder ein erweitertes Ordnungsamt, noch übernehmen sie die Funktionen von Sozialarbeiter*innen. Während Beamt*innen des Ordnungsamts mit der klaren Maßgabe vorgehen Ordnungswidrigkeiten zu identifizieren und zu ahnden, also eine ausschließlich exekutive Funktion einnehmen, erfüllen Community Policing Beamt*innen die Aufgabe strukturelle Probleme, die sich mitunter in einer Anhäufung von Ordnungswidrigkeiten (z.B. öffentlicher Drogenkonsum) äußern können, zu identifizieren und zusammen mit der Gemeinschaft zu konstruktiven Lösungsansätzen zu kommen. Dabei erfüllen sie jedoch auch nicht die Funktion von Sozialarbeitern, die mit bestimmten Einzelpersonen über einen längeren Zeitraum Lösungen zu ihren konkreten Lebenssituationen erarbeiten und diese betreuen. Einzelpersonen mit Beratungsstellen oder karitativen Einrichtungen zu vernetzen, sofern diese das möchten, kann eine Maßnahme der Beamt*innen sein, unterliegt letztendlich aber ihrer Diskretion.

 

Community Policing wird in unterschiedlichen Formen in einer Vielzahl von Ländern angewandt, allen voran in Teilen der Vereinigten Staaten, in Großbritannien, und in den skandinavischen Ländern. Eines der bekannteren deutschen Community Policing Konzepte sind die sogenannten Bezirksbeamten in Düsseldorf. Die Resultate sind in allen Anwendungsbereichen die selben: Rückläufige Kriminalitäts- und Ordnungswidrigkeitsraten, insbesondere in der Gewaltkriminalität, und ein höheres Sicherheitsgefühl unter den Bürger*innen. Somit adressiert Community Policing sowohl Fragen objektiver Sicherheit, im Sinne von quantitativ erfassbaren Rückgängen an Vorfällen, als auch Fragen subjektiver Sicherheit, im Sinne eines sozialeren, vertrauensvolleren gesellschaftlichen Klimas.

 

Aus feministischer Perspektive ist Community Policing außerdem wesentlich geeigneter Fragen weiblicher Sicherheit zu adressieren, als traditionelle responsiv-repressive Polizeistrategien. So ist zum Beispiel der Notruf oder der Gang zur Polizei für viele Opfer von Missbrauch und häuslicher Gewalt oft mit Scham oder der erheblichen Angst vor Vergeltungsmaßnahmen des Mannes verbunden. Notrufstreifen sind in der unmittelbaren Situation ebenfalls oft die Hände gebunden. In einem Community Policing Konzept hingegen ist es für eine Beamt*in möglich, nachdem sie Hinweise von Anwohner*innen oder vom Opfer selbst erhalten hat, diskretere Wege einzuleiten dem Opfer zu helfen (z. B. die Vernetzung mit einer Beratungsstelle), das Opfer zu einer Anzeige zu ermutigen und diese ggf. mit ihr angemessen vorzubereiten. Deshalb ist es unerlässlich, dass in jedem Kiez auch mindestens eine weibliche Community Policing Beamtin präsent ist.

 

Community Policing

  • Verringert durch einen gesamtgesellschaftlichen Präventivansatz Kriminalität und Ordnungswidrigkeiten
  • Verringert durch effektive Prävention den Einsatz von reaktionären und repressiven Maßnahmen
  • Erhöht durch kontinuierliche Kommunikation und gemeinsame Zielsetzungen das Sicherheitsgefühl der Bürger*innen
  • Stellt den Kiez in den Mittelpunkt der Sicherheitsarchitektur und ist so in der Lage Strategien und Maßnahmen an den jeweiligen unterschiedlichen Problemstellungen auszurichten
  • Schafft Vertrauen zwischen den Beamt*innen und den Bürger*innen
  • Aktiviert Bürger*innen als zentrale Akteure in Qualitäts- und Sicherheitsfragen ihres Kiezes und Ermöglicht effektive Teilhabe

 

Hintergrund: Community Policing in Berlin – Die sogenannten Kontaktbereichsbeamt*innen

Dem Community Policing ähnliche Elemente wurden im damaligen Westberlin im Zuge einer Polizeireform bereits in den 1970er Jahren unter dem Begriff „Kontaktbereichsbeamte“ eingeführt. Die Aufgabe der Beamt*innen in ihren jeweiligen Kiezen (Konktaktbereiche) bestand darin dauerhaft verfügbare und verlässliche Ansprechpartner*innen darzustellen, die bei kleineren Problemen aushelfen, bei Konflikten als Mediator*innen auftreten können, und aufgrund ihrer dauerhaften Präsenz im- und Interaktion mit dem Kiez eine Schlüsselrolle in der Kriminalprävention einzunehmen.

 

Mit der Berliner Polizeireform von 1998 und der Einführung des sogenannten „Berliner Modells“, welches vorsah alle responsiven, investigativen, und administrativen Prozesse fortan in Person der Funkstreifen zu vereinen, wurde die Praxis der Kontaktbereichsbeamt*innen effektiv eingestellt. Die Aufgaben, welche die KoBBs zuvor dediziert und gesondert von den übrigen Polizeieinheiten ausübten, wurden zur Zuständigkeit aller Dienstkräfte erklärt. Eine effektive Trennung von Exekutivaufgaben und Präventionspraktiken war so nicht mehr gewährleistet. Die zuvor zentralen Aspekte der Bürger*innennähe sowie der personell etablierten und zeitlich permanenten Präsenz wurden außerdem durch massive Personalreduzierungen drastisch untergraben.

 

2007 wurde der Kontakrbereichtsdienst in limitierter Form wieder eingeführt. Zudem wurde auf Initiative des Berliner Polizeipräsidenten das „Berliner Modell“ 2014 wieder zurückgerollt, sodass administrative Aufgaben wieder von dedizierten Personal übernommen wurden. Infolgedessen blieb die Rolle der wenigen noch verbleibenden Kontaktbereichsbeamt*innen jedoch institutionell vage und öffentlich kaum erkennbar.

 

Eine kleine Anfrage des Grünen Abgeordneten Benedikt Lux an die Senatsverwaltung im Januar 2016 ergab: das Berliner Stadtgebiet ist derzeit in 1.208 Kontaktbereiche aufgeteilt. Jedem Kontaktbereich sei „grundsätzlich […] eine Dienstkraft der Polizei Berlin namentlich zugeordnet“. In ihren Handlungen sind die KoBBs jedoch nicht auf die klassische Community Policing Arbeit beschränkt, sondern „stehen grundsätzlich für alle Aufgaben im Einsatzdienst der Dienstgruppen zur Verfügung“, wozu „Wachdienst, Funkwageneinsatzdienst, Brennpunktstreifen, Verkehrsüberwachung, Kriminalitätsbekämpfung und der Veranstaltungsschutz gehören“. Zwar wird eine Entlastung zugunsten der klassischen KoBB Aufgaben angestrebt, diese wird jedoch vom chronischen Personalmangel und einer fehlenden verbindlichen Community Policing Organisationsstruktur maßgeblich untergraben. Die aktuellen KoBBs sind daher nicht mit den „alten KoBBs“ gleichzusetzen; eine Einschätzung, die der Berliner Polizeipräsident im Januar 2015 öffentlich einem Interview mit der Berliner Zeitung teilte.

 

Im  Abschnitt „Polizeipräsenz vor Ort sichern“ des Rot-Rot-Grünen Koalitionsvertrags der Berliner Landesregierung finden sich die Forderungen nach „mehr Kontaktbereichsbeamte[n] im Kiez“ und einem „spürbaren“ Ausbau von Fuß- und Fahrradstreifen. Die generelle Stoßrichtung ist die richtige, jedoch finden sich im Vertrag keine Spezifizierungen zur Qualität und Organisationsstruktur dieser Präsenz. Außerdem fehlt eine klare Zielsetzung zur Anzahl der zusätzlichen Kontaktbereichsbeamt*innen, sowie Aussagen über ihre Einsatzart und ihre Handlungsfelder. Eine bloße Erhöhung der Anzahl von Kontaktbereichsbeamt*innen, ohne sie explizit und exklusiv an ein strukturell definiertes Regelwerk von Community Policing Praktiken zu binden, ist unzureichend und verfehlt den erwünschten Effekt.

 

Paradigmenwechsel: Community Policing als Fundament der Berliner Polizeiarbeit etablieren!

Wir fordern ein Sicherheitsnetzwerk der sozialen Integration und der innergesellschaftlichen Solidarität. Community Policing als Fundament für die Berliner Polizeiarbeit stellt den Kiez der Bürger*innen in den Mittelpunkt, setzt den polizeilichen Fokus auf Präventivarbeit, definiert die Rolle von Polizeibeamt*innen in der Stadtgesellschaft neu, und bietet einen Ausweg aus der Eskalationsspirale der reaktiven und repressiven Maßnahmen, welche die aktuelle Debatte dominiert. Die Berliner Praxis der Kontaktbereichsbeamt*innen ist ein brauchbarer Ausgangspunkt für einen solchen Paradigmenwechsel, greift aber angesichts der unklaren Zuständigkeiten und Zielsetzungen, der unzureichenden öffentlichen Kommunikation, und der Abwesenheit eines verbindlichen Community Policing Konzepts deutlich zu kurz.

 

Deshalb fordern wir:

  • Die Erarbeitung eines wissenschaftlich fundierten, umfassenden Community Policing Konzepts für Berlin durch eine Expert*innenkommission unter expliziter Einbeziehung der Polizei und dessen schnellstmögliche Umsetzung.
  • Die Restrukturierung des Kontaktbereichsbeamten*innen-Programms in eine handlungsfähige Community Policing Einheit, welche mit den nötigen Ressourcen ausgestattet wird. Die Community Policing Einheit ist von Exekutivaufgaben der konventionellen Kriminalitätsbekämpfung- und Ermittlung zu befreien.
  • Die Schaffung eines verbindlichen Regelwerks, welches die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise von Community Policing Beamt*innen definiert.
  • Die explizite und exklusive Bindung von Community Policing Beamt*innen an dieses Regelwerk. Die Beamt*innen dürfen keine Bedarfseinheiten für andere Diensteinheiten mehr sein.
  • Community Policing Beamt*innen sollen keine Schuss- oder Hiebwaffen mit sich führen.
  • Jedem Kontaktbereich soll mindestens eine weibliche Beamt*in und mindestens ein männlicher Beamter zugeteilt sein.
  • Wo angebracht sollen die jeweiligen Beamt*innen Sprachkenntnisse entsprechend den lokalen Migrant*innen-Communities besitzen.
  • Die Community Policing Einheit soll den jeweiligen Kontaktbereichen entsprechend konkrete Maßnahmen zur Bürger*innenteilhabe erarbeiten.
  • Die Polizei Berlin soll in der Ausbildung einen klaren Fokus auf Community Policing setzen.
  • Die Polizei Berlin soll deutlich mehr Beamt*innen Ausbilden, damit ein solches Community Policing Konzept effektiv und in adäquater Personenstärke angewandt werden kann,
  • Die Rolle, Funktion und Ziele der Beamt*innen sollen öffentlichkeitswirksam sichtbar gemacht und kommuniziert werden.

 

Antrag 176/I/2018 Schluss mit Ersatzfreiheitsstrafen!

30.04.2018

Wir fordern: Die bundesweite Abschaffung von Ersatzfreiheitsstrafen durch die ersatzlose Streichung des §43 StGB.

Wir treten außerdem weiterhin dafür ein, dass das Fahren ohne Fahrschein („Schwarzfahren“) entkriminalisiert wird. Weitere Vergehen sollen zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft werden.

Wir fordern die SPD auf, sich für die Erarbeitung eines Konzeptes für einen fairen, gerechten und sozialen Umgang mit Menschen, die sich Geldstrafen nicht leisten können, einzusetzen.

Rund zehn Prozent aller Inhaftierten in Deutschland sitzen eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe ab. Damit ist Deutschland Spitzenreiter im europäischen Vergleich – weit vor Frankreich, England und Wales, Spanien und den skandinavischen Ländern.

 

Die Ersatzfreiheitsstrafe wird dann verhängt, wenn Verurteilte ihre Geldstrafen nicht bezahlen können. Meistens handelt es sich um Delikte wie „Schwarzfahren“ oder kleinere Diebstähle. Obgleich solche Delikte von Personen aus allen Bevölkerungsteilen begangen werden, müssen vor allem ökonomisch und sozial benachteiligte Menschen aufgrund ihrer Zahlungsunfähigkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe ableisten, also nicht, weil sie die Geldstrafen nicht bezahlen wollen, sondern es schlichtweg nicht können. Die Geldstrafe wird wie folgt berechnet: Ein Tagessatz entspricht 1/30 des Nettoeinkommens. Häufig wird das zur Verfügung stehende Nettoeinkommen sowie der Bedarf an Einkommen zur Sicherung eines Mindestlebensstandards grob geschätzt. Nicht selten werden die Menschen zu bis zu 30 Tagessätzen verurteilt und müssen folglich bis zu einem ganzen Monatsgehalt als Strafe zahlen.

 

Wer eine Geldstrafe nicht zahlen kann, muss pro Tagessatz einen Tag im Gefängnis verbringen. Personen, die die geforderte Summe nicht aufbringen können, erleiden dadurch

  1. eine unverhältnismäßige Strafe für ein minderes Delikt, das keinen größeren Schaden verursacht und das deswegen auch nicht mit einer Freiheitsstrafe eingebüßt werden sollte.
  2. Sie werden damit für dieselben Delikte stärker bestraft als zahlungskräftigere Personen.

 

Die Tagessätze von Geldstrafen sind oftmals unangemessen hoch. Selbst bei Berücksichtigung des Nettohaushaltseinkommens, kommen nah am Existenzminimum lebende Menschen schnell in Bedrängnis. Sie werden verhältnismäßig stärker belastet als besserverdienende Menschen. Somit ist die Ersatzfreiheitsstrafe eine Armutsstrafe.

 

Die Freiheitsstrafe stellt für Betroffene mehrfache Bestrafung dar und setzt eine Abwärtsspirale in Gang: Selbst nach (wiederholten) kurzen Haftstrafen haben Betroffene es besonders schwer einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. Oft führt ein Haftbefehl auch zu einer Kündigung und gesellschaftlicher Stigmatisierung. Während der Haftstrafe können Gefangene arbeiten. Dennoch zahlen sie nicht in die Sozialsysteme ein, weshalb sie langfristig auch von einem deutlich höheren Altersarmutsrisiko betroffen sind. Statt zu resozialisieren, führt die Ersatzfreiheitsstrafe zu einem weiteren sozialen und ökonomischen Abstieg in der Gesellschaft. Die Freiheitsstrafe verschärft soziale Ungleichheiten!

 

Das Strafrecht soll Gerechtigkeit durchsetzen und keine Ungleichheiten reproduzieren, daher ist ein anderer Umgang mit Menschen, die sich Geldstrafen zu den geforderten Fristen und Höhen nicht leisten können, nötig. Formal können Betroffene innerhalb von zwei Wochen nach Rechtsprechung Einspruch gegen die Umwandlung der Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe erheben, einen Antrag auf Ratenzahlung stellen oder die Ableistung der Strafe durch gemeinnützige Arbeit beantragen. Viele Betroffene sind jedoch nicht über ihre Rechte informiert, lassen die kurze Frist verstreichen oder sehen sich überfordert, eine gemeinnützige Arbeit zu finden. Oft fehlt der Zugang zu Rechtsberatung, Rechtsbeistand und psychosozialer Unterstützung. Menschen mit höherer Bildung, mit mehr Vermögen und Einkommen werden erheblich seltener durch Ersatzfreiheitsstrafen bestraft und sind demnach auch nicht von den eben genannten sozialen Folgeschäden einer Ersatzfreiheitsstrafe betroffen.

 

Nicht nur für die einzelnen Betroffenen stellen die Ersatzfreiheitsstrafen unverhältnismäßige Strafen mit erheblichen Folgen dar. Eine inhaftierte Person verursacht pro Tag über 100 Euro an Kosten. Bei durchschnittlich fünf bis 30 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe für kleine Delikte wie Schwarzfahren kommen jährlich mindestens 200 Millionen Euro an Kosten nur die Inhaftierung zustande. Auch diese Kosten sind als unverhältnismäßig anzusehen. Die von der SPD Berlin bereits geforderte Herabstufung des Schwarzfahrens von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit reicht noch nicht aus, um dieses Problem ausreichend zu lösen. Denn auch wenn das bei einer Ordnungswidrigkeit verhängte Bußgeld nicht gezahlt werden kann, können Ersatzfreiheitsstrafen drohen. Die SPD muss sich weiterführende Konzepte zur Entkriminalisierung solcher geringfügigen Delikte einsetzen. Diese Konzepte sollen unbedingt die unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen verschiedener Menschen mitbedenken und somit ein sozial faires und verhältnismäßiges Verfahren bei kleinen Delikten ermitteln.

Antrag WV153/I/2018 Für unsere Grundrechte: Abrüsten bei den Polizeien

30.04.2018

Der Umgang mit den Demonstrationen während der verschiedenen G20-Gipfel-Veranstaltungen im letzten Jahr sowie zum Beispiel rund um den Parteitag der AfD in Hannover haben gezeigt, dass wir das Grundrecht auf Demonstration besser schützen müssen, sodass alle Menschen von diesem Grundrecht gebrauch machen können und gefahrlos, sicher und frei demonstrieren können.

 

Dazu gehört einerseits konsequentes Vorgehen der Polizei bei Demonstrationen gegen gewalttätige Störer*innen von friedlichen Versammlungen und von freier Meinungsäußerung. Denn wer das Versammlungsrecht missbraucht um Gewalt gegen Menschen und Dinge auszuüben und damit friedliche Teilnehmer*innen von Demonstrationen in der Ausübung ihres Grundrechts gewalttätig behindert und gefährdet, muss von der Polizei daran gehindert werden.

 

Gleichzeitig liegt es auch in der Verantwortung der Polizei bei potentiellen Konfliktsituationen während Demonstrationen ihren Beitrag zur Deeskalation der Situation zu leisten. Die Eskalation der Gewalt rund um den G20-Gipfel hat erneut gezeigt, dass weder ein massives Personal- noch Materialaufgebot der Polizei auf potentielle Gewalttäter*innen abschreckend wirkt und eine solche Eskalation verhindern kann. Im Gegenteil, eine solche Abschreckungsstrategie wirkt provozierend, weil sie auf eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit auch friedlicher Demonstrant*innen hinausläuft. Auch die mehreren hundert teilweise schwer verletzte Polizist*innen und Demonstrant*innen belegen, dass diese Strategie gescheitert und niemandem der Beteiligten zuzumuten ist. Wer auf Gewalt aus ist, bedient sich selbst Eskalationsstrategien und wird sich durch Aufrüstung und Druck nicht abschrecken lassen. Dafür ist aber die freie Grundrechtsausübung aller friedlichen Demonstrant*innen gefährdet.

 

Aus dem Desaster der Polizeiarbeit während der G20-Gipfelveranstaltungen müssen nun entsprechende lehren gezogen werden. Zunächst einmal muss das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit nicht leichtfertig eingeschränkt werden. Ein Verbot des Protestcamps kurz vor dem Gipfel führte bereits zu ersten Spannungen und einem Unverständnis der Demonstranten gegenüber der Polizei aber auch den Genehmigungsbehörden.

 

Die erste Lehre muss daher sein: Auch den Demonstrant*innen gehört der öffentliche Raum, die Politik sollte sie bei ihren Demonstrationsbestrebungen unterstützen. Den Demonstranten muss Raum für ihre freie und friedliche Meinungsäußerung zugesichert werden.

 

Die benötigte Ausrüstung zum Schutz der Schutzpersonen wie zum Beispiel besonders gefährdete Politiker*innen darf nur zu deren Schutz, in deren unmittelbarer Nähe eingesetzt werden. Sie darf nicht gegenüber Demonstrant*innen oder anderen Zivilpersonen zur Einschüchterung verwendet werden.

 

Auch die demonstrative Zurschaustellung zunehmend paramilitärischer Ausrüstung in Verbindung mit martialischem Auftreten von Polizist*innen trägt nicht zur Deeskalation bei. Solche Ausrüstung wird vorgeblich vor dem Hintergrund steigender Terrorgefahr beschafft. Tatsächlich kommen sie aber auch zur Abschreckung bei Demonstrationen wie beim G20-Gipfel zum Einsatz. Der Zweck von Kriegswaffen wie Sturmgewehren ist das Töten von Menschen. Werden sie im Umfeld von Demonstrationen, wie in Hamburg geschehen, eingesetzt, wird den Teilnehmenden insofern implizit mit ihrer Tötung gedroht. Unter diesen Voraussetzungen ist die freie Ausübung der Grundrechte Versammlungsfreiheit und freier Meinungsäußerung nicht mehr gewährleistet.

 

Deshalb fordern wir Abrüstung bei den Polizeien des Bundes und der Länder. Alle direkt in Kontakt mit den Demonstrierenden stehenden Polizist*innen müssen die Versammlungsfreiheit sicherstellen. Dazu gehört, dass Polizist*innen dem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Ausrüstung nach nicht in erster Linie als potentielle Gefahrenquelle, sondern als politisch neutrale Grundrechtswahrer*innen wahrgenommen werden können. Pfefferspray und andere chemische Reizstoffe, sowie Panzerwagen und Wasserwerfer haben auf Demonstrationen grundsätzlich nichts zu suchen. Schlagstöcke und Schusswaffen dürfen nur im äußersten Notfall eingesetzt werden, wenn alle Mittel zur Deeskalation ausgeschöpft sind. Diese müssen abseits bereitgehalten getragen werden. Die Polizist*innen in der ersten Reihe müssen stets unbewaffnet sein.

 

Statt die Polizei mit immer schwereren Geschützen auszurüsten fordern wir einen stärkeren Fokus auf Deeskalationsstrategien innerhalb von Fortbildungen und in der Ausbildung der Polizist*innen.

Antrag 148/I/2018 “Mein Körper geht nur mich etwas an!”: Stop Fatshaming!

30.04.2018

Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beschäftigen wir uns mit verschiedenen Formen der Diskriminierung. In unserer patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft ist seit jeher zu beobachten, dass die Akzeptanz verschiedener Körperformen sowie deren Freiheit, selbst darüber verfügen und entscheiden zu können, umstritten ist. Alles was nicht der Norm entspricht, wird angeschaut und verurteilt. Die patriarchal-kapitalistische Gesellschaft verkörpert ein Körperideal, welches es einzuhalten gilt und propagiert, dass ein gesunder Körper ein schlanker Körper ist. Doch kann ein Mensch in dieser Abhängigkeit selbstbestimmt leben? Und ist diese kapitalistische Gesellschaftsform ein Abbild unserer vielfältigen Gesellschaft? Nein! Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beginnt Selbstbestimmung bei jeder*jedem Einzelnen, die*der aus eigener Überzeugung heraus freie Entscheidungen trifft. Besonders Frauen* und queere Personen müssen sich immer wieder Räume für ihren eigenen Körper erstreiten.

Oft sind sie Stigmatisierungen und Ausgrenzung ausgesetzt. Dabei steht jedem Menschen das Recht auf ein Leben unabhängig gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu.

 

Wir fordern eine Gesellschaft, der Freien und Gleichen. Wir wissen jedoch, dass dieser Weg noch erkämpft und verteidigt werden muss. Aus diesem Grund wollen wir uns eingehend mit Gewichtsdiskriminierung auseinandersetzen, es in die SPD sowie in die Gesellschaft tragen und die Gesellschaft dahingehend verändern, dass Diskriminierung aufgrund des Gewichts bekämpft und die Diversität der Körperformen akzeptiert wird.

 

Analyse der derzeitigen Situation

Gegenwärtig befinden wir uns in unruhigen Zeiten, in dem der Wegfall bestehender Bezugspunkte, Identitätsprobleme auf den Körper übertragen. Daneben ist unsere schnelllebige und moderne Gesellschaft stark von visuellen Medien geprägt. Durch diese Prägung gewinnt der Körperkult zunehmend an Bedeutung und wird als Symbol der Klassenidentität wahrgenommen, wodurch Menschen  und insbesondere Geschlechter ihrer Körperform nach in gesellschaftliche Schichten kategorisiert werden: Dünnen und schlanken Körpern werden Adjektive wie gesund, fit, fleißig und zielstrebig zugesprochen. Dicken und hochgewichtigen Körpern hingegen werden Eigenschaften wie unsportlich, krank, unmotiviert und faul verknüpft. Im Rahmen des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes (AGG) ergab eine repräsentative Umfrage, dass zwei Drittel der befragten Personen Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihres Gewichts und ihres äußerlichen Erscheinungsbildes in den entscheidenden Lebensbereichen wie dem Arbeitsmarkt, Bildung, Mobilität, Freizeit, Privatleben, Gesundheit und Pflege machten. Vor allem im Bereich Gesundheit und Pflege kritisierten die befragten Personen die mangelhafte Ausstattung der Krankenhäuser im Gesundheitssystem und die herablassende Äußerungen durch das Krankenhauspersonal.

Laut einer Umfrage der DAK finden 75 Prozent der Männer* und 67 Prozent der Frauen* hochgewichtige Menschen unästhetisch.

 

Bereits Kinder und Jugendliche werden insofern sozialisiert, dass sie andere dicke und hochgewichtige Kinder und Jugendliche ausgrenzen. Diskriminierung aufgrund eines hohen Körpergewichts passiert somit täglich, überall und betrifft immer mehr Menschen. Die negativen sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen von Gewichtsdiskriminierung führen zu gesellschaftlicher und sozialer Ausgrenzung. Zudem führen Stress und Ausgrenzung zu Körperbildstörungen, Essstörungen und Depressionen. Besonders Frauen* und queere Personen sind von dieser Art der Diskriminierung betroffen, die neben intersektioneller Diskriminierung wie Herkunft, sexuelle Orientierung oder des Alters, weit verbreitet ist.

 

Studien besagen, dass Frauen* ihrem Körper eine weitaus höhere Bedeutung für das eigene Selbstbild zuschreiben als Männer*. Auslöser dieser verzerrten Wahrnehmung ist, dass Frauen* stärker von kapitalistisch-gesellschaftlichen Zwängen betroffen sind. Die kapitalistisch-sexistische Mode- und Schönheitsindustrie bekräftigt diese Zwänge, die das Bild der perfekten und makellosen Figur mit entsprechender Kleidergröße sowie den permanenten Druck des Diäthaltens als Lebensmittelpunkt der Frau* propagieren.

 

Gewichtsdiskriminierung als bildungspolitische Aufgabe verstehen

Schon in der frühkindlichen Erziehung ist Gewichtsdiskriminierung offensichtlich zu erkennen. Internationale Studien zeigen, dass Gewichtsdiskriminierung die mit Abstand häufigste Form von Diskriminierung an Schulen ist und bereits in der ersten Klasse nachgewiesen werden kann. Diese Kinder und Jugendliche, die unter Gewichtsdiskriminierung im Kindergarten und in der Schule leiden, weisen doppelt so häufig Suizidversuche und depressive Zustände auf wie Kinder und Jugendliche, die nicht unter Gewichtsdiskriminierung leiden.

Daher fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie auf, Gewichtsdiskriminierung, Schönheitsideale und Körperdiversität in die Rahmenlehrpläne des Landes Berlin für die Fächer Geschichte, Sachkunde, Sozialkunde, Biologie, Ethik und Philosophie aufzunehmen.

Zudem fordern wir die zuständige Senatsverwaltung auf, die Lehrkräfte mit pädagogischen Aus-, Fort- und Weiterbildungen für Gewichtsdiskriminierung zu sensibilisieren.

 

Außerdem werden in der Literatur dicke und hochgewichtige Menschen als defizitär dargestellt oder gar nicht berücksichtigt. Bereits in Kinderbüchern lassen sich stereotypische Darstellungen finden, die Gewichtsdiskriminierung spürbar verstärken.

Daher fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das Land Berlin auf, zusätzliche finanzielle Mittel für die Bibliotheken zur Verfügung zu stellen, um gezielte Titel sowie Bücher in den Bestand aufzunehmen, die ein positives Körperbild fördern. Dabei soll das Land Berlin vor allem den Schwerpunkt im Bereich der Kinder- und Jugendbücher setzen und entsprechende Verlage mit Landeszuschüssen unterstützen. Ziel ist es, dass verstärkt Bücher in den Bestand der Bibliotheken aufgenommen werden, die die Diversität verschiedener Körperformen aufzeigen und mit Vorurteilen, die gegenüber einem hohen Körpergewicht bestehen, aufräumen.

 

Anonymisierte Bewerbungsverfahren für die Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst bis 2020

Ein Foto im Lebenslauf ruft bekanntlich Vorurteile hervor. Vor Allem bei dicken und hochgewichtigen Menschen senkt ein Foto die Chance, zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, erheblich. Das zeigt eine Studie der Universität Tübingen, in der dicke Frauen* besonders bei Personalentscheidungen schlecht abschnitten: 98 Prozent der befragten Personalleiter*innen trauten dicken Frauen* keine prestigeträchtigen Berufe in Führungspositionen wie Ärztin* oder Architektin* zu. Anonymisierte Bewerbungsverfahren können dafür sorgen, dass dicke und hochgewichtige Menschen in der Vorauswahl für ein Bewerbungsgespräch nicht aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes aussortiert werden. Bereits von März 2014 bis März 2015 wurde im Rahmen des Berliner Pilotprojekts Vielfalt fördern das Verfahren der anonymisierten Bewerbung getestet. Wir fordern die Senatskanzlei und die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales auf, das im Pilotprojekt getestete Verfahren der anonymisierten Bewerbung in der öffentlichen Verwaltung und den Landesbetrieben flächendeckend bis 2020 einzuführen.

 

Verbeamtung für Menschen mit hohem Körpergewicht erleichtern

Gemäß Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzbuches (GG) muss eine Person nach Ermittlung ihrer*seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichberechtigten Zugang zur Verbeamtung haben. Die besagte Eignung einer Person für den öffentlichen Dienst wird u. a. in Form einer amtsärztlichen Untersuchung ermittelt. Da das Körpergewicht im medizinischen Kontext oft voreilige und denunzierende Schlüsse auf den Gesundheitszustand und die Leistungsfähigkeit einer Person zieht, erhalten dicke und hochgewichtige Verbeamtungskandidat*innen nach dieser Untersuchung häufig einen negativen Bescheid. Seit einem richtungsweisenden Gerichtsurteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2013 hat dieser diskriminierende und negative Bescheid der amtsärztlichen Untersuchung keinen Bestand mehr. Leider findet diese Rechtsprechung weder im Berliner Kammergesetz noch in der Weiterbildungsordnung der Berliner Ärztekammer Geltung.

 

Daher fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung und die Berliner Ärztekammer auf, die Weiterbildungsordnung um das Merkmal der Gewichtsdiskriminierung auszuweiten. Durch intern organisierte Fort- und Weiterbildungen sollen Amtsärzt*innen über die  Diversität der Körperformen aufgeklärt und sensibilisiert werden. Vor allem muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Gewichtssituation nicht als Grund für alle Erkrankungen eine Rolle spielen darf. Niemandem darf aufgrund seiner*ihrer Gewichtssituation eine vorurteilsfreie Behandlung verweigert werden.

Gleichzeitig fordern wir die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung und die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung dazu auf, im Bereich der gesundheitlichen Versorgung die Ärzt*innenschaft sowie das Gesundheitspersonal für Diskriminierung des Körpergewichts gesetzlich zu sensibilisieren und diese Vorgabe in die Berufsordnung zu übernehmen. Des Weiteren setzen wir voraus, dass entsprechende medizinische Geräte in Krankenhäusern und Arztpraxen angeschafft werden, damit die notwendigen Untersuchungen von dicken und hochgewichtigen Menschen gewährleistet wird.

 

Health-at-Every-Size-(HAES)-Ansätze fördern

Medizinische Maßnahmen für “gesunde Ernährung“ erfolgen in der Regel um “Übergewicht“ und Adipositas präventiv zu bekämpfen. Denn oft wird gesunde Ernährung mit einem gesunden und schlanken Körpergewicht gleichgesetzt. Gesunde Ernährung führe automatisch zu einem gesunden Körpergewicht, wodurch „gesund“ in unserer Gesellschaft meist mit „dünn“ oder “schlank” gleichgesetzt wird. Bereits dicke Kinder und Jugendliche erfahren eine starke Ablehnung durch Gleichaltrige. Sie sehen sich mit dem Vorurteil konfrontiert, ihr Dicksein sei ein Defizit sowie ein Zeichen mangelnder Ernährungsbildung und Willenskraft. Der Stigmatisierung des dicken und hochgewichtigen Körpers durch die ausschließliche Gleichsetzung von „dünn“ mit „gesund“ muss hier entschlossen entgegengewirkt werden.

 

Darum fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung auf kurzfristig Mitglieder für die Landesgesundheitskonferenz zu berufen, die einen Health-At-Every-Size-(HAES)-Ansatz vertreten.

Langfristig fordern wir die zuständige Senatsverwaltung auf ein Aktionsprogramm und Aufklärungsbroschüren zu entwickeln, die eine körperpositive Entwicklung fördert, Gewichtsvielfalt als Teil der menschlichen Diversität begreift und Gewichtsdiskriminierung entscheidend bekämpft.

 

Body Mass Index (BMI) als Gesundheitsindikator abschaffen

Der Body Mass Index (BMI) berechnet das vermeintliche Über-, Unter- und Normalgewicht eines Menschen. Seine Aussagekraft als Gesundheitsindikator ist in der Fachwelt stark umstritten, denn der BMI lässt weder Schlüsse über die Körperfettverteilung noch über den Anteil der Muskelmasse der betreffenden Person zu. Aktuell wird er beispielsweise im Rahmen der Einschulungsuntersuchungen bei Kindern des Landes Berlin eingesetzt. Aufgrund seines zweifelhaften Nutzens finden wir, dass der Body Mass Index keine weitere Verwendung als Gesundheitsindikator finden darf und somit abgeschafft werden muss.

 

Mobilität dicker und hochgewichtiger Menschen im Öffentlichen Nahverkehr verbessern

Derzeit stellen enge Gänge, Armlehnen, die nicht hochgeklappt werden können, Ritzen oder Giebel, wie sie sich beispielsweise zwischen Kunststoffschalensitzen ergeben, ein schmerzhaftes Hindernis für dicke und hochgewichtige Personen dar.Dabei würden breite Gänge und geeignete Sitzmöglichkeiten dicken und hochgewichtigen Menschen die uneingeschränkte Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs ermöglichen. Auch wenn sich § 8 Abs. 3 des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) für die “Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen“ ausspricht und sich das “Ziel [gesetzt hat,] bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen.“, werden die Bedürfnisse dicker und hochgewichtiger Menschen bei der Gang- und Sitzplatzgestaltung der öffentlichen Verkehrsmittel mit diesem Begriff der Barrierefreiheit bisher nicht beachtet. Wir fordern daher die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz auf, die hochgewichtige Personengruppe sowie ihre Bedürfnisse detailliert im Nahverkehrsplan des Landes Berlin zu nennen.

 

Erweiterung der Vorschriften zur Barrierefreiheit der Landesbauordnung

Bei der Planung von öffentlichen Gebäuden und Gewerbebauten werden die Bedürfnisse von dicken und hochgewichtigen Menschen häufig nicht bedacht. So werden beispielsweise zu enge Durchgänge und unzureichend belastbares oder einengendes Mobiliar vorgesehen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten verlangen, dass die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen durch eine entsprechende Erweiterung der Landesbauordnung und der zugehörigen Informationsmaterialien, die Barrierefreiheit für dicke und hochgewichtige Menschen gewährleistet. Darüber hinaus fordern wir die zuständige Senatsverwaltung auf, einen entsprechenden Antrag zur Aktualisierung der DIN-Norm 18 040 für barrierefreies Bauen einzubringen.

Wir fordern, dass die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen diese Maßnahmen bis zum Jahr 2020 umsetzt.

 

Gewichtsdiskriminierende Werbung auf den bezirkseigenen Werbeflächen verbieten

Mehreren Berliner Bezirken liegen Beschlüsse vor, die “diskriminierende, frauen*feindliche und sexistische Außenwerbung“ auf den bezirkseigenen Werbeflächen untersagen. Der Begriff “diskriminierend“ schließt in diesem Fall eine Diskriminierung anhand von Gewicht nicht ein. Da in unserer Gesellschaft und Medienlandschaft das Schönheitsideal im weiblichen* Geschlecht verankert ist, werden vor allem Frauen*, die diesem Schönheitsideal nicht entsprechen, benachteiligt und sind in hohem Maße von zugespitzter und sexistischer Werbung betroffen.

Aus diesem Grund fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung auf, gewichtsdiskriminierende und sexistische Außenwerbung im Land Berlin zu untersagen.

Gewichtsvielfalt als Teil von Diversität verstehen und kommunizieren

 

Obwohl Gewichtsdiskriminierung eine viel verbreitete Form der Diskriminierung ist, wird in den aktuellen Diversity-Ansätzen des Berliner Senats, wie dem Netzwerk Vielfalt und Chancengleichheit und dem Berliner Diversometer, der Begriff “Gewicht” nicht berücksichtigt. Wir fordern das Land Berlin auf, die entsprechende Erweiterung der Gewichtsdivielfalt in ihr Verständnis von Diversität aufzunehmen und die Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (LADS) zur gewichtsvorbeugen Botschafterin dieses erweiterten Verständnisses von Diversität zu ernennen. Durch Fachveranstaltungen, Aufklärungsseminaren und die Bereitsstellung entsprechender Informationsmaterialien kann die Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (LADS) das erweiterte Verständnis von Diversität nachhaltig in die Gesellschaft tragen. Zudem ist das Land Berlin Mitglied der “Charta der Vielfalt”. Die “Charta der Vielfalt” und ihre Mitglieder – zu der u.a. verschiedene Unternehmen und Institution angehören – verpflichten sich dazu, die Anerkennung, Wertschätzung und Einbeziehung von Diversität in der Arbeitswelt voranzubringen. Durch ihre Mitgliedschaft kann das Land Berlin die inhaltliche Ausrichtung in Mitgliederversammlungen mitgestalten und eine entsprechende Erweiterung der Charta in Bezug auf Körpervielfalt als Teil von Diversität anregen.

 

Erweiterung des Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG) um das Merkmal Gewicht

Darüber hinaus muss der Zuständigkeitsbereich der Landesantidiskriminierungsstelle (LADS) um Diskriminierungen dicker und hochgewichtiger Menschen erweitert werden.

 

Die Arbeit der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung ist auf die in §1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sowie auf die in Art. 10 Abs. 2 und Art. 11 der Berliner Verfassung genannten Diskriminierungsmerkmale ausgerichtet und ist in den folgenden Berliner Landesgesetzen festgeschrieben:

 

  • Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz (LGBG)
  • Berliner Landesgleichstellungsgesetz (LGG)
  • Berliner Partizipations- und Integrationsgesetz (PartIntG)
  • Berliner Seniorenmitwirkungsgesetz (BerlSenG)
  • Gesetz zur Gleichberechtigung von Menschen unterschiedlicher sexueller Identität (SexGlBerG).

 

Da bisher Gewichtsdiskriminierung weder in den oben genannten Berliner Landesgesetzen berücksichtigt wird noch unter keine der im Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) genannten Merkmale vollständig eingliedern lässt, fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hiermit die Aufnahme und Ausweitung der Berliner Landesgesetze auf das Merkmal Gewicht.

Die Lücke im Diskriminierungsschutz des Landes Berlin muss endlich geschlossen werden, sodass Klagen aufgrund von Diskriminierung des Körpergewichts rechtswirksam sind.