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Antrag 217/II/2022 Coronafolgen bekämpfen – Perspektiven für junge Menschen schaffen

10.10.2022

Die Corona-Pandemie hat schonungslos aufgezeigt, wo die größten Schwachstellen in unserer Gesellschaft liegen. Besonders stark ausgeprägt schränkten die Auswirkungen das öffentliche Leben und zentrale Bereiche der Daseinsvorsorge ein. In der Folge mussten sich vor allem junge Menschen erheblich zurücknehmen: Schulschließungen, fehlende Ausweichmöglichkeiten wie Sport- oder Kulturangebote, Verlust von Ausbildungsplätzen, Isolation und Kontaktverbote. Das führte dazu, dass viele junge Menschen monatelang in beengten Verhältnissen leben mussten, ohne klare Orientierung, wie es in Zukunft weitergeht, sowie oftmals ohne psychologische Beratungs- und Unterstützungssysteme. Hinzu kam in manchen Fällen sogar häusliche Gewalt. Als Folge dieser krassen Belastungssituation stieg die Zahl derjenigen, die unter psychischen Erkrankungen wie Angst- und Essstörungen und Depressionen litten, erheblich an. Knapp ein Drittel aller 7- bis 17-Jährigen in Deutschland zeigten im Jahr 2020 psychische Auffälligkeiten. In nahezu allen Bereichen lässt sich eine Verschlechterung des Wohlbefindens von jungen Menschen im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie wissenschaftlich nachweisen. All diese Befunde sind nicht neu. Es ist aber laut Expert*innen davon auszugehen, dass wir erneut auf eine Corona-Welle im Herbst 2022 zusteuern. Weitere Einschränkungen können Stand heute nicht ausgeschlossen werden.

 

Dennoch wurde viel zu wenig für Kinder und Jugendliche getan, um für eine Entlastung bzw. Unterstützung zu sorgen. Vor allem Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien sind von den Folgen der Einschränkungen betroffen gewesen und haben immer noch mit ihren Auswirkungen zu kämpfen. Der Abbau der Lernrückstände und Stärkung der psychosozialen Arbeit sind Schritte in die richtige Richtung – diese reichen aber bei weitem nicht aus. Es sind weitere gezielte Vorschläge notwendig, um die Situation der Kinder und Jugendlichen in Berlin angesichts der weiterhin bestehenden Corona-Pandemie zu verbessern. Ebenso werden konkrete Maßnahmen gebraucht, um die Widerstandsfähigkeit der sozialen Infrastruktur zu stärken. Ziel ist es, dass junge Menschen merklich unterstützt werden und eine Perspektive für ihre persönliche Zukunft auch unter dem Einfluss einer möglichen weiteren Corona-Welle gewährleistet ist.

 

Mentale Gesundheit

Schon vor Ausbruch der Pandemie gab es eine Unterversorgung in der mentalen Gesundheitsversorgung für junge Menschen, die sich während der Pandemie durch die stark steigende Anzahl an Betroffenen deutlich verschärft haben. Laut einer Evaluation der Krankenkassen leiden in keinem anderen Bundesland so viele Kinder und Jugendliche unter psychischen Erkrankungen wie in Berlin.

 

Die Folge: Der Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung ist aktuell so hoch wie nie. Doch vor allem in Ballungsgebieten wie Berlin sind freie Therapieplätze rar und die Wartezeiten mehrere Monate lang. Während der Pandemie mussten sogar Kliniken ihre Türen schließen, weil es zu viele Patient*innen gab. Zeitweise konnten nur noch Menschen „mit akuter Suizid-Gefahr“ behandelt werden und viele andere saßen ohne Hilfe zu Hause. Dies ist für die Hilfesuchenden in höchstem Ausmaß frustrierend, belastend und krankheitsverschärfend. Es ist eine Illusion, davon auszugehen, dass sich diese Problematik mit den Lockerungsschritten von selbst erledigt. Wenn psychische Erkrankungen nicht rechtzeitig behandelt werden, ist mit massiven chronischen Langzeitfolgen zu rechnen. Die Gesundheit von jungen Menschen bestimmt die Gesellschaft von morgen, deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt in sie investieren.

 

Deshalb fordern wir mehr kostenfreie sowie niederschwellige Angebote für junge Menschen in Berlin zur Verbesserung ihrer mentalen Gesundheitsversorgung. Jeder junge Mensch, der Therapie benötigt, muss das Recht auf schnellen, unkomplizierten und kostenlosen Zugang zur klinisch-psychologischen und psychotherapeutischen Beratung und Behandlung haben. Dafür müssen die ambulanten und stationären psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlungskapazitäten für Kinder und Jugendliche erhöht werden. Für Notfälle müssen die kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanzen in den Krankenhäusern ausgebaut werden. Darüber hinaus müssen niedrigschwellige digitale und analoge Erstanlaufstellen für hilfesuchende Jugendliche und junge Erwachsene geschaffen werden, die Hilfs- und Therapieangebote vermitteln und die auch die jungen Menschen in der Übergangszeit bis ein Therapieplatz gefunden ist, unterstützen. Wir fordern außerdem den nachhaltigen Ausbau der schulpsychologischen und psychosozialen Betreuung an Schulen, Berufsschulen und Hochschulen. Auch müssen Impulse zur weitergehenden Vernetzung der Hilfesysteme, der Kinder- und Jugendhilfe, der Schulen, Berufsschulen, Hochschulen und der Kinder- und Jugendpsychiatrie geschaffen werden.

 

(Aus-)Bildung

Die Corona-Pandemie hatte zudem massive Auswirkungen auf das (Aus-)Bildungssystem. Kitas, Schulen und Hochschulen wurden zeitweise geschlossen, Prüfungsinhalte wurden angepasst oder gekürzt, der Unterricht und die Lehre fand monatelang digital über Videokonferenzen statt. Dadurch veränderte sich der Alltag schlagartig. Statt zur Kita oder in die Schule zu gehen, blieben junge Menschen zu Hause in ihren Zimmern. Während dieser Homeschooling-Zeiten verschärften sich bereits bestehende Ungleichheiten. Denn: Nicht alle Kinder und Jugendlichen hatten einen eigenen Schreibtisch, geschweige denn einen ruhigen und sicheren Ort zum Lernen oder die notwendige Ausstattung an digitalen Endgeräten mit entsprechender Software. Vielfach fehlte eine ausreichende Internetverbindung, um am Unterricht teilnehmen zu können. Die Ausstattung der Lehrkräfte mit digitalen Endgeräten begrüßen wir sehr. Allerdings zeigen viele Beispiele, dass das Land Berlin auch allen Schüler*innen ein Angebot zur Ausstattung mit digitalen, datenschutzkonformen Endgeräten machen muss. Hier braucht es ein barrierearmes und sozialverträgliches Verfahren, damit all jene Schüler*innen, die ein Gerät wollen, auch eins erhalten. Doch damit ist es nicht getan. Damit diese Geräte auch vollumfassend eingesetzt werden können, braucht es eine stabile und sichere Verbindung zum Internet. Deshalb fordern wir ein Recht auf Internet. In einer digitalen Schulwelt lässt sich das Recht auf Bildung nur mit eben diesem Recht auf Internet vollumfänglich wahrnehmen. Alle Schüler*innen müssen die technischen Möglichkeiten haben online arbeiten zu können – vor allem von zu Hause. Dies kann beispielsweise über mobile Router erfolgen. Familien mit Leistungsanspruch und Alleinerziehende sind bei der Ausgabe zu bevorzugen.

 

Die Zeit des Homeschooling hat auch gezeigt, dass der persönliche Austausch mit anderen extrem wichtig ist. Kitas, Schulen und Hochschulen sind Lebensorte. Diese durchgängig zu schließen hatte große psychische Folgen für junge Menschen. Einer weiteren flächendeckenden Schließung dieser Institutionen im Herbst/Winter muss entgegengewirkt werden. Zur Wahrheit gehört auch, dass es einige Menschen gibt, die immer noch vom Regelunterricht aufgrund (Vor-)Erkrankungen ausgeschlossen sind. Für diese Personen braucht es weiterhin passgenau Unterstützungsangebote wie das Homeschooling und digitale Prüfungsangebote. Dies gilt für Schulen, aber auch für Hoch- und Berufsschulen. Bezüglich der Hochschulen muss die Freiversuchsregelung im Berliner Hochschulgesetz für die Dauer der Pandemie und ihrer einschränkenden Nachwirkungen verlängert werden. Sie besagt, dass Prüfungen, die nicht bestanden wurden, lediglich als nicht angetreten gelten und Bearbeitungsfristen für Haus- und Abschlussarbeiten angemessen zu verlängern sind. Durch den Wegfall an bezahlten Nebentätigkeiten, der Schließung ruhiger Lernplätze in Bibliotheken und die soziale Isolation haben sich die Studienbedingungen für viele Studierende massiv verschlechtert, sodass es weiterhin dieser Entlastung bedarf. Änderungen im Berliner Hochschulgesetz wie die Freiversuchsregelung sind dabei frühzeitig zu kommunizieren, sodass für die Studierenden und Prüfenden Planungssicherheit besteht.

 

Viele Auszubildende mussten während der Pandemie aus dem Homeoffice arbeiten. Dabei wird ihnen oft keine technische Ausstattung zur Verfügung gestellt. Insgesamt kann dies für Auszubildende, die zu Beginn ihrer Ausbildung im Homeoffice sind oder waren, große Nachteile haben. Der Kontakt zu Ausbilder*innen, Kolleg*innen sowie zu anderen Auszubildenden wird durch das digitale Arbeiten erheblich erschwert. Ebenso besteht die Gefahr, dass Arbeitgeber*innen ihren Pflichten hinsichtlich des Arbeitsschutzes bei Auszubildenden im Homeoffice nur unzureichend nachkommen. Wir fordern daher eine verpflichtende, ausführliche Aufklärung aller Auszubildenden, insbesondere derjenigen, die im Homeoffice arbeiten, über ihre Rechte hinsichtlich ihrer Ausbildung und des Arbeitsschutzes. Bei Prüfungen muss es ebenfalls Sonderregelungen analog zu denen an Hochschulen geben, da auch Auszubildende nach wie vor von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Ausbildungsplätze müssen auch in Zeiten von Corona und Inflation sichergestellt werden. Dafür muss u.a. eine Ausbildungsplatzumlage geschaffen werden.

 

Öffentliche Räume

Nicht nur das Bildungssystem war massiv eingeschränkt. Auch die kulturellen Angebote und öffentlichen Räume wurden stark verringert. Die Pandemie hat viele der Aufenthaltsräume für junge Menschen – z.B. Jugendzentren, Vereine, Bars/Clubs – nicht mehr verfügbar gemacht. Viele von ihnen nutzen öffentliche Parks, um sich zu treffen und zu feiern. Lärmbelästigung oder vereinzelte Schlägereien wurden zum Anlass genommen, die Absperrung von und ein Alkoholverbot in Parks zu fordern. Wir lehnen Alkoholverbote und Parkumzäunungen bzw. -sperrungen entschieden ab! Auch das Auftreten des Ordnungsamts und der Polizei ist nicht hinzunehmen. Stattdessen braucht es die verstärkte Zusammenarbeit von Ordnungsämtern und Sozialarbeiter*innen. Das Ordnungsamt darf in Parks nicht vorrangig als bloße Autorität auftreten, sondern sollte vielmehr als Ansprechpartner*innen fungieren. Dazu sind spezielle Schulungen anzubieten.

 

Es ist wichtig, dass Jugendliche sowohl tagsüber als auch in den Abendstunden niedrigschwellige Angebote und kostenfreie Orte haben, an welchen sie sich treffen können. Anstelle von Repressionen braucht es mehr Angebote und eine flächendeckende Stärkung der aufsuchenden Jugendarbeit.

 

Parks und öffentliche Plätze sind auch deswegen so wichtig, weil kostenpflichtige Angebote wie Bars und Clubs im Zuge der Inflation für viele junge Menschen kaum noch bezahlbar sind. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, fordern wir einerseits die Prüfung und Erarbeitung eines Finanzierungskonzepts, um die Eintrittspreise für Berliner Clubs, welche besonders für junge Menschen relevant sind, sozialverträglich zu gestalten. Das Finanzierungskonzept und der Kreis der betreffenden Clubs soll gemeinsam mit der Clubkommission erarbeitet werden. Andererseits setzen wir uns für eine generelle Einstufung von Veranstaltungsstätten als kulturelle Einrichtungen ein, damit ein ermäßigter Steuersatz von 7% geltend gemacht werden kann. Ebenfalls sollten junge Menschen die Möglichkeit haben, das kulturelle Angebot in Berlin wahrnehmen zu können. Daher fordern wir kostenlosen Eintritt in die Landeseigenen Museen und alle Dauerausstellungen für Menschen unter 25 Jahren. Darüber hinaus müssen auch alternative kostenlose Angebote für junge Menschen gestärkt werden. Dazu gehören u.a. der Ausbau von Jugendclubs und Sportangebote.

 

Darüber hinaus wollen wir die Vereine in Berlin stärken. In vielen Bezirken überleben diese nur durch das unerschöpfliche Engagement von Ehrenamtlichen. Neben einer finanziellen Unterstützung durch vom Land zur Verfügung gestellte Mittel, über die die Bezirke verfügen sollen, braucht es eine Unterstützung der ehrenamtlichen Kräfte. Hier fordern wir eine neue Strategie, um das Ehrenamt zu stärken. Neben einer Anerkennungskultur braucht es vor allem finanzielle Entlastung für die geleistete Arbeit – beispielsweise mit ÖPNV-Abos oder einer Mindestvergütung.

 

Wirtschaft

Die Auswirkungen der Pandemie werden besonders für Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schlechter gestellten Herkünften deutlich. Neben der Schule oder dem Studium nicht arbeiten zu müssen, ist immer ein Privileg. Besonders mit dem Wegfallen vieler Aushilfsjobs während der Pandemie aber sind für die einen existenzielle Sorgen entstanden, teils kann sich Bildung so nicht mehr geleistet werden, während andere weiterhin von ihren Familien finanziell unterstützt wurden können und so vergleichsweise weniger beschränkt werden. Deshalb fordern wir die Einrichtung eines durch Einnahmen der progressiven Erbschaftssteuer finanzierten Chancengleichheitsfonds, der zum einen in Höhe von je 20.000€ als Gesellschaftserbe an alle 18-Jährigen ausgezahlt wird und zum anderen zur Finanzierung von öffentlichen Gütern und Leistungen, die die allgemeine Chancengleichheit fördern, genutzt wird. Damit geht mehreres einher: Wir wollen das Vermögen einiger weniger auf die gesamte Gesellschaft umvererben, um jungen Erwachsenen auf der einen Seite einen finanziellen Boost zum Start ins Leben zu geben und andererseits Ungleichheit fördernde Strukturen zu bekämpfen.

 

Neben dem Chancengleichheitsfonds fordern wir die Verlängerung der Kindergeldzahlungen. Während die Fortzahlung des BAföGs an die Corona-bedingten Einschränkungen angepasst wurde, bleibt die Zahlungsdauer des Kindergeldes ungeändert und riskiert somit starke Geldeinbußen am Ende der Ausbildung.

 

Auch für junge Menschen im Berufsleben hat die Pandemie gravierende Auswirkungen. Viele mussten aus dem Homeoffice arbeiten, andere unter Gefährdung ihrer eigenen Gesundheit weiterhin in ihrer Arbeitsstelle arbeiten. Durch die Digitalisierung ergeben sich neue Möglichkeiten des Homeoffice, also des Arbeitens von zu Hause, die durch die Pandemie weiter vorangetrieben wurde. Anstelle von Präsenzmeetings traten Videomeetings, der Austausch mit Kolleg*innen fiel oftmals weg. Dennoch kann Homeoffice auch in Zeiten außerhalb der Pandemie Vorteile für Arbeitnehmer*innen bieten, wie flexible Arbeitszeiten oder der Wegfall von langen Arbeitswegen. Dies kann allerdings auch dazu führen, dass Menschen länger arbeiten und keinen richtigen Feierabend haben, da von einer ständigen Erreichbarkeit ausgegangen wird. Hinzu kommen außerdem Möglichkeiten der digitalen Überwachung der Arbeitnehmer*innen, durch Produktivitätschecks wie bspw. die Bewegungen der Computermaus. Diese digitale Überwachung lehnen wir kategorisch ab. Softwaren, die zur digitalen Überwachung von Arbeitnehmer*innen dienen, müssen verboten werden. Darüber hinaus müssen Arbeitnehmer*innen über ihre Rechte im Homeoffice aufgeklärt werden, dies umfasst explizit auch Datenschutz sowie den Schutz vor Überwachung durch den Arbeitgeber. Durch die Digitalisierung und Homeoffice vermischen sich Arbeits- und Privatleben zunehmend. Damit Arbeitnehmer*innen auch im Homeoffice Erholungszeiten haben, in denen die Arbeitgeber*innen sie nicht kontaktieren, fordern wir Sperrzeiten, in denen die Arbeitgeber*innen die Arbeitnehmer*innen im Regelfall nicht kontaktieren dürfen. Diese sind bei flexiblen Arbeitszeiten auch flexibel zu ermöglichen. Darüber hinaus fordern wir neben dem Recht auf Homeoffice auch ein Recht auf einen gestellten Arbeitsplatz, sofern dagegen keine Gründe des Gesundheitsschutzes sprechen. Insbesondere junge Menschen haben in Berlin aufgrund der enormen Mietpreise nur wenig Wohnraum zur Verfügung. Sofern sie im Homeoffice arbeiten, erschwert diese Platzteilung die Trennung von Arbeits- und Privatleben weiter und kann negative Auswirkungen auf die mentale Gesundheit haben. Wir lehnen darüber hinaus ab, dass Unternehmen Geld für Büroflächen sowie Heizkosten sparen können und dies im Gegenzug von den Arbeitnehmer*innen gestemmt werden muss, da sie im Homeoffice arbeiten. Wenn Leute sich dafür entscheidenden, auch oder ausschließlich aus dem Homeoffice zu arbeiten, ist die technische Ausstattung sowie die arbeitsschutzgemäße Ausstattung des Arbeitsplatzes (z.B. ein passender Schreibtischstuhl) von den Arbeitgeber*innen zu stellen bzw. zu zahlen. Damit Homeoffice flächendeckend möglich wird, fordern wir weiterhin den Ausbau von schnellem und stabilem Internet in der ganzen Stadt. Dabei halten wir an unserer Forderung nach der Verstaatlichung der Breitbandinfrastruktur in Gebieten, in denen es nur einen Anbieter gibt, sowie der letzten Meile, fest. Die letzte Meile beschreibt dabei das Stück der Verbindung, dass direkt zu den Verbraucher*innen führt.

 

Um junge Menschen zu entlasten und ihnen zugleich eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, fordern wir:

 

  • mehr kostenfreie sowie niederschwellige Angebote für junge Menschen in Berlin zur Verbesserung ihrer mentalen Gesundheitsversorgung
  • ein Recht auf Internet für alle Menschen in Berlin
  • den flächendeckenden Ausbau von schnellem und stabilem Internet
  • die Einführung eines Gesellschaftserbes
  • den Schutz von Arbeitnehmer*innenrechten im Homeoffice
  • (Einführung von Kontaktsperren für Arbeitgeber*innen)
  • Prüfung und Erarbeitung eines Finanzierungskonzepts zusammen mit der Clubkommission, um die Eintrittspreise für Berliner Clubs sozialverträglich zu gestalten
  • keine Parksperrungen und Alkoholverbote, sondern die Ausweitung von Freiräumen sowie Angebote für junge Menschen im gesamten Stadtgebiet (vor allem in den Abendstunden). Wir sehen hier die BVV- Fraktionen in der Pflicht, die Nutzung der Grünflächenanlagen multigenerational zu verstehen
  • die Stärkung der Angebote der Jugendarbeit sowie Vereine
  • eine Offensive für die Stärkung der ehrenamtlichen Arbeit in Berlin
  • Freiversuchsregelungen für Prüfungen
  • kostenfreien Eintritt für Museen und Dauerausstellungen für Menschen unter 25 Jahren

 

Antrag 84/II/2022 Zwischen „Solidaritätsmechanismus“ und systematischer Haft an den europäischen Außengrenzen

10.10.2022

Mit dem neuen Migrations- und Asylpaket („New Pact on Migration and Asylum“) der Europäischen Kommission vom September 2020 sollte eine Weichenstellung für die Reformbemühungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gelegt werden. In der offiziellen Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 23. September 2020 hieß es damals, man würde mit dem Paket verbesserte und schnelle Verfahren festlegen und ein Gleichgewicht zwischen den Grundsätzen der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten und der Solidarität schaffen.

 

Heute, knapp zwei Jahre später, lässt sich kein „Meilenstein“ in der europäischen Asylpolitik verzeichnen, wir können weder von einem solchen Gleichgewicht sprechen, noch können wir der europäischen Asyl- und Migrationspolitik einen schlichten Fortschritt attestieren. Denn im Juni 2022 fand der Rat der Europäischen Union  eine Einigung zu einigen Legislativvorschlägen des Reformpakets: Die EU-Innenminister*innen einigten sich auf eine gemeinsame Position zur Screening-Verordnung und zur EURODAC-Verordnung, sowie auf die Etablierung eines freiwilligen Solidaritätsmechanismus und auf eine Reform des Schengener Grenzkodex. Die EURODAC- und SCREENING-Verordnung sind sogenannte Grenzmanagement-Instrumente. Dabei regelt die EURODAC-Verordnung den Fingerabdruckvergleich von Asylsuchenden, Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen. Ziel dieser Verordnung ist, durch einen Datenabgleich irreguläre Fluchtbewegungen in der EU besser überwachen und verhindern zu können. Mit dem Vorschlag zu einer Screening-Verordnung sollen Drittstaatsangehörige an den EU-Außengrenzen einem Screening unterzogen werden, mit dem ein Identifikationsverfahren sowie Gesundheits- und Sicherheitschecks durchgeführt werden. Im Anschluss soll dann geklärt werden, ob die Betroffenen dem gängigen Asylverfahren oder dem Asylgrenzverfahren auf Basis der Asylverfahrensverordnung zugeteilt werden. Der Schengener Grenzkodex wiederum umfasst Bestimmungen für Personenkontrollen an den Außengrenzen der EU-Staaten, der mit den Reformvorschlägen diese Außengrenzen besser stärken und schützen soll. Und letztlich wurde mit dem Solidaritätsmechanismus ein Instrument etabliert, mit dem Mitgliedstaaten entlastet werden sollen, die besonders von Migrationsbewegungen betroffen sind. Der Mechanismus sieht ein Umsiedlungsprogramm vor, mit dem Schutzsuchende innerhalb der EU umverteilt werden sollen oder aber auch die finanzielle Unterstützung der Mitgliedstaaten, die am stärksten von den Fluchtbewegungen betroffen sind und dessen Asylsystem damit am stärksten belastet wird Medial wird dabei zutreffend festgestellt, dass dieser “Schwung” und diese zügigen Entwicklungen maßgeblich auf dem Druck der französischen Ratspräsidentschaft beruhen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Reformvorschläge der Kommission voranzutreiben, um diese als eigenen Erfolg innerhalb ihrer Amtszeit zu proklamieren.

 

Dabei begrüßen wir zunächst die Etablierung eines Solidaritätsmechanismus, welcher nun eine erste neue Perspektive nach einer jahrelangen Blockade bezüglich der Bemühungen um einen proportionalen und gerechten Verteilungsschlüssel darstellt. Ein solcher Mechanismus ist vor allem vor dem Hintergrund des defizitären, bisher geltenden Dublin-Systems dringend erforderlich, der zu einer übermäßigen Belastung europäischer Grenzstaaten geführt hat und unsolidarische Effekte begünstigte, von denen vor allem die Staaten im inneren Kern der EU profitieren konnten und die südlichen Mitgliedstaaten belastet wurden. Denn nach dem Dublin-System muss sich der EU-Staat, über den ein*e Schutzsuchende*r in die EU eingereist ist, für diese Person verantworten und es ihm*ihr gewähren, einen Asylantrag zu stellen. Daher stehen Mitgliedsstaaten, die die Außengrenze der EU bilden, öfter in der Verantwortung. Entsprechend haben sie einen höheren Anreiz, das Betreten des eigenen Hoheitsgebiets durch Asylsuchende zu verhindern. Jetzt können Ersteinreisestaaten für die Dauer von einem Jahr durch verschiedene Solidaritätsbeiträge anderer Mitgliedstaaten entlastet werden.

 

Hingegen lassen die übrigen Reformvorschläge jegliche Vernunft vermissen: Denn anstatt aus den bisherigen Fehlern des europäischen Asylsystems zu lernen und Lehren aus den menschenunwürdigen Zuständen im Geflüchtetencamp Moria zu ziehen, lassen die Reformvorschläge der Kommission und die Entwicklungen im Rat erkennen, dass das bisherige Asyl- und Migrationssystem gescheitert ist. Die einstigen Grundwerte der europäischen Union, wie die Achtung der Menschenwürde, werden bereits von dem bisherigen Asylrechtssystem jeden Tag verletzt und werden es mit der anstehenden Reform auch in Zukunft.

 

Denn mit Blick auf die Screening-Verordnung sind Gesundheits- und Sicherheitschecks zwar wichtig, aber: Im Asylgrenzverfahren wird die Nicht-Einreise der Schutzsuchenden „fingiert“. Das bedeutet, obwohl sich der*die Schutzsuchende also möglicherweise bereits im Hoheitsgebiet der EU und eines Mitgliedstaats befindet, wird dies durch die Verordnung in rechtlicher Hinsicht verneint. Damit gelten zwar trotzdem europäisches und internationales Recht sowie das Recht des Mitgliedsstaats. Es ist jedoch zu befürchten, dass die Mitgliedstaaten die Weiterreise von Schutzsuchenden verhindern werden und damit in ihre Bewegungsfreiheit eingreifen.

 

Ziel hier ist zweifelsohne, die erneute Stellung eines Asylantrags in einem weiteren EU-Land innerhalb der EU zu vermeiden und Betroffene daran zu hindern, in die EU zu gelangen und andere Mitgliedstaaten aufzusuchen. Denn es steht bereits seit geraumer Zeit fest, dass Asylsuchende innerhalb der EU nicht gleich behandelt werden und die Erfolgsaussichten eines Asylantrags erheblich zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten schwanken.

 

Fest steht auch: Um diese Weiterreise in andere EU-Mitgliedstaaten zu verhindern, wird man nicht darum herumkommen, schutzsuchende Personen in Ihren Unterkünften festzuhalten. Damit würden ohnehin vulnerable und traumatisierte Personen Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen ausgesetzt, die mehrere Monate andauern können und systematische Haftzustände begründen würden, denn das Asylgrenzverfahren kann bis zu zwölf Wochen andauern und im Falle eines ablehnenden Bescheids würde sich ein Rückführungsgrenzverfahren anschließen, das seinerseits wiederum zwölf Wochen umfassen kann.

 

Besonders fatal ist dabei, dass gegen die Zuteilung zum Asyl- oder Asylgrenzverfahren kein Rechtsweg vorgesehen ist und die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen dazu verpflichtet werden, das Asylgrenzverfahren zu wählen. Zu diesen Fällen gehören beispielsweise Schutzsuchende aus einem Drittstaat, dessen Anerkennungsquote unter 20% liegt.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass die Möglichkeit, rechtlich gegen einen Ablehnungsbescheid vorzugehen, nur auf eine Instanz begrenzt ist, also nur von einer „Prüfstelle“ kontrolliert wird. Normalerweise sind dafür jedoch mehrere Ebenen vorgesehen, wie beispielsweise ein erster Widerspruch und dann die stufenweise Weitergabe an das nächsthöhere Gericht. Daneben ist es auch nicht vertretbar, dass die Entscheidung keine aufschiebende Wirkung haben soll. Im deutschen Recht ist es in den meisten Fällen so, dass mit einem Widerspruch die Wirkung und angeordnete Folge durch eine Behörde „aufgeschoben“, also pausiert wird. Davon kann in bestimmten Fällen und Konstellationen abgewichen werden. Im konkreten Fall würde ein negativer Bescheid die Rechtsfolge mit sich bringen, dass der*die Asylsuchende zum Beispiel dem Rückführungsverfahren zugeteilt wird, weil kein Asyl gewährt wird. Legt der*die Asylsuchende dagegen Widerspruch ein, so würde er*sie trotzdem dem Rückführungsverfahren zugeordnet werden können, weil der Widerspruch die Wirkung des Bescheids nicht pausiert. Allein dies stellt bereits einen massiven Bruch mit jeglichem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit dar. Auch die Bereitstellung von Informationen während des Screening-Verfahrens als entscheidender erster Ansatzpunkt zur Ermittlung aller relevanten Umstände wird durch den bisherigen Vorschlag nicht ausreichend gewährleistet: So sieht die Screening-Verordnung vor, dass Schutzsuchende “kurz” über den Zweck des Screenings informiert werden. Es werden zudem nur “gegebenenfalls” wesentliche Informationen zu Einreisebestimmungen und Verfahren bereitgestellt und Mitgliedstaaten “können” nationalen, internationalen oder nichtstaatlichen Organisationen und Stellen gestatten, den Schutzsuchenden im Verfahren Informationen zu erteilen, was einen unangemessen und völlig deplatzierten Ermessensspielraum einräumt, die der Tragweite eines solchen Verfahrens und dessen Bedeutung für die Erfolgsaussichten eines Asylgesuches in keinster Weise gerecht werden!

 

Die ohnehin durch die Asylverfahrensverordnung und durch die Screening-Verordnung erwachsenden Aushöhlungen für das Recht auf Asyl werden dabei durch die Vorschläge für eine Krisenverordnung verschärft: Denn in bestimmten Fällen sollen Mitgliedstaaten von den Regelungen des Reformpaketes abweichen können. Während zum Beispiel vorher ein Asylgrenzverfahren für Geflüchtete verpflichtend werden sollte, die eine Anerkennungsquote unter 20 % haben, können diese Grenzverfahren auch auf Schutzsuchende ausgeweitet werden die aus einem Land mit einer Anerkennungsquote von bis zu 75 % kommen. Voraussetzung dafür wäre, dass der Mitgliedstaat mit „höherer Gewalt“ oder eine hohe Zahl von Schutzsuchenden konfrontiert ist. Daneben soll es den Mitgliedstaaten auch möglich sein, Verfahrens-, Registrierungs- und Zuständigkeitsfristen massiv zu verlängern, was unweigerlich zu einer Verlängerung von massiven und vor allem unverhältnismäßigen Freiheitsentziehungen in Haftlagern an den EU-Außengrenzen führen wird. Die noch geltende Dublin-III-Verordnung, die das Prinzip der Ersteinreise für Asylsuchende festlegt, soll durch die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung abgelöst werden. Es wird jedoch weiterhin am Prinzip der Ersteinreise festgehalten und der effektive Rechtsschutz von Asylsuchenden wird weiter ausgehöhlt, indem gerichtliche Überprüfungen von Menschenrechtsverstößen sich lediglich auf einen Verstoß gegen das Folterverbot und das Verbot unmenschlicher Behandlungen beschränken.  Zudem soll die Dublin-Haft, also die Inhaftierung einer Person in einem Dublin-Verfahren, zur Rücküberstellung der*des Schutzsuchenden künftig unter einfacheren Voraussetzungen angewandt werden können.

 

Mit dem Vorschlag für eine Reform des Schengener Grenzkodex werden weiterhin Regelungen im Falle einer Instrumentalisierung von Migration etabliert, mit denen der Schengenraum widerstandsfähiger gemacht werden soll. So soll es im Falle von Situationen, in denen ein Drittstaat oder nichtstaatlicher Akteur zur Destabilisierung der EU Fluchtbewegungen von Schutzsuchenden an die EU-Außengrenzen oder in einen Mitgliedstaat erleichtert oder vorantreibt, möglich sein, Grenzkontrollen von bis zu sechs Monaten einzuführen. Dies stellt nicht nur eine weitere Aushöhlung des Rechts auf Asyl dar, sondern ein eklatanter Bruch mit dem völkerrechtlichen Non-Refoulment-Prinzip: Nach diesem Prinzip ist es verboten, Schutzsuchende auszuweisen oder abzuschieben, wenn ihnen im Zielland Folter, schwere Menschenrechtsverletzungen oder unmenschliche Behandlungen drohen könnten.

 

Insgesamt ist dabei festzuhalten, dass durch die geplante Asylverfahrensverordnung in Verbindung mit der vom Rat gebilligten Screening-Verordnung Schutzsuchende bereits dann in die Gefahr einer systematischen Haft gelangen, weil sie internationalen Schutz beantragen. Dabei werden Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen abstrakt geregelt, es wird weder eine Angemessenheits- oder Einzelfallprüfung vorgesehen, noch wurden alternative wirksame Möglichkeiten aufgenommen oder in Erwägung gezogen, um den Umgang mit Schutzsuchenden während eines Grenzverfahrens nach dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit zu regeln. Denn die nahtlose Verzahnung von Asyl- und Rückführungsverfahren kommt einzig und allein jenen Mitgliedstaaten zugute, die Migrationsbewegungen kriminalisieren und bereits in der Vergangenheit gezeigt haben, dass Menschen- und Grundrechte im Umgang mit Schutzsuchenden nicht von oberster Priorität sind. Freiheitsentziehungen sollten jedoch stets nur ultima ratio sein und auch nur, wenn dies erforderlich und angemessen ist, nicht jedoch das aktuelle Mittel zum Zweck, um ein gescheitertes Asylsystem zu retten! Bei alledem soll auch lediglich im Rahmen des Screening-Verfahrens ein Monitoring-Mechanismus durch die einzelnen Mitgliedstaaten etabliert werden, der Grundrechtsverstöße untersuchen soll und aufgrund seiner Begrenzung völlig ineffektiv bleiben würde. Die gute Nachricht ist, dass die Screening-Verordnung einen Monitoring-Mechanismus während des Screening-Verfahrens vorsieht, der durch die Mitgliedstaaten angewandt werden soll. Mit diesem Mechanismus sollen Grundrechtsverstöße untersucht werden. Dadurch, dass dieser Mechanismus allerdings nur für das Screening und eben nicht für das Asylgrenzverfahren oder Rückführungsverfahren vorgesehen ist, würde er völlig ineffektiv bleiben! Denn die Gefahr von Grundrechtsverstößen in Form von beispielsweise illegalen Push-Backs oder anderen menschenunwürdigen Behandlungen finden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht im Rahmen eines Screening-Verfahrens sondern eher in den geplanten Asylgrenz- und Rückführungsverfahren statt.

 

Klar wird dabei also insbesondere vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Krisen-Verordnung und der Reform des Schengener Grenzkodex: Mit den Vorschlägen wird der Fokus auf Abschreckung und Grenzsicherung gesetzt, statt sich mit einer menschenrechtskonformen Ausgestaltung des Asyl- und Migrationssystems zu befassen! Das Ersuchen von internationalem Schutz und Asyl wird kriminalisiert und die Gründe dafür sind klar: Bisher konnten keine Regelungen zur Reform des GEAS getroffen werden, mit denen die Probleme des herrschenden Dublin-Systems und die ungerechten Lastenteilungen behoben werden konnten. Die Europäische Kommission und die Mitgliedsstaaten nehmen am “race to the bottom” teil, bei dem ein Wettbewerb um die möglichst schlechtesten Bedingungen für Asylsuchende gefahren wird.

 

Wir sind empört über die geplanten Vorhaben zur Reform des GEAS und den damit einhergehenden, eklatanten Bruch sämtlicher rechtsstaatlicher und menschen- sowie grundrechtlicher Wertungen und stellen uns entschieden gegen die Reformvorschläge der Kommission! Es kann nicht sein, dass die Fehler und Versäumnisse in der bisherigen Asyl- und Migrationspolitik nun auf den Rücken unschuldiger, schutzsuchender Menschen ausgetragen und Rechtsgrundlagen etabliert werden, die nichts weiter tun, als eine Politik der Abschottung weiterzuführen und eine Festung Europa 2.0 zu schaffen. Die geplanten Verordnungen könnten außerdem in einem akuten Spannungsverhältnis mit der EU-Grundrechte-Charta stehen und sie gehen von einem einheitlichen Verständnis von Asyl und Rechtsstaatlichkeit in der EU aus, das schlichtweg nicht existiert.

 

So soll es nun weitergehen: Im März 2022 einigte sich der Rat Justiz und Inneres auf einen schrittweisen Ansatz, nach dem zunächst erst gewisse Fortschritte in einzelnen Bereichen des Reformpaketes erzielt werden sollen. Das Europäische Parlament wird sich mit den Vorschlägen erst im Herbst 2022 befassen und unter einigen Parlamentarier*innen wird ein Paketansatz nach dem Motto “Ganz oder gar nicht“ angestrebt, mit dem das gesamte Verfahren entschleunigt werden kann. Deshalb muss nun der politische Druck sowohl auf das Europäische Parlament, auf die deutsche Innenministerin als auch auf die nun folgende tschechische Ratspräsidentschaft erhöht werden, um die Reformvorhaben des GEAS zu stoppen. Denn aus einem Joint Roadmap der europäischen Mitgesetzgeber*innen geht hervor, dass die Umsetzung der GEAS-Reform oberste Priorität genießt und eine Einigung und der Abschluss vor Ende der Legislaturperiode 2019-2024 anvisiert wird. Das gilt es zu verhindern.

 

Wir fordern daher die sozialdemokratischen Regierungen in den Europäischen Mitgliedsstaaten, die sozialdemokratischen Fraktionen in den nationalen Parlamenten der Europäischen Mitgliedsstaaten sowie die sozialdemokratischen Abgeordneten im Europäischen Parlament auf:

 

  1. die Verabschiedung des Reformpakets entschieden zu verhindern
  2. vor diesem Hintergrund sich im Europäischen Parlament explizit gegen die Verabschiedung der Screening-Verordnung zu stellen, da diese durch die Fiktion der Nichteinreise und als Vorschaltung zu etwaigen Asylgrenz- und Rückführungsverfahren als Einfallstor für die weiteren Reformvorschläge fungiert
  3. sich im Rat gegen die Asylverfahrens-Verordnung, die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung und die Krisen-Verordnung in ihrer aktuellen Form zu stellen, zu denen noch keine Verhandlungsmandate im Rat der Europäischen Union existieren
  4. sich an die umfassenden Menschen- und Grundrechte der EU-Grundrechte-Charta zu erinnern und ihren Auftrag im Rahmen ihrer Rolle bei der Erarbeitung einer Reform des GEAS entsprechend dieser Rechte und Wertungen zu überdenken
  5. sich im Rahmen weiterer Verhandlungen zur Reform des GEAS insgesamt entschlossen gegen Außengrenzverfahren und Verfahrensregeln einzusetzen, die zu de facto Haftlagern an den europäischen Außengrenzen führen würden
  6. sich im Rahmen weiterer Verhandlung primär für eine solidarische und wirksame Entlastung der Ersteinreisestaaten einzusetzen, die das Recht auf Asyl wahren und menschenwürdige Behandlungen sowie das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz gewährleisten
  7. sich im Rahmen weiterer Verhandlungen analog dazu gegen eine Auslagerung der EU-Migrationspolitik einzusetzen, die unweigerlich zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen führen würde
  8. den etablierten freiwilligen Solidaritätsmechanismus zeitlich weiter auszubauen und hinsichtlich der beteiligten Mitgliedstaaten und Solidaritätsbeiträge auszuweiten sowie zu intensivieren, sodass Ersteinreisestaaten entlastet werden können und der politische Druck von Hardliner-Staaten in der europäischen Asylpolitik nicht mehr richtungsweisend wirkt
  9. sich an Stelle einer Kriminalisierung von Schutzsuchenden und unter Strafe stellen von Flucht für die Etablierung und den Ausbau sicherer und legaler Einreisemöglichkeiten von Schutzsuchenden einzusetzen
  10. sich für eine menschenrechtsorientierte Reform des GEAS einzusetzen, mittels welcher migrationsbezogene Haftzustände in jedem Bereich abgeschafft werden können, wirksame Alternativen bereitgestellt werden und das Asylsystem funktional statt auf Abschottung und Abschreckung auf Solidarität und Verantwortung hinsichtlich der Schutzsuchenden setzen kann
  11. sich für einen, auf jeden Bereich des GEAS anzuwendenden, umfangreichen europäischen Monitoring-Mechanismus für die Beobachtung und Ahndung von Grundrechtsverletzungen einzusetzen, statt diese Verantwortung den Mitgliedstaaten zu überlassen, die in der Vergangenheit klar gezeigt haben, dass ihr Bekenntnis zu der Achtung von Grundrechten nicht vollumfänglich und ohne Vorbehalt gilt und zwangsläufig nur zu uneinheitlichen Schutzstandards und verwaschenen Rechenschaftspflichten führen würde.
  12. sich im Fall, dass die Pläne nicht auf politischem Wege verhinderbar sind, dafür einzusetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof Nichtigkeitsklage gegen die im Rahmen des Reformpakets erlassenen Regeln erhebt.

 

Es bleibt unser Ziel, dass alle geflüchteten Menschen, die nach Europa fliehen, in einem Land ihrer Wahl aufgenommen werden, ohne bürokratische oder weitere Drangsalierung. Statt einer „Festung Europa“ die bereits tausende Tode zur Folge hatte, und unvertretbare Zustände in Camps wie Moria hervorbringt, brauchen wir endlich sichere Fluchtrouten und ein wirkliches, europaweit geltendes Recht auf Asyl. Dies ist mit dem aktuellen Asylsystems sowie dem Handeln der europäischen Grenzpolizei Frontex und dem vorliegenden Reformvorschlag unvereinbar.

Antrag 236/I/2015 Mehr Demokratie in Europa wagen!

15.05.2015

Die Sozialdemokratische Partei tritt für die Entwicklung einer neuen Europäischen Verfassung mit klarer Regelung aller demokratischen und sozialen Rechte sowie der Zuständigkeiten des EU- und der nationalen Parlamente als Grundlage eines europäischen Demokratisierungsprozesses ein.