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Antrag 285/II/2019 Den ökologischen Wandel sozial und nachhaltig gestalten - Für einen sozialdemokratischen „Green New Deal“

23.09.2019

Der SPD-Landesvorstand wird aufgefordert ein Zukunfts- und Investitionsprogramm zu entwickeln, das auf dem Parteitag 2020 der Bundes-SPD zur Beschlussfassung vorgelegt werden soll. Dieses wird unsere Antwort auf die Klimakrise und die Digitalisierung sein. Es formuliert eine klare nachfrageorientierte Alternative zur Politik der “Schwarzen Null”. Basierend auf den Grundsätzen der Sozialdemokratie werden wir den notwendigen gesellschaftlichen Wandel als Fortschritt gestalten.

 

Dieses Zukunfts- und Investitionsprogramm soll mit aktiver Beteiligung der Parteigliederungen entwickelt werden.

Grundlage dieses Zukunfts- und Investitionsprogramms soll die Weiterentwicklung des sozialdemokratisch geprägten Vorschlags des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) “Ein Marshallplan für Europa” sein.

Antrag 239/I/2019 Sozialstaat bürger*innennah 2025 - Berlin muss Vorbild werden!

25.02.2019

Der SPD Landesvorstand wird aufgefordert gemeinsam mit den Gliederungen der Partei und den sozialdemokratischen Mitgliedern des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen sowohl eine umfassende positive Vision, als auch in Eckpunkten ein ambitioniertes und gleichwohl umsetzbares Konzept zu entwickeln, wie der Sozialstaat für Menschen in Berlin künftig deutlich positiver wahrgenommen werden kann.

 

Ziel muss es sein, Bürgerinnen und Bürgern mehr Orientierung zu geben über bestehende Leistungssysteme, die Beratung damit immer Ergebnis in höherer Qualität für mehr Menschen zu gewährleisten, die Verständlichkeit des Verwaltungshandelns und damit von Anträgen und Bescheiden zu erhöhen. Die Sozialverwaltung sollte künftig mehr als Partner des Bürgers wahrgenommen werden, dazu bedarf es einer stärkeren Dienstleistungsorientierung. All dies lebt letztlich von den Personen „auf der anderen Seite des Tisches“, den Menschen, die in der Sozialverwaltung arbeiten.

 

Diese Leitplanken einer Vision beschreiben die Handlungsfelder. Darin zeichnen sich bereits mögliche Eckpunkte eines späteren Konzeptes ab:

 

1. Orientierung geben und Beratung verbessern: „Sozialberatung im Kiez“
In der grundsätzlichen Vision sollte für Menschen, welche nach Unterstützung suchen, möglichst niedrigschwellig Angebote bestehen, um sich kundig zu machen, welche Leistungen des Sozialstaats überhaupt für sie in Frage kommen könnten. Entsprechend bedarf es einer wohnortnahen Bereitstellung mit Anlaufstellen im eigenen Kiez („Sozialberatung im Kiez“). Bei Bedarf muss auch ein aufsuchender Dienst, der bei Wunsch auch in die Wohnung kommt, eine Möglichkeit sein.

 

In der Vision sollte der Gedanke von „One-Stop-Shops“ dabei leitend sein sollte, d.h. Anlaufstellen, wo es nicht nur die Möglichkeit der umfassenden Beratung zu (möglichst) allen Sozialleistungen gibt, sondern auch Hilfe bei Beantragung bis hin zur Antragsabgabe (und ggf. Im weiteren Antragsprozess, wie Erläuterung von Bescheiden). In der Fachwelt wird dieser Forderung oft entgegengehalten, dass dies nicht leistbar sei, da es unmöglich sei, Personal zu finden bzw. auszubilden, welches derart umfassend in allen entsprechenden gesetzlichen Regularien qualifiziert sein könne. Diese Bedenken sind zwar nachvollziehbar, allerdings bedarf es in der ersten Stufe nicht denselben Kenntnissen wie in einer Leistungssachbearbeitung im Hintergrund. Pate stehen sollten hier tendenziell eher unabhängige Sozialberatungen, wie sie bereits vereinzelt im Land Berlin angeboten werden.

 

Eine in jedem Fall umsetzbare Variante wären „First-Stop-Shops“, also Anlaufstellen, wie „One-Stop-Shops“ mit einer umfassenden Erstberatung für möglichst viele mögliche Sozialleistungen, in denen u.U. dann aber an andere Stellen weiter verwiesen werden muss. Die Vielzahl der künftigen Sozialberatungen im Stadtteil könnten auch verschiedene Profile entwickeln, wo diese besondere Beratungsschwerpunkte haben, also eine vertiefte Beratung (und damit Antragsaufnahme, Antragsannahme und Begleitung im Prozess) gewährleisten können.

 

Flankierend informieren über die Sozialberatungen und ggf. Schwerpunkte könnte hier ein Online-Portal (in Anlehnung an die Idee des Portals Familie des Landes Berlin).

 

Ein wichtiger Baustein sind hier die Versicherungsämter. Vor über 100 Jahren hat der Gesetzgeber die kommunale Ebene verpflichtet unterste Verwaltungsbehörden als Versicherungsämter einzurichten. Diese leisten schon heute einen wichtigen Beitrag bei der Beratung von Menschen, welche Leistungen der Sozialversicherungen (insbesondere Rentenversicherung) beantragen wollen, aber beraten im Rahmen ihrer Kapazitäten auch darüber hinaus. Sie arbeiten unabhängig und können gleichzeitig, da sie selbst Behörde sind, für die Beratenen Kontakt mit den entsprechenden Trägern aufnehmen um Sachverhalte aufzuklären. Hier schlummert ein großes Potential. Gegenwärtig sind die Versicherungsämter gemäß Zuständigkeitskatalog dem Land zugewiesen und völlig unterausgestattet. Eine Verlagerung auf die Bezirksebene und in die Rathäuser, in Verbindung mit angemessener Personalausstattung wäre ein erster wichtiger Schritt.

 

2. Sozialverwaltung verständlich machen
Es muss für Menschen möglich sein, Sozialverwaltung auch ohne Verwaltungsausbildung (und auch möglichst ohne „Übersetzung durch eine Sozialberatung“) zu verstehen. Gegenwärtig ist dies in den meisten Fällen nicht gegeben. Dadurch entwickelt sich Ohnmacht, Frust bis hin zu Misstrauen gegenüber den staatlichen Stellen der Leistungsgewährung. Hier lohnt sich ein Blick auf die Entwicklungen im Bereich der Politik für Menschen mit Beeinträchtigungen. Inzwischen besteht Konsens, dass es Ziel sein müsse, Systeme möglichst barrierefrei, zumindest barrierearm zu gestalten. Dazu gehört insbesondere die Sprache. Dies sollte eine gewinnbringende Richtschnur sein um die Sozialverwaltung für alle Menschen verständlicher zu machen. Einfache und leichte Sprache sind das Ziel. Aber selbst wenn zwei Versionen vorgehalten werden, sollte nicht eine in einfacher Sprache und die andere in Verwaltungsjurist*innen-Sprache sein. Die Mindestanforderung muss immer „verständliche Sprache“ sein. Es gibt Kommunen, die es vorgemacht haben, dass es sehr wohl möglich ist, Antragsformulare und Bescheidtexte verständlich zu gestalten, ohne das nachvollziehbare Ziel der Rechtssicherheit zu opfern. Es ist ein Kraftakt die Vielzahl an Formularen und Textbausteinen zu überarbeiten und Personal entsprechend zu schulen, der längerer Zeit bedarf. Umso wichtiger ist es jetzt damit zu beginnen und einen ambitionierten aber realistischen Plan der Umsetzung zu entwickeln.

 

3. Die Sozialverwaltung als Partnerin und Dienstleisterin
Sowohl die Sozialberatung im Kiez als auch alle anderen ausführenden Stellen der Sozialverwaltung müssen mittelfristig eine deutliche (stärkere) Dienstleistungsorientierung entwickeln und im Ergebnis als „Partnerin der Bürgerinnen und Bürger“ fungieren. Das (zwar nachvollziehbare aber doch schädliche) „Silodenken“ der Sozialverwaltung heute, wo sich jede Stelle auf ihren Bereich beschränkt, muss der Vergangenheit angehören. Dort wo Menschen ergänzend innerhalb oder außerhalb eines jeweiligen Leistungssystems zusätzliche Ansprüche haben könnten, sind sie dahingehend zu beraten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen sich dazu in die Schuhe der Leistungsberechtigten stellen und deren Lebenssituation umfassend betrachten und dahingehend beraten. Dies gilt insbesondere dort, wo ein Leistungsbezug endet und gerade dadurch neue / andere Leistungen relevant werden könnten (z.B. Ende des Bezugs von Arbeitslosengeld II durch Arbeitsaufnahme, anschließend mögliche Ansprüche auf Kinderzuschlag und/oder Wohngeld; damit einhergehend andere Träger für Beantragung von Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets). In einem ersten Schritt könnte hier regelmäßiger Verweis auf das oben angesprochene Portal helfen, möglichst in Verbindung mit entsprechend an Lebenslagen orientierten Einstiegsseiten („Geringe Einkommen“, „Familie und Kinder“, „Menschen mit Beeinträchtigungen“ usw.).

 

Bisher scheitern viele Anträge oft auch an der Vielzahl an Daten die erhoben und Nachweisen die erbracht werden müssen. Eine Sozialverwaltung mit Dienstleistungsorientierung schickt Antragsteller*innen nicht mehr durch die Stadt um Unterlagen einzusammeln und Bescheinigungen verschiedener anderer Stellen einzuholen. Es ist ein System zu erarbeiten, wo es Antragsteller*innen ermöglicht wird, die Behörden zu ermächtigen, einmalig für den jeweiligen Zweck die benötigten Daten (z.B. Arbeitseinkommen, Bescheinigungen der Krankenkasse usw.) intern unmittelbar von den jeweiligen anderen Stellen abzurufen bzw. einzuholen. Dies stellt eine nicht zu unterschätzende Unterstützung für die Bürgerinnen und Bürger dar.

 

Sozialverwaltung als Partner ist auch dann gelungen, wenn die Zahl der Widersprüche und Klagen deutlich zurückgegangen ist. Leistungsentscheidungen und -bescheide, die nicht den Wünschen der Antragsteller*innen entsprechen, müssen damit verständlich und nachvollziehbar sein. Zusätzlich bedarf es Stellen der Unterstützung bei der Aufklärung ob Widersprüche Aussicht auf Erfolg haben. In einem guten System, kann eine erste Verwaltungsentscheidung mit Hilfe von unabhängigen Mittler*innen wie beispielsweise Ombudspersonen (wie sie derzeit in mehreren Bezirken für den Bereich der Jobcenter existieren) noch vor Einreichung eines Widerspruchs korrigiert oder ggf. auch zufriedenstellend erklärt werden. Dort wo nötig, sollte eine Unterstützung und Beratung über die notwendigen Schritte für Widerspruch und ggf. Klage ebenfalls durch unabhängige Stellen möglich sein, bis hin zur Vermittlung in anwaltliche Beratung und zur Beantragung von Prozesskostenhilfe.

 

4. Personal
Für dieses neue Verständnis einer Sozialstaatsverwaltung und die Einrichtung von Sozialberatungsstellen in den Kiezen braucht es entsprechend motiviertes und vor allem gut ausgebildetes Personal. Teil der Strategie muss daher auch eine entsprechende Personalstrategie umfassen. Dies bezieht sich sowohl auf klassische Instrumente (Ausbildung, Rekrutierung, regelmäßige Fort- und Weiterbildung) als auch bisher in Berlin weniger intensiv genutzte Instrumente. Beispielsweise könnte die regelmäßige Abordnung auf Zeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Leistungsbehörden wie Jobcenter, Jugendamt, Wohngeldstelle in die Sozialberatungsstellen im Kiez ein solches Instrument sein. Dies würde gleichermaßen der Beratungskompetenz in den Einrichtungen, als auch der Personalentwicklung der abgeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im beschriebenen Sinne dienen. Bei den Überlegungen zu den quantitativen Personalbedarfen ist zu berücksichtigen, dass eine gute Beratung im Kiez eine Entlastung in den Sozialleistungsbehörden an anderer Stelle zur Folge haben wird (von Beginn an besser ausgefüllte Anträge, weniger Widersprüche usw.)

 

5. E-Government als Chance: Wertvolle Ergänzung aber nicht Ersatz des persönlichen Kontakts
Die E-Government Strategie des Landes Berlin mit Etablierung eines persönlichen Servicekontos kann die Beantragung von Sozialleistungen künftig noch mehr unterstützen und muss daher bei diesem Konzept mitgedacht werden. Allerdings wird es in der Regel kein Ersatz für die weiterhin notwendigen persönlichen Beratungen darstellen. Im Idealfall bietet die Digitalisierung von Antragsprozessen jedoch eine große Chance in Verbindung mit den Sozialberatungsstellen im Kiez, wenn die Beraterinnen und Berater vor Ort dabei unterstützen die jeweiligen Leistungen gemeinsam mit den Antragstellenden am PC die Anträge ausfüllen. Damit wäre ein großes Problem beim Wunsch einer rechtskreisübergreifende Antragsannahme gelöst.

 

6. Zuständigkeiten intern klären – wer macht was?
Ein umfassendes Konzept kommt nicht umhin klar Rollen und Aufgaben zu definieren. Dazu gehört auch, welche der hier beschriebenen Aufgaben dergestalt hoheitlich sind, so dass diese ausschließlich durch öffentlich Bedienstete erfüllt werden können und welche Aufgaben auch durch oder in Zusammenarbeit mit Träger*innen wahrgenommen werden können oder sollen. Schließlich ist in der Besonderheit der Berliner Verwaltung auch immer die Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit von Bezirken und der Landesebene im Blick zu behalten, hinreichend zu klären, auch mit Blick auf Finanzierung und einheitliche Aufgabenerfüllung.

 

7. Bestehende Strukturen nicht ersetzen sondern ergänzen und auf den Erfahrungen aufbauen
Berlin bietet gute Voraussetzungen um den Sozialstaat für den Bürger*innen künftig ganz anders erlebbar zu machen und hier eine Vorbildfunktion einzunehmen. Dabei geht es nicht darum, bestehende Angebote wie Stadtteilzentren, Familienzentren, Rathäuser, oder Senior*innenbegegnungsstätten zu ersetzen. Im Gegenteil, auf den bestehenden Strukturen und den Erfahrungen soll aufgebaut und diese entsprechend ausgebaut werden. Eine einheitliche (Zusatz-)Benennung ist gleichzeitig hilfreich für die Orientierung. Auch Erfahrungen aus Strukturen, welche durch Bundesgesetze gerade neu entstehen oder kürzlich entstanden sind, wie die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung, sind zu berücksichtigen. Dasselbe gilt selbstverständlich für die von den Bezirken begonnene Einrichtung von Familienservicebüros, welche ebenfalls viele der vorgenannten Ansätze (insb. auch die Kooperation zwischen Behörden und Trägern) bereits beinhalten.

Antrag 26/I/2019 Thesen zur Ausrichtung der SPD

24.02.2019

Vorbemerkung

Mit dem historisch schlechten Bundestagswahlergebnis der SPD vom 24.09.2017 wurde überdeutlich, dass es einer grundlegenden Neuausrichtung der Partei auf allen Ebenen bedarf.

 

Wir sind überzeugt davon, dass die massiv erstarkende Neue Rechte mit ihrem parteipolitischen Arm, der AfD, eine ernsthafte Bedrohung für unsere liberale Demokratie und unsere Republik darstellt. Deshalb haben wir, der Arbeitskreis Rechtsextremismus uns über Monate mit der Frage befasst, welchen Beitrag die SPD leisten kann, um diese Gefahr zu bannen.

 

1. Wir sind keine Staatspartei

Die SPD ist keine Staatspartei. Nur eine eigenständige SPD kann glaubwürdige Reformangebote machen. Um glaubwürdig und kritikfähig zu sein, müssen wir Unabhängigkeit zurückerlangen. Das bedeutet, dass wir auch im korporatistischen Staat eine gesunde Distanz insbesondere zu Industrie und zum Staat an sich halten müssen. Derzeit ist die SPD eine krampfhafte Stütze der Regierung. Ihr haftet der Ruch der Abhängigkeit von öffentlichen Mandaten und Ämtern an. Regierungsbeteiligung scheint angesichts einer Politik der kleinsten Schritte zum Selbstzweck verkommen. Eine solche Politik kann aber nicht die Antwort auf fundamentale soziale, ökonomische und ökologische Herausforderungen sein. Angesichts dieser Herausforderungen sind kleinste Schritte schlicht zu klein.

 

2. „Gutes Regieren“ als Konzept reicht allein nicht aus

„Gutes Regieren“ als Konzept reicht allein nicht aus. Es wird aber seit Jahren dazu genutzt, das Fehlen einer sozialdemokratischen Strategie – die Grundlage sowohl für erfolgreiche Oppositions- als auch Regierungspolitik sein könnte – notdürftig zu verstecken. Die SPD folgt heute weitestgehend einer Verwaltungslogik. Damit schadet sie nicht nur sich selbst, sondern letztlich unserer Gesellschaft und unserer Demokratie.

 

3. Eine Strategie muss erarbeitet werden und setzt politische Ziele voraus

Die Politik der kleinen Schritte führt zu einem großen Missverständnis. Selbst unsere Erfolge werden in der Bevölkerung, aufgrund einer fehlenden Erzählung, nicht als solche wahrgenommen. Folglich verlieren wir die Leute an der Wahlurne. Die Sozialdemokratie muss große Fragen stellen und gesellschaftliche Ziele formulieren. Diese Ziele und eine Strategie müssen erarbeitet werden. Im derzeitigen Erneuerungsprozess ist nicht erkennbar, dass gezielt an einer sozialdemokratischen Strategie gearbeitet würde. Eine Strategie ist kein Nebenprodukt von parteiöffentlich geführten Programmdebatten(-camps). Die Programmatik der SPD muss von einer Strategie abgeleitet werden, sie ersetzt sie nicht. Es ist die Aufgabe der Parteigremien einschließlich des Parteivorstandes, eine solche Strategie zu erarbeiten. Die Strategiebildung setzt voraus, dass sich die Partei über ihre politischen Ziele – eine „Vision“ jenseits von kleinteiligen „Regierungsprogrammen“ – einigt. Der Parteivorstand muss diesen Prozess leiten und moderieren.

 

4. Verantwortung für die gesamte Gesellschaft und Mut zur Klientelpolitik

Die SPD übernimmt Verantwortung für die gesamte Gesellschaft und ist von ihren Mitgliedern getragene Volkspartei. Verantwortung für die gesamte Gesellschaft zu übernehmen, bedeutet die Zielgruppenfrage – d.h. die Frage nach der eigenen Kernklientel („Für wen macht die SPD Politik?“) klar zu beantworten: Selbstverständlich machen wir Sozialdemokrat*innen Klientelpolitik. Und zwar in erster Linie für Arbeitnehmer*innen, Arbeitslos, Selbstständige, die Nicht-Privilegierten in unserer Gesellschaft und weltweit.

 

5. Schluss mit moralisierender Arroganz: gesellschaftliche Realitäten anerkennen

Auch wir selbst müssen wieder dialogfähiger werden. Voraussetzung dafür ist auch, gesellschaftliche Realitäten anzuerkennen. Wir müssen uns klar machen, dass unsere eigene Sicht der Dinge nur eine mögliche Perspektive auf unsere gemeinsamen gesellschaftlichen Realitäten ist. Es gibt viele Menschen in unserer Gesellschaft, die die Folgen der Globalisierung und des entfesselten Kapitalismus als existenzielle Bedrohung erleben und nicht auf der „Gewinner-Seite“ im neoliberalen Wettbewerb stehen. Wir müssen sie ernstnehmen und dürfen sie nicht abqualifizieren. Um unsere liberale Gesellschaft erhalten zu können, müssen wir unter dem Banner von „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ ein breites gesellschaftliches Bündnis schmieden, das den Kampf für die Rechte aller, gegen Diskriminierung und für soziale, wirtschaftliche und politische Gleichheit vereint. Dazu muss die SPD eine glaubwürdige und inklusive Erzählung entwickeln, die entlang bestehender Verteilungskämpfe anstelle von bloßer Moral argumentiert. Gleichzeitig gilt: Als Antifaschist*innen stellen wir uns Nazis öffentlich und mit aller Macht entgegen.

 

6. Sozialdemokratie erschöpft sich nicht im Zeigen von „Haltung“

Unsere Haltung gegenüber denjenigen, die Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft die Grundlage entziehen wollen, ist klar: Sie sind unsere Gegner. Wir dürfen uns aber nicht darauf beschränken, unsere „Haltung“ gegenüber Rechten – die eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist – vor uns herzutragen und uns gegenseitig dafür zu beglückwünschen. Es ist unsere Pflicht, uns nicht lediglich in einen geschützten und bequemen Raum abzugrenzen, sondern die Grundlagen von Enttäuschung, Wut, Hass und Fremdenfeindlichkeit offen und ehrlich zu thematisieren und sozialdemokratische Lösungen zu formulieren.

 

7. Die liberale Gesellschaft schützen: sozio-ökonomische Fragen stärker in den Mittelpunkt stellen

Häufig wird ein Gegensatz zwischen liberaler Gesellschaftspolitik und einer materialistisch orientierten Verteilungspolitik eröffnet. Das ist unnötig und kontraproduktiv. Denn liberale Gesellschaftspolitik und das Stellen „harter“ ökonomischer und sozialer Verteilungsfragen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern gehören zusammen. Wir müssen uns aber klar machen, dass das Vernachlässigen solcher Verteilungsfragen liberaler Gesellschaftspolitik – die ein wesentlicher Teil sozialdemokratischer Politik ist – die Akzeptanzgrundlage zunehmend entzieht. Die Flüchtlings- und Integrationspolitik zeigt deutlich, dass liberale Gesellschaftspolitik, ökonomische und soziale Verteilungsfragen aufs engste miteinander verknüpft sind. Wir dürfen weder so tun, als ob dies nicht der Fall wäre, noch dürfen wir uns dazu verleiten lassen, gesellschaftspolitisch „nach rechts“ zu rücken. Das würde unserer Gesellschaft schaden und wäre ein Erfolg der neuen Rechten. Aber wir müssen sozial- und wirtschaftspolitisch deutlich erkennbar „nach links“ rücken, gerade um unsere liberale Gesellschaft zu schützen.

 

8. Sozialdemokratischer Auftrag: Sicherheit im Wandel schaffen

Zunehmende Globalisierung und Ökonomisierung sowie die Digitalisierung als mit der industriellen Revolution vergleichbarer Strukturwandel setzen uns als Gesellschaftsmitglieder unter Druck. Nicht alle haben gleich gute Möglichkeiten zur Anpassung an den politisch rasant vorangetriebenen Wandel, der uns als Gesellschaft großen Nutzen bringen kann – der aber individuell auf vielen Ebenen auch als Bedrohung wahrgenommen wird und zu Verunsicherung führt. Aufgabe der sozialdemokratischen Partei als Fortschrittspartei ist es, diesen Wandel zum Wohle aller zu gestalten und den Menschen die Sicherheit zu geben, die sie brauchen um positiv in die Zukunft blicken zu können. Dazu gehört auch, anzuerkennen, dass der Nationalstaat als Sozialstaat für die allermeisten Menschen ein Schutzraum ist, auf den sie existentiell angewiesen sind. So zu tun, als ob es heute kaum noch nationalstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten gäbe oder den Nationalstaat als politisches Konstrukt – und damit diejenigen, die auf ihn angewiesen sind – als „von vorgestern“ zu verhöhnen, verstärkt die bestehende Verunsicherung und das Misstrauen gegenüber europäischer Integration und Globalisierung. Das spielt letztlich denjenigen in die Hände, die von einer ethnisch und kulturell homogenen Volksgemeinschaft, Blut und Boden träumen. Nationalstaatlich Grenzen müssen im Gegenteil immer weiter an Bedeutung verlieren und entsprechend mehr politische Gestaltungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene liegen.

 

9. Die Gesellschaft spalten, das tun auch wir

Ein hartes Eingeständnis: Die Gesellschaft spalten, das tun auch wir – nicht allein die neue Rechte. Zumindest müssen wir anerkennen, dass die SPD ab Ende der 1990er Jahre mit der Agenda-Politik ganz wesentlich dazu beigetragen hat, das Fundament für die heute bestehende gesellschaftliche Spaltung – sozial, wirtschaftlich und politisch – zu legen. Und nachdem auch SPD-Politiker*innen über Jahre erklärt haben, dass „der Gürtel enger geschnallt“ werden müsse, standen in der Wahrnehmung vieler Menschen 2008 über Nacht Milliarden zur Rettung der Spareinlagen und Banken zur Verfügung. 2015 wurden erneut Milliardenbeträge für die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen mobilisiert – das war richtig, ist aber bei vielen Menschen auf tiefes Unverständnis gestoßen. Das allgegenwärtige Sparmantra konnte demzufolge plötzlich doch außer Kraft gesetzt werden –„für die da oben“ und „für die anderen“. In diese europaweit auch von sozialdemokratischen Parteien aufgerissene Lücke stößt heute die neue Rechte. Wir werden die neue Rechte nur dann besiegen und unsere liberale Gesellschaft und unsere Demokratie schützen können, wenn wir die Lücke wieder schließen. Das ist in Koalitionen mit den Konservativen nicht möglich. Es hilft uns dabei auch nicht, uns an den permanenten Provokationen und kalkulierten Grenzübertretungen von rechts abzuarbeiten. Stattdessen müssen wir klären und erklären, mit welchem Ziel und für wen wir Politik machen. Hier schließt sich der Kreis. Wir werden den Kampf gegen rechts nicht gewinnen können, ohne eine eigene Strategie zu entwickeln.

Im 30. Jahr des Mauerfalls ist die Teilung Deutschlands zudem immer noch spürbar. Die zentrale Fehannahme der Kohl-Zeit, dass nur der Osten sich ändern müsse, anstatt Respekt aus den Erfahrungen der Ost- und Westdeutschen ein gemeinsames Land zu formen, haben wir auch nicht behoben. Deshalb betrachten wir die Vollendung der deutschen Einheit als bleibenden Auftrag der deutschen Sozialdemokratie.

Antrag 106/I/2018 Mut zur eigenständigen Politik der Hauptstadtpartei SPD

30.04.2018

Die Berliner SPD und der Berliner Senat unter sozialdemokratischer Führung sind nicht Bestandteil der Großen Koalitionsregierung unter der Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel – oder unter falsch verstandener Loyalität an politische Entscheidungen der SPD unter den Zwängen der Großen Koalition gebunden.

 

Von dem SPD-geführten rot-rot-grünen Berliner Senat muss ein Signal ausgehen: für einen Wechsel der politischen Ausrichtung der Partei hin auf die konsequente Interessensvertretung der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung und Jugend und der Demokratie.

 

Notwendig sind überzeugende Maßnahmen für die Wiederherstellung und die Verteidigung der öffentlichen Daseinsvorsorge.

 

Das drückt sich aus

  • in der Schaffung von ausreichenden Stellen für mehr Personal, z.B. in den Krankenhäusern, in den Schulen, Kitas, im ÖPNV, in den Verwaltungen und Dienststellen:
  • in den dringend erforderlichen Investitionen in die öffentliche und soziale Infrastruktur und im Abbau des nicht mit Ziffern zu erfassenden Investitionsstaus. Keine Finanzierung über ÖPP-Projekte;
  • in der Abschaffung von prekärer Arbeit und der Rückführung der Beschäftigten in ausgegliederten Einrichtungen und Betrieben unter Landesverantwortung in die Tarifvertragssysteme des öffentlichen Dienstes, auf der Basis von gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Letztlich in der Aufhebung und Unterbindung von weiterem Outsourcing in öffentlichen Einrichtungen und Betrieben mit lediglich dem Ziel, sich aus Tarifbindungen zu lösen. (s. Berliner Koalitionsvertrag)

 

Eine solche Erneuerung sozialdemokratischer Politik im Land Berlin darf nicht an der Schuldenbremse und schwarzen Null scheitern.

 

Mit der Entscheidung für den Gang in die Große Koalition ist auf keinen Fall die Diskussion über die dringend notwendige Erneuerung der Partei abgeschlossen – im Gegenteil, ob es der SPD gelingt, sich ernsthaft und entschlossen der Aufgabe der demokratischen und inhaltlichen Erneuerung zu stellen, wird über ihre Zukunft und letztlich auch ihre Existenz entscheiden.

 

Die SPD wird heute in den Augen vieler ehemaliger SPD-Wähler*innen, vor allem bei den Arbeitnehmerwähler*innen, nicht als ihre politische Interessensvertretung gesehen.

Das durch die Agenda-Politik verlorene Vertrauen wird nicht mit einigen Trostpflastern oder kleinen Reparaturen zurückgewonnen werden können.

Hier liegt eine besondere Verantwortung der Berliner SPD.

 

Zur Weiterleitung an SPD-Landesvorstand Berlin