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Antrag 166/II/2022 Predictive Policing in Europa verbieten

10.10.2022

Systeme Künstlicher Intelligenz (KI) finden nicht nur auf Plattformen wie Facebook oder TikTok Anwendung, sondern werden auch vermehrt von staatlichen Institutionen eingesetzt. Dabei werden sich oftmals mehr Effizienz und schnellere Verwaltungsabläufe erhofft. Die vergangenen Jahre haben aber gezeigt, dass der Einsatz von KI-Systemen mit großen Risiken verbunden ist. Damit KI-Systeme Vorhersagen treffen können, müssen sie mithilfe von Daten trainiert werden. Diese Daten entstammen aber einer bereits verzerrten und ungerechten Realität, in der Diskriminierung und Rassismus alltäglich sind. KI-Systeme, die dann auf Basis verzerrter und diskriminierender Datensätze trainiert werden, reproduzieren diese Verhaltensweisen dann auch in ihrer Anwendung. Auch gibt es kaum nachträgliche Überprüfungen solcher Systeme, noch werden Systeme derzeit in Hinblick auf mögliche Diskriminierungspotenziale entwickelt.

 

Zwei aktuelle Beispiele verdeutlichen diese Probleme. So wurde unter anderem in den Niederlanden ein KI-System von Behörden eingesetzt, um zu ermitteln, welche Empfänger*innen von Kindergeldzahlungen diese veruntreuten. Auf Basis dieser Einschätzungen wurden dann Rückzahlungsforderungen an die ermittelten Personen übermittelt, ohne dass diese Einschätzung noch einmal von einem Menschen überprüft wurde. Nach einigen Jahren stellte sich dabei aber heraus, dass viele Rückzahlungsforderungen ungerechtfertigt gestellt wurden, da das System nicht funktionierte. Auch traf das eingesetzte System vor allem diskriminierende Entscheidungen gegenüber Kindergeldempfänger*innen mit Migrationshintergrund und Empfänger*innen aus finanziell schwächeren Haushalten. Diese Gruppen wurden deutlich häufiger beschuldigt, Kindergeld veruntreut zu haben. Durch die falschen Rückzahlungsforderungen wurden diese Gruppen in starke finanzielle Not getrieben. Als weiteres Beispiel dient ein KI-System, welches durch die spanische Polizei seit 2007 eingesetzt wird. Dieses System erstellt eine Einschätzung darüber, wie gefährdet Frauen in ihrem eigenen privaten Umfeld sind, wenn sie eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt bei der Polizei aufgeben. Die Idee dahinter war, dass die Polizei bei sehr schlimmen Fällen schneller eingreifen kann. Jedoch war auch dieses System zutiefst diskriminierend und hat die Gefährdungslage von Frauen systematisch als zu niedrig eingeschätzt, um direkt aktiv zu werden. Dadurch konnte vielen Frauen nicht adäquat geholfen werden. In beiden Fällen führte der Einsatz von fehlerhaften KI-Systemen durch öffentliche Behörden zu massiven negativen Auswirkungen auf Bürger*innen, insbesondere benachteiligter Gruppen.

 

Wie das Beispiel der spanischen Polizei zeigt, ist der Einsatz von KI-Systemen durch Polizei- und Justizbehörden besonders riskant. In diesem Bereich werden derzeit vor allem Systeme entwickelt, die Vorhersagen über mögliche Straftaten oder besonders kriminalitätsbehaftete Orte erstellen. Solche Systeme werden auch als “Predictive Policing” Systeme bezeichnet. Neben dem spanischen KI-System werden solche Systeme bereits im Vereinigten Königreich, den Niederlanden, den USA und auch in Deutschland eingesetzt. So setzt die Polizei NRW ein KI-System ein, um zu beurteilen, an welchen Orten in naher Zukunft Straftaten begangen werden könnten. Die Polizeipräsenz wird dann an diesen Orten erhöht. Auch die Bundespolizei setzt ein KI-System ein, um das individuelle Gewaltrisiko von Gefährder*innen einzuschätzen und dadurch mögliche terroristische Anschläge vorherzusagen. Auswertungen zeigten dabei bereits, dass diese Systeme nahezu wirkungslos sind und es keinen nachweisbaren Effekt auf die Sicherheit oder die Vereitelung von Straftaten gibt. Dennoch werden diese Systeme weiterverwendet.

 

Neben der Wirkungslosigkeit solcher Systeme kommt es auch zu einem schweren Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte. Wie bereits gezeigt, sind KI-Systeme häufig fehleranfällig und diskriminieren Personen aufgrund ihres Aussehens, ihres Migrationsstatus oder ihrer sozioökonomischen Herkunft. Wenn dann falsche polizeiliche oder juristische Entscheidungen aufgrund von falschen KI-gestützten Entscheidungen getroffen werden, könnte dies für die Betroffenen sehr schwerwiegende Folgen haben. Darüber hinaus besteht ein Unterschied zwischen einer statistischen Vorhersage darüber, ob oder wo eine Straftat stattfinden könnte, und dem Ausüben einer Straftat. Es wird lediglich eine Vermutung aufgestellt. Insbesondere bei Systemen, welche das Risiko von Individuen beurteilen, können solche Systeme zu einem Einschnitt der Unschuldsvermutung führen.

 

Da der Einsatz von KI-Systemen mit Risiken verbunden ist, wird auf europäischer Ebene derzeit die weltweit erste Regulierung von KI-Systemen verhandelt. Bis Ende des Jahres soll der Verordnungsentwurf in die allgemeine Ausrichtung gehen und nächstes Jahr finalisiert werden. Im Rahmen der KI-Verordnung werden bestimmte KI-Systeme aufgrund ihres unannehmbaren Risikos verboten und andere aufgrund eines hohen Risikos stark reguliert. Bisher sind “Predictive Policing”-Systeme lediglich als Hochrisikosysteme definiert. Somit wäre der Einsatz solcher Systeme auch weiterhin in der EU erlaubt. Dies steht im starken Kontrast mit den aufgezeigten Risiken sowie Fehleranfälligkeit solcher Systeme.

 

Daher fordern wir:

 

“Predictive Policing”-Systeme sollen im Rahmen der Verhandlungen zur KI-Verordnung europarechtlich verboten werden. Der Einsatz solcher Systeme durch deutsche Behörden oder im Auftrag dieser muss unverzüglich eingestellt werden. Auch der Verkauf oder die Verfügbarmachung von Predictive Policing Software muss verboten werden.

Antrag 132/II/2022 Mental Health ins 21. Jahrhundert holen!

10.10.2022

Die Covid-Pandemie scheint in den Augen vieler Menschen in Deutschland bereits überwunden zu sein, doch viele folgende Probleme stehen noch vor uns.

 

Während im ersten Lockdown im Jahre 2020 noch im Vordergrund stand, die Inzidenz von Covid-Fällen zu senken, wurden bereits im zweiten Lockdown vermehrt Stimmen laut, die vor psychischen Folgen von Isolation und weiteren Infektionsschutzmaßnahmen warnten. Aus damaliger Sicht war es dennoch zunächst wichtiger, die Inzidenz zu senken und sich zunächst auf Menschen fokussiert, die akut an COVID erkrankt sind.

 

Im Jahre 2022 treten nun die psychischen Folgen in den Vordergrund, unsere psychotherapeutische Infrastruktur ist aber kaum bis gar nicht auf diese Belastungen vorbereitet. Aus diesem Grund ist es jetzt an der Zeit, an den notwendigen Stellschrauben zu drehen, damit der Leidensdruck bei Betroffenen so gering wie möglich und die Versorgung so gut wie möglich ist.

 

In Zeiten fortschreitender Digitalisierung muss auch Therapie digital funktionieren können!

 

Seit September 2020 dürfen neben Rezepten für Arzneimittel auch sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen (kurz: DiGa) verschrieben werden. Digitale Gesundheitsanwendungen sind Apps, die für eine bestimmte Erkrankung, unter anderem psychische Erkrankungen, verschrieben werden dürfen und so auch von den gesetzlichen Krankenkassen (kurz: GKV) übernommen werden müssen.

 

Viele dieser Apps basieren auf therapeutischen Interventionen, die wissenschaftlich fundiert sind. Aber trotzdem ist die Verwendung der DiGa noch eher eine Seltenheit. An dieser Stelle möchten wir auch unterstreichen, dass die Übernahme der Kosten für DiGa ein großer Fortschritt ist, dennoch sollte dabei immer die Effektivität dieser Anwendungen überprüft werden, um sicherzustellen, dass die Linderung von psychischer Symptomatik wirklich eintritt. Wir erwarten, dass Projektgelder und Übernahmen nur für Anwendungen gewährleistet werden, die aktuellen Forschungserkenntnissen entsprechen.

 

Neben der DiGa gibt es aber auch einen großen Graubereich an Internetseiten oder Apps, die einen forenähnlichen Charakter haben und in denen unqualifizierte Menschen Ratschläge geben und damit andere Menschen, die auf professionelle Hilfe angewiesen sind, gefährden. In diesen Foren geben teils nicht lizensierte oder geschulte Privatpersonen unprofessionelle und der Gesundheit häufig schadende Empfehlungen. In diesen Foren braucht es eine verpflichtende Einordnung der
Beiträge als keine Behandlungsvorschläge, sondern Ratschläge von Privatpersonen. Zusätzlich sollten
offizielle Beratungsangebote der Ärztekammern oder Krankenkassen verlinkt werden, ähnlich zu Corona-Informationen in social media. So bleibt die Möglichkeit, Erfahrungsberichte und Meinungen zu teilen, aber die notwendige Einordnung findet statt. Durch die weiterhin zu starke Stigmatisierung vieler Erkrankungen ist ein Austausch über Erkrankung und Behandlung vielen Menschen nur im anonymen digitalen Raum möglich.

 

Dass sich die Beschwerden von Menschen aufgrund von gesellschaftlichen Stigmata von Psychotherapie verschlechtern, darf nicht zugelassen werden!

 

Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung und das Gesundheitsministeriumauf, …

 

  • einen Ausbau der DiGa und eine Schulung von Ärzt*innen und Therapeut*innen über die Verschreibung von DiGa, zu unterstützen
  • die konsequente Verfolgung von Foren, die gefährlichen und lebensbedrohlichen Rat geben und den Ausbau von alternativen Onlineangeboten, die durch medizinisch geschultes Personal betreut werden
  • die Aufhebung der freien Preisfindung von DiGas im ersten Jahr und stattdessen die direkte Preisverhandlung, um die Leistungsausgaben zu senken und das Missverhältnis in Bezug auf Wirtschaftlichkeit und Nutzennachweis auszugleichen. Oft bewegen sich aktuell die Bepreisungen weit über den Preisen, die außerhalb des DiGa-Verfahrens gefordert werden und konventionell vergütet werden
  • einen größeren Fokus auf digitalen personalisierten Therapieangeboten mit lizensierten und professionellen Therapeut*innen zu legen
  • mehr Angebote im E-Mental-Health-Bereich anzubieten bzw. zu fördern, sodass die Infrastruktur in der Zukunft besteht
  • Der IT-Sicherheit und dem Datenschutz der DiGa höchste Priorität einzuräumen und zu kontrollieren
  • Die DiGa darf Therapeut*innen nicht ersetzen. Wir unterstreichen unsere Forderungen, mehr Therapieplätze in Deutschland zu schaffen

Antrag 208/II/2022 Mehr Klimaschutz durch mehr Gender Empowerment!

10.10.2022

Es ist uns bereits seit geraumer Zeit klar, dass die Folgen des Klimawandels in besonderem Maße FINTA treffen. Sie sind es nämlich, die während und nach Klimakatastrophen in besonderer Weise betroffen sind, da sie mit höherer Wahrscheinlichkeit sterben, weil sie sich um Angehörige und Kinder kümmern und deren Flucht mitorganisieren müssen bzw. diese nicht zurücklassen wollen oder können. Zudem wird ihnen, wie bei dem Bildungszugang im Allgemeinen, häufiger das Erlernen von Überlebenstechniken wie z.B. Schwimmen und Erstversorgung verweigert. Dies betrifft auch die Effektivität von Warnsystemen für diese Bevölkerungsgruppen. Außerdem können die Folgen des Klimawandels sowohl Beschleuniger für eine revisionistische Politik sein, die die Rechte von FINTA einschränkt, als auch Begünstigter für häusliche Gewalt oder sexualisierte Gewalterfahrungen auf der Flucht.

 

Jedoch lässt sich nicht nur eine Ungleichheit in Bezug auf die Folgen des Klimawandels beobachten, sondern ebenfalls in der Entwicklung und Umsetzung von Lösungsstrategien. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ein höherer FINTA-Anteil und mehr Diversität in Entscheidungsgremien und Führungspositionen einen positiven Einfluss auf dem Weg zu einer klimaneutralen Gesellschaft haben. Neben einer feministischen Außenpolitik brauchen wir also auch ganz klar eine dezidiert feministische Klimapolitik. Auch wenn Erdbeben, Dürren und Überschwemmungen nicht per se genderspezifisch sind, müssen wir die weitreichenden Folgen und Nachwirkungen beachten, um die Notwendigkeit von feministischen Perspektiven im Klima-Kontext herauszustellen.

 

Die heutige Datenlage zeigt eindeutig positive Korrelationen zwischen dem Global Gender Gap Index oder dem Gender Inequality Index und dem Environmental Performance Index. Kurz gesagt: Wie gerecht oder ungerecht Länder in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter sind, beeinflusst entschieden, welchen positiven oder negativen Beitrag die Klimapolitik des Landes für die ganze Welt hat.  In einem Zeitraum von 30 Jahren konnte gezeigt werden, dass eine Erhöhung des Women’s Political Empowerment Index um einen Punkt mit einer Reduktion der CO2-Emissionen von über 11% einher ging. Diese persönliche Korrelation erklären wissenschaftliche Studien dadurch, dass

 

  1. Länder mit hohem parlamentarischen FINTA-Anteil eher internationale Umweltabkommen ratifizieren
  2. FINTA gewöhnlich ressourcenschonender und emmissionsärmer produzieren und
  3. FINTA durchschnittlich einen kleineren ökologischen Fußabdruck haben als Männer.

 

Wir als Jusos sind ebenfalls der Meinung, dass die Emanzipation von FINTA und die Bekämpfung des Klimawandels in geeigneten Bereichen für Lösungsstrategien kombiniert werden können und sollten.

 

Wir fordern daher, dass in der deutschen Klimapolitik Gender Empowerment und Diversity Bestandteil der Strategie zur Bekämpfung anerkannt und gefördert werden. Das soll sich insbesondere in der Kommunikation zur Öffentlichkeit und in der Verteilung von finanziellen Mitteln und in öffentlichen Vergaben äußern.

Antrag 83/II/2022 Vorschläge der EU-Bürger*innen nicht in der Schublade verstauben lassen - Ergebnisse der Zukunftskonferenz jetzt umsetzen!

10.10.2022

Am 10. März 2021 unterschrieben die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat gemeinsam die Erklärung zur Konferenz zur Zukunft Europas, um einen neuen Prozess zur Auseinandersetzung mit der Zukunft der Europäischen Union und ihrer Institutionen in die Wege zu leiten. Die ursprünglich im Frühling 2019 vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagene Idee zur Konferenz wurde im Sommer 2019 offiziell von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als Teil ihrer politischen Schwerpunkte dem Europäischen Parlament vorgestellt und startete – durch die Corona-Pandemie um ein Jahr verspätet – am 9. Mai 2021.

 

Die Jahre vor und während der Konferenz waren von unterschiedlichen Krisen geprägt. Sowohl die Finanz-, Euro- und Schuldenkrisen ab 2007, die gescheiterte gemeinsame EU-Asylpolitik im Sommer 2015, das Referendum Großbritanniens zum Austritt aus der EU im Jahr 2016, seit Anfang 2020 die COVID-19-Pandemie, Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 sowie die immer extremer werdenden Auswirkungen der Klimakrise haben die Frage aufgeworfen, ob die EU dazu in der Lage ist, diesen enormen Herausforderungen gerecht zu werden. Durch die Konferenz sollte ein Raum für Diskussionen geschaffen werden, um Vorschläge aus der Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten zu erhalten und den Bürger*innen eine Stimme zu geben.

 

Die Ziele der Konferenz waren sehr breit gesteckt: die Teilnehmenden diskutierten über mehrere Monate in verschiedenen Formaten und Konstellationen zu den Themen Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Beschäftigung, Demokratie in Europa, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, Klimawandel, Umwelt, Gesundheit, Europa in der Welt sowie Migration. Mit dem Abschlussbericht, der am 9. Mai 2022 vorgestellt wurde, sollten die Ergebnisse des gesamten Prozesses zusammengefasst und sichergestellt werden, sodass die entwickelten Ideen der Konferenz der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament zur weiteren politischen Beratung, Diskussion und Beschlussfindung vorgelegt werden können. Die Konferenz war eine bisher einmalige Möglichkeit, in der Geschichte der EU sich als Bürger*in an der Gestaltung der EU zu beteiligen. Über 50.000 Teilnehmer*innen haben ihre Ideen auf Veranstaltungen oder auf der digitalen Plattform geteilt und mehr als 800 zufällig ausgewählte Europäer*innen haben daraus 49 Vorschläge und mehr als 320 Maßnahmen zu neun Themen erarbeitet.

 

Die Umsetzbarkeit und politische Erwünschtheit der Vorschläge sowie die Frage, ob für die jeweiligen Vorschläge eine Änderung der EU-Verträge erforderlich ist oder nicht, stellen nun nach Veröffentlichung des Abschlussberichts die wesentlichen politischen Streitpunkte dar. Bis auf 13 Vorschläge ist es möglich alle anderen Ideen, Wünsche, Anregungen und Vorschläge der Zukunftskonferenz innerhalb der geltenden EU-Gesetzgebung und des geltenden EU-Vertrags von Lissabon umzusetzen. Dazu zählen vor allem Vorschläge zu höherer Transparenz und effektiverer Öffentlichkeitsarbeit der EU-Institutionen, mehr sichtbare Bürger*innenbeteiligung, effektivere Marktregulierung und Verbraucher*innenschutz, stärkere und gezieltere Förderung und Ausbau von erneuerbaren Energien, die Schärfung von Klimaschutzgesetzen, die Entwicklung einer gemeinsamen Energieunion und gesamteuropäischer Energienetze, stärkere Finanzmarktregulierung, eine humanitäre und gesamteuropäisch koordinierte Migrationspolitik sowie schärfere Arbeitsschutzgesetze und eine Entwicklung zur Sozialunion. Einige der Vorschläge (vor allem Marktregulierungen und die Öffentlichkeitsarbeit der EU) sind sofort per Anpassung existierender Verordnungen und Regulierungen realisierbar, andere (wie beispielsweise eine gemeinsame humanitäre Migrationspolitik) sind zwar theoretisch ohne Vertragsänderung umsetzbar, unter dem Damoklesschwert der Einstimmigkeit im Rat jedoch wegen konservativen und rechtspopulistischen Vetos politisch kaum umsetzbar.

 

Die Vorschläge der Zukunftskonferenz, die eine Vertragsänderung voraussetzen, sind im Wesentlichen die Abschaffung der Einstimmigkeit in allen, bzw. umfassenden Politikbereichen und dessen Ersetzung durch Entscheidungen mittels qualifizierter Mehrheit, eine gemeinsame europäische Steuer- und Finanzpolitik, die Einführung europaweiter Referenden, eine weitere Föderalisierung der EU inklusive der Bestärkung des Europäischen Parlaments als vollwertige gesetzgebende Kammer mit Initiativrecht sowie die Umbenennung von EU-Institutionen zur besseren Verständlichkeit. Am 9. Juni hat das Europäische Parlament – mit einer klaren Mehrheit von 355 Stimmen – eine Entschließung angenommen, in der der Europäische Rat aufgefordert wird, das Verfahren zur Überarbeitung der EU-Verträge einzuleiten. Unter den Mitgliedstaaten gibt es derzeit zwei Blocks: einen Block für einen Verfassungskonvent und einen Block gegen jegliche Form von Vertragsänderungen.

 

Dieser Antrag hat nicht zum Ziel eine umfassende Forderungsliste aufzustellen, welche EU-Reformschritte wir unterstützen und welche nicht. Es gibt bereits eine umfassende Vielzahl an Beschlüssen aus der jüngeren Vergangenheit, die genau formulieren, wie wir uns die Europäische Union vorstellen, welche kurzfristigen Reformschritte wir fordern, welche grundsätzlichen Vertragsänderungen wir für unsere Vision der Vereinigten Staaten von Europa für notwendig halten und wie eine solche Union fußend auf den Grundprinzipien des demokratischen Sozialismus in Abgrenzung zum europäischen neoliberalen Wirtschaftsprojekt des 20. Jahrhunderts und der frühen 2000er Jahre auszusehen hat. Dieser Antrag hat zum Ziel, all diese Forderungen zu bekräftigen und angesichts der aktuellen Diskussion rund um die Zukunftskonferenz und wie mit ihren Ergebnissen umzugehen ist, einen Impuls zu senden: die Zeit für eine grundlegende Neuordnung der EU – inklusive Verfassungskonvent – ist jetzt!

 

Denn neben den vielen Krisen der letzten Jahre unterstreicht eine andere aktuelle Entwicklung gerade noch zusätzlich, warum eine solche Neuordnung notwendig ist: die wiederbelebte Debatte um die Erweiterung der EU. Im Zuge des russischen Krieges haben die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien EU-Mitgliedsanträge gestellt. Die Länder des Westbalkans (Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Serbien) sehen ihre Beitrittsambitionen infolgedessen ebenfalls mit neuem Leben gefüllt. Wie schwierig es ist, unter der Maßgabe der Einstimmigkeit in einer zunehmend politisch polarisierten EU, in der vor allem Ungarn und Polen von ihrem Vetorecht bei allen nur annähernd progressiv erscheinenden Politikvorschlägen großzügig Gebrauch machen, effektiv Politik zu machen, erleben wir derzeit bereits stark. Möchte die EU mittelfristig ihre Anzahl an Mitgliedsstaaten auf deutlich mehr als 30 erweitern, wird eine zumindest Teil-Abschaffung der Einstimmigkeit und eine deutliche Vertiefung und Weiterentwicklung gemeinsamer Politikbereiche unausweichlich. Will eine erweiterte EU überleben, muss sie sich weiterentwickeln.

 

Nur mit einem Verfassungskonvent können die Ergebnisse der Zukunftskonferenz ernst genommen und die tatsächlich notwendigen Reformen für das Fortbestehen der EU erzielt werden. Insbesondere die Abschaffung der Einstimmigkeit im Rat und die Aufwertung des Europäischen Parlaments zu einer tatsächlichen Gesetzgebungskammer sind dafür unabdingbar. Der Umgang mit den Ergebnissen der Zukunftskonferenz ist auch für die Demokratie in Europa und der Akzeptanz der EU bei den europäischen Bürger*innen von hoher Bedeutung. Die Zukunftskonferenz ist mit dem Ziel gestartet, die Bürger*innenbeteiligung in der EU zu stärken. Angesichts der weit verbreiteten Ansicht, dass die EU keine ausreichende demokratische Legitimation besitzt und daher unter einem Demokratiedefizit leidet, wäre es ein fatales Signal, wenn die Ergebnisse der Zukunftskonferenz und damit die Forderungen der europäischen Bürger*innen zu keinen konkreten Änderungen führen und stattdessen keine Beachtung finden. Zudem hat sich die Bundesregierung bereits in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass die Konferenz zur Zukunft Europas in einen verfassungsgebenden Konvent münden sollte.

 

Deswegen fordern wir:

 

  • Die Bundesregierung soll die Einberufung eines europäischen Verfassungskonvent unterstützen und sich im Europäischen Rat aktiv dafür einsetzen. Das Fenster, das sich gerade für tatsächlichen politischen Fortschritt in Europa geöffnet hat, darf nicht ungenutzt bleiben!
  • Im Rahmen eines Verfassungskonvents soll die Bundesregierung die für die Umsetzung der Forderungen der Zukunftskonferenz erforderlichen Vertragsänderungen unterstützen. Dazu zählen insbesondere die Abschaffung der Einstimmigkeit sowie die Aufwertung des Europäischen Parlament zu einer tatsächlichen Gesetzgebungskammer mit Initiativrecht.
  • Alle weiteren Vorschläge der Zukunftskonferenz, die keiner Vertragsänderung bedürfen und sich mit den Forderungen einer vertieften Europäischen Union im Sinne der demokratisch-sozialistischen Vision der Vereinigten Staaten von Europa decken, sollen schnellstmöglich umgesetzt werden. Dazu zählen insbesondere die Vorschläge zu einem effektiven gesamteuropäischen Arbeitsschutz, dem Ausbau von Rechten europäischer Betriebsräte und europäischer Gewerkschaften, einer gemeinsamen Sozial- und Fiskalunion, einer gemeinsamen Energieunion sowie effektive Regulierungen des Finanzmarktes und der Beschränkung der Marktmacht von Großkonzernen.
  • Damit die Konferenz zur Zukunft Europas keine einmalige Beteiligungsmöglichkeit bleibt, muss sich die Bundesregierung für eine regelmäßige Austragung der Konferenz einsetzen.

Antrag 85/II/2022 Neustart in der Westbalkanpolitik: Wo ein Wille, da auch ein Weg!

10.10.2022

Spätestens seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist klar: Europa muss enger zusammenwachsen, um handlungsfähig zu bleiben. Die Europäische Union muss die Beziehung zu ihren europäischen Nachbarstaaten überdenken und inklusiver gestalten. Daher ist es ein außerordentlich begrüßenswerter Schritt, die Ukraine und Moldau als Beitrittskandidaten zur EU anzuerkennen und nun auch formelle Gespräche im Rahmen von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien zu führen. Diese Solidarität ist jetzt ein wichtiges Zeichen!

 

Was uns diese Entwicklungen aber auch gezeigt haben: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Diesen Willen brauchen wir auch verstärkt in anderen Teilen des Westbalkans und Europas.  Putins imperialistische geopolitische Ziele enden nicht an ukrainischen Staatsgrenzen. In Moskau wird daran gearbeitet, dem Einfluss der NATO und der EU in Südosteuropa entgegenzuwirken und im Visier Putins ist dabei vor allem der Westbalkan, welcher die Region des ehemaligen Vielvölkerstaats Jugoslawiens sowie Albaniens umfasst: Albanien, Bosnien und Herzegowina (BiH), Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Auch Kroatien und Slowenien gehören zum Westbalkan, werden aber seit ihrem Beitritt zur EU gesondert betrachtet.

 

1991 begann der Vielvölkerstaat Jugoslawien zu zerfallen, nachdem sich mehrere Staaten unabhängig machten. In BiH brach daraufhin ein verheerender Krieg aus, der auch den Völkermord von Srebrenica umfasste und auch zwischen Serbien und dem Kosovo kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen.

 

Heute ist der Westbalkan wieder in einer Phase der Destabilisation: Nationale Interessen werden vor regionaler Einigkeit verfolgt; BiH droht durch separatistische Bewegungen zu zerbrechen; Perspektivlosigkeit belastet die Bevölkerung und vor allem die Jugend vor Ort. Weit vorne auf der internationalen Bühne und mitten im Geschehen ist dabei kein geringerer als der Kreml, der den Westbalkan als nächsten Krisenherd für seine Machtspiele anvisiert hat. Denn der Westbalkan ist eine komplexe, aber überaus wichtige geopolitische Region.

 

Seit Jahren weitet Russland seinen Einfluss auf die Länder des Westbalkans aus mit dem Ziel, diese politisch zu destabilisieren und die europäische Integration und NATO-Annäherung dieser Staaten zu blockieren. Beispiele hierfür sind Geheimdienstoperationen, Anschlagspläne gegen Oppositionelle und gezielte Cyberangriffe gegen demokratische und zivilgesellschaftliche Organisationen.  Neben militärischen Mitteln bedient sich die russische Regierung auch “soft power” Instrumenten, wie Desinformation, den Austausch über die serbisch bzw. russisch-orthodoxe Kirche und wirtschaftliche Abhängigkeiten. Die Abhängigkeit von Russland zeigt sich auch daran, dass Serbien und BiH sich geweigert haben, die Sanktionen der EU gegen Russland nach dessen Einmarsch in die Ukraine mitzutragen. Die Rolle Russlands liegt dabei in der Funktion als Gegenpol zur EU, indem Russland aktiv anti-europäische Sentiments und nationalistische Parteien unterstützt, die mit ethnopolitischen Ideologien für gesellschaftliche und politische Instabilität in den Staaten des Westbalkan sorgen.

 

Im besonderen Fokus Moskaus stehen dabei vor allem zwei Staaten, die von kontinuierlichen und tiefgreifenden Krisen geprägt sind und dessen Beziehungen zu der EU bisher am schwächsten voranschreiten: Bosnien und Herzegowina sowie die Republik Kosovo.

 

BiH besteht seit dem Ende des blutigen Krieges durch den Friedensvertrag von Dayton von 1995 aus zwei teilautonomen Entitäten: Die mehrheitlich von ethnischen Serb*innen bewohnte Republika Srpska, sowie die Föderation BiH, welche wiederum zu rund 75% von Bosniak*innen und zu 20% von Kroat*innen besiedelt ist. Bis heute ist das Land von einer innenpolitischen Krise geprägt und ethnische Konflikte überdauern sowohl in der Zivilgesellschaft, als auch an der politischen Spitze des Landes. Haupttreiber dieser Konflikte ist der serbische Vertreter im Staatspräsidium, Milorad Dodik, der im Herbst 2021 die Abspaltung der Republika Srspka vom restlichen Teil Bosnien-Herzegowinas durch die Blockade und Boykottierung zentraler Staatsinstitutionen, dem Austritt aus dem bosnischen Steuer- und Justizsystem und den Aufbau einer eigenen Armee ankündigte. Neben seinen völkerrechtswidrigen Sezessionsbestrebungen leugnete er offen den Völkermord von Srebrenica, proklamiert offen nationalistische Ansichten, die mit der Abwertung anderer einhergehen und sein Ziel, die „Wiedervereinigung aller Serben in einem Groß-Serbien“ erreichen zu wollen, obwohl dies ein klarer Verstoß gegen die Verfassung und den Friedensvertrag von Dayton ist. Als Antwort darauf hat die Bundesregierung und allen voran Außenministerin Annalena Baerbock Sanktionen der EU gegen Dodik gefordert, etwaige Pläne sind aber bisher noch nicht umgesetzt und werden seitens Dodik auch eher belächelt.

 

Doch auch auf bosnisch-kroatischer Seite kommt es zu Destabilisierungsversuchen: Der kroatische Nationalist und Vorsitzende der kroatisch-rechts-nationalistischen Partei HDZ-BiH, Dragan Covic, fordert die Gründung einer weiteren Entität, der sogenannten „Herceg-Bosna“, ein Pseudo-Staat, welcher 1992 ausgerufen wurde, jedoch nicht im Vertrag von Dayton festgeschrieben wurde. Covic arbeitet derweil daran, die Region unabhängiger zu machen, um ein neo-faschistisches Kleinkroatien zu etablieren, welches an das Mutterland angegliedert werden soll. Um diesem Schritt näher zu kommen, forderte er im Sommer dieses Jahres eine Wahlrechtsreform, welche ihm und seiner Partei eine Dauerkarte für die bosnische Regierung verleihen würde, sodass die HDZ jegliche staatlichen Prozesse blockieren könnte, wie sie es bereits in der Föderation BiH seit vier Jahren tut.

 

Dodik und Covic stehen für Nationalismus, Faschismus, Rassismus, Despotismus und Sezessionismus und tun alles in ihrer Macht Stehende, um die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in BiH auszuhebeln! Dabei werden sie von Kroatien und Serbien unterstützt. So unterstützt die serbische Regierung unter Aleksandar Vucic die Sezessionsbestrebungen der Republika Srpska mit dem Ziel eines “Großserbiens”, obwohl es das Abkommen von Dayton mitunterzeichnet hat. Daneben nutzte die ultranationalistische kroatische Regierung Kanäle der Europäischen Union, vor allem durch den EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi, um die eigenen nationalen Interessen zu verfolgen und beteiligt sich an dem Plan, die Entität “Herceg-Bosna” zu etablieren. Nicht zuletzt versucht die kroatische Regierung die Wahlrechtsreform in BiH durchzusetzen und drohte unlängst eine Blockade des NATO-Beitritts Schwedens und Finnlands an, sollte es keine Wahlrechtsreform nach eigenen Vorstellungen in Bosnien-Herzegowina geben.

 

Auch der Kreml nutzt alle Möglichkeiten aus, die innenpolitische Lage in BiH im Zusammenspiel mit Kroatien und Serbien weiter zu destabilisieren: Denn Russland sorgte unter anderem dafür, dass der Hohe Repräsentant Christian Schmidt seinen Rechenschaftsbericht zu der Lage in Bosnien und damit zu den ethnopolitischen Krisen vor dem Weltsicherheitsrat nicht präsentieren konnte, wodurch aktiv das Bewusstsein für die Sezessionsbestrebungen Dodiks durch die Unterstützung Serbiens und Kroatiens gezielt vor der internationale Staatengemeinschaft geschwächt werden sollte. Zudem äußerte sich der russische Botschafter Igor Kalabuchow im März 2022 in Sarajevo zu einem möglichen NATO-Beitritt von BiH und sagte zwar, dass es eine interne Angelegenheit des Landes sei, die Reaktion Russlands jedoch nicht und Moskau bereits am Beispiel der Ukraine gezeigt habe, was es erwarten werde. Auch wird befürchtet, dass der Kreml bei der Weiterführung der Abspaltungsversuche der Republika Srpska dessen Unabhänigkeit anerkennt, wie er es bei den Regionen Donezk und Luhansk getan hat.

 

Fest steht: Die Souveränität und territoriale Integrität von BiH ist gefährdet und es bedarf einer internationalen Kraftanstrengung, um die Fehler aus den 90er Jahren nicht erneut zu begehen! Die EU steht in der historischen Verantwortung und in der Pflicht, Sanktionen gegen Dodik und Covic, sowie ihre Parteien zu verhängen, um sie daran zu hindern, den sezessionistischen Kurs weiterzuführen und um die territoriale Integrität Bosniens zu bewahren!

 

Wir brauchen zudem eine starke EU, die ihren Versprechen einer sicheren Beitrittsperspektive gerecht wird und die Hürden des Beitrittsprozesses endlich an die politischen Realitäten auf dem Westbalkan anpasst! BiH gilt bereits seit 2003 als potentieller Beitrittskandidat, hat 2016 einen EU-Beitrittsantrag gestellt und nicht zuletzt im Oktober 2021 stellte die Europäische Kommission einen großen Fortschritt bei der Umsetzung der von ihr festgelegten Reformprioritäten fest und forderte BiH daraufhin auf, weitere Anstrengungen zu unternehmen, um eine Chance auf den Beitrittskandidatenstatus zu bekommen. Der Ukraine wurde derweil am 23. Juni 2022 offiziell der Kandidatenstatus zum EU-Beitritt zugesprochen. Diesen Schritt befürworten wir ausdrücklich. Es lässt sich jedoch nicht ignorieren, dass BiH in allen Beitrittskriterien, wie etwa zur Korruptionsbekämpfung und der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und der wirtschaftlichen Freiheit, größere Fortschritte erzielt hat, als die Ukraine. Trotz dieser ganzen Bemühungen und Errungenschaften ist der offizielle Beitrittskandidatenstatus für BiH dem Land bis heute verwehrt geblieben, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass der Westbalkan grundsätzlich weniger Unterstützung erhält, als andere Länder bisher und sich die Beitrittsprozesse dieser Region insgesamt schwieriger gestalten. Denn nach den Erweiterungsrunden von 2004 und 2007 und den Schwierigkeiten durch die Finanz- und Euro-Krise wurde die West-Balkan-Erweiterung zunehmend weniger wichtig, bis der Prozess schließlich einschlief. Zudem haben die Mitgliedsstaaten beschlossen, die Kriterien für den Beitritt zu verschärfen und den Prozess komplexer für Bewerber zu machen – schließlich wollte man die Fehler der vorherigen Runden vermeiden. Die EU ist mitverantwortlich für die Destabilisierung der Region. Dabei lässt sich vor allem aus den Erfahrungen und den Erkenntnissen der bisherigen europäischen Geschichte festhalten, dass eine glaubwürdige EU-Perspektive zur Stärkung liberal-demokratischer Kräfte führt und Reformprozesse positiv vorantreiben kann und hier ein Handlungsauftrag der EU besteht!

 

Doch nicht nur BiH ist von einer immensen Instabilität geprägt, sondern auch die Republik Kosovo, die sich im Jahr 2008 als damalige Provinz der Republik Serbien völkerrechtskonform unabhängig erklärte. Seitdem gilt der Kosovo lediglich als potentieller Beitrittskandidat und bemüht sich um die Stärkung und Sicherung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen. Die EU beteiligte sich an diesen Prozessen unter anderem durch die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit der Aussicht auf einen EU-Beitritt der Republik Kosovo im Jahr 2015. Dabei konnte der Kosovo bereits Erfolge in den Reformbemühungen erzielen, wie etwa die vollständige Umsetzung der wesentlichen Eckpfeiler für eine Visaliberalisierung, Fortschritte im Justizwesen und der Gewährleistung und Achtung von Menschenrechten.

 

Innenpolitisch steht der Kosovo jedoch vor erheblichen Herausforderungen, was sich nicht zuletzt in häufigen Regierungswechseln in der Republik zeigt. So kam es in den vergangenen zwei Jahren zu mehreren Regierungswechseln aufgrund von Misstrauensanträgen, gerichtlichen Interventionen zur Regierungsbildung sowie dessen Annullierung aufgrund unzulässiger Stimmabgaben und einer vorgezogenen Wahl im Februar 2021.

 

Vor dem Hintergrund der aktuellen Dynamik in der europäischen Erweiterungspolitik kündigte die Regierung an, Ende des Jahres einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft zu stellen. Im Mai 2022 stellte die Republik Kosovo zudem einen Antrag auf Mitgliedschaft im Europarat. Jedoch reagierte Serbien mit starken Worten auf den Antrag sowie auf mögliche EU- und Natobeitrittsgesuche mit der Drohung, dass die serbische Regierung ihre “Zähne zeigen” würde.

 

Denn seit der kosovarischen Unabhängigkeit herrscht ein andauernder Konflikt mit Serbien, der die Eigenstaatlichkeit des Kosovos gemeinsam mit Russland und weiteren Mitgliedern des Europarats nicht anerkennt, darunter auch Spanien, Rumänien, Griechenland, Zypern und die Slowakei. Die Spannungen zwischen beiden Republiken erreichten ihren Höhepunkt zuletzt wegen Konflikten an den Grenzübergängen aufgrund der geplanten Nichtanerkennung serbischer Personaldokumente und KfZ-Zeichen durch die kosovarische Regierung, wobei diese Regelungen zuvor von der serbischen Regierung eingeführt wurden.

 

Das Problem der fehlenden Anerkennung des Kosovos wirkt dabei auch in andere Bereiche fort: Denn die EU rief ein moderiertes Dialogformat zwischen Serbien und dem Kosovo ins Leben, mithilfe dessen die Beziehungen beider Staaten normalisiert werden und in ein rechtsverbindliches Normalisierungsabkommen münden sollten. Prämisse ist dabei, dass sich die Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien erst normalisieren müssen, bevor ein EU-Beitritt beider Staaten möglich ist. Bisher konnte der Dialog jedoch nicht voranschreiten. Ohne internationale Anerkennung des Kosovos wird es nicht nur unwahrscheinlicher, dass das Land eine echte EU-Beitrittsperspektive hat. Auch für eine Mitgliedschaft in der UNO muss die Souveränität und Unabhängigkeit des Kosovos international geklärt sein.

 

Bis heute steht dem aber auch das UN-Vetorecht Russlands im Sicherheitsrat entgegen, mit dem es versucht, die Versuche des Kosovos um die Anerkennung der Eigenstaatlichkeit und der UN-Mitgliedschaft zu untergraben. Vor dem Hintergrund der aktuellen Verschärfungen zwischen dem Kosovo und Serbien sicherte Dimitri Peskow, Sprecher des Kremls, die volle Unterstützung für Serbien zu. Staaten wie Serbien und Russland versuchen, den dysfunktionalen Status Quo des Westbalkan zu wahren, veraltete Herrschafts- und Territorialansprüche über souveräne und demokratische Staaten zu erheben und den Westbalkan zu destabilisieren. Das kann nicht sein! Deshalb begrüßen wir die bereits erzielten Errungenschaften des Kosovos hinsichtlich der Reformbemühungen zu einem rechtsstaatlichen, demokratischen und menschenrechtsachtenden Staat sowie die Bekämpfung von Kriminalität und Korruption und unterstützen den Antrag der Republik Kosovo für die Mitgliedschaft im Europarat. Zudem begrüßen wir, dass die Bundesregierung ihre Unterstützung des Kosovos ausdrücklich zusagt.

 

Um sowohl in BiH und auch im Kosovo für Stabilität zu sorgen, bedarf es hier vor allem der Präsenz von NATO-Friedenstruppen. In beiden Fällen hat sich die Bundesrepublik in der Vergangenheit an Friedensmissionen der NATO-Sicherheitsgruppen EUFOR Althea und KFOR beteiligt, stellte die Beteiligung an der EUFOR Althea Mission jedoch 2012 ein. Doch auch vor dem Hintergrund der geopolitischen Machtspiele Russlands nach dem Angriff auf die Ukraine kam es hier zur erneuten Beteiligung Deutschlands an der Friedensmission durch die Entsendung von bis zu 50 Soldat*innen. Im Mai 2022 verlängerte das Bundeskabinett zudem das Mandat für den unbefristeten Sicherheitseinsatz KFOR im Kosovo mit Zustimmung des Bundestages bis zum Juni 2023. Aufgrund der aktuellen und andauernden Spannungen zwischen den Republiken Serbien und Kosovo hat sich die NATO zudem dazu bereit erklärt, von ihrem Beobachterstatus abzuweichen und im Rahmen des KFOR-Mandats einzugreifen, sofern die Stabilität des Kosovos gefährdet sein sollte.

 

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir die Entscheidung der Bundesregierung zur Wiederaufnahme des EUFOR Althea Mandates vom 7. Juli 2022 zur Stabilisierung Bosniens, blicken jedoch mit großer Sorge auf die anstehende Abstimmung im UN-Sicherheitsrat zur Verlängerung des EUFOR-Mandates im November und befürchten ein Veto Russlands. Eine solche Blockade würde fatale Auswirkungen auf die innere Stabilität Bosnien-Herzegowinas haben und den Sezessionsbestrebungen Dodiks weiterzuspielen. Dies gilt es zu verhindern.

 

Es lässt sich insgesamt festhalten, dass die anhaltenden Destabilisierungsversuche im Westbalkan ein massives Sicherheitsrisiko für die EU darstellen und ohne weiteres Zutun der EU in einem Flickenteppich autokratischer Systeme auf dem Westbalkan münden werden. Denn was sich in jüngster Zeit beobachten ließ, war ein Wiedererstarken Russlands in der Region, das nur möglich wurde, weil die EU ihren Blick zu lange nach Innen richtete, anstatt sich mit den Versprechen einer realistischen europäischen Zukunft im Westbalkan auseinanderzusetzen. Der Kreml konnte sich so als wichtiger Partner, als eine Alternative zur europäischen Zukunft inszenieren und den Westbalkan so als Schachbrett für seine geopolitischen Ziele nutzen. Liberal-demokratische Kräfte werden gezielt geschwächt und die EU kann und darf hier nicht länger zuschauen. Wir haben vor allem gesehen, dass Putins Strategie in der Zusammenarbeit mit autokratischen und populistischen Kräften in der Region liegt und Staaten wie Serbien und Kroatien sich hier eindeutig als politische Verbündete entblößt haben, die im Vergleich zu anderen Westbalkanstaaten in puncto der von Europa vertretenen Werte nicht weiter entfernt sein könnten. Deshalb müssen wir jetzt klare Kante zeigen und dem Kreml sowie verbündeten Staaten signalisieren, dass wir geschlossen hinter den demokratischen Kräften des Westbalkans stehen, welcher eine echte europäische Zukunft verdient und für ein vereintes, multiethnisches und rechtsstaatliches politisches und gesellschaftliches System einsteht.

 

Wir fordern daher von der SPD-Bundestagsfraktion, der Bundesregierung und den SPD-Abgeordneten im Europaparlament:

 

  1. sich entschieden und klar gegen jegliche separatistischen Bewegungen, Kriegsdrohungen oder Maßnahmen, die die innere staatliche Ordnung in BiH gefährden, zu stellen und sich aktiv gegen äußere Einmischungen durch kroatische und serbische Vertreter*innen zu positionieren.
  2. eine Neuausrichtung der Beziehungen zu Serbien und Kroatien aufgrund der anhaltenden Versuche, die territoriale Integrität in BiH zu zerschlagen, zu gestalten
  3. vor diesem Hintergrund die Verurteilung der sezessionistischen Politik Milorad Dodiks und Dragan Covics und die Verhängung von Sanktionen gegen alle politischen Vertreter*innen, die die Sezessionsbestrebungen fördern
  4. auf europäischer und internationaler Bühne die Verherrlichung und Leugnung von Kriegsverbrechen und von Völkermorden in BiH zu verurteilen und Sanktionen gegen solche politischen Vertreter*innen zu erlassen, die unter anderem den Völkermord von Srebrenica leugnen.
  5. sich auf europäischer Ebene für eine Neuausrichtung der europäischen Westbalkan-Strategie einzusetzen, die eine tatsächliche Perspektive auf einen EU-Beitritt erlaubt.
  6. die sozialdemokratischen Mitglieder im Europäischen Parlament sollten sich dafür einsetzen, dass die EU-Kommission die künftigen Beitrittsverhandlungen mit BiH auch unter Einbeziehung multiethnischer Parteien führt und BiH als multiethnische Bürgerrepublik aufrechterhalten wird.
  7. vor diesem Hintergrund eine intensive Zusammenarbeit mit den Regierungen des Kosovos und BiH zur weiteren Unterstützung der Reformbemühungen im Zuge des Beitrittsprozesses und ein zügiges Verleihen des Beitrittskandidatenstatus für BiH, um Destabilisierungsversuchen ein klares Signal durch den Beistand der EU entgegenzuhalten.
  8. vor diesem Hintergrund die Pausierung der (Vor-)Beitrittsgespräche und EU-Fördergelder in Bezug auf die Republik Serbien, die nicht direkt der Zivilbevölkerung zugutekommen, bis jegliche Unterstützung nationalistischer Kräfte in und Handlungen entgegen der territorialen Integrität und Souveränität von BiH eingestellt und auch zukünftig unterlassen werden. Das gleiche gilt für die anhaltende Nichtanerkennung der Eigenstaatlichkeit des Kosovos durch die Republik Serbien, sodass die Vor-Beitrittsverhandlungen erst dann voranschreiten können, wenn der Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo voranschreitet und in ernsthafte Bemühungen zur Unterzeichnung eines Normalisierungsabkommen münden.
  9. vor diesem Hintergrund jedoch die Intensivierung und Unterstützung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Projekte in Serbien.
  10. Vor diesem Hintergrund die Sanktionierung Kroatiens aufgrund der missbräuchlichen Nutzung europäischer Kanäle zur Unterstützung und des Verfolgens antidemokratischer, völkerrechtswidriger und sezessionistischer Pläne auf dem Westbalkan, insbesondere in BiH, sowie die Einleitung von Schritten, um diesen Missbrauch künftig zu unterbinden. Daher soll sich klar für eine Neubesetzung des Amtes des Erweiterungskommissars ausgesprochen werden und entsprechender Druck ausgeübt werden.
  11. Vor diesem Hintergrund die Etablierung eines Mechanismus im Rahmen einer neu ausgerichteten Westbalkanstrategie, angelehnt an den Konditionalitätsmechanismus, mit welchem die EU Verstöße gegen ihre Grundwerte und insbesondere gegen die Rechtsstaatlichkeit durch das Verhalten von Mitgliedstaaten in ihren außenpolitischen Beziehungen auf dem Westbalkan ahnden können. Dies sollte durch den schrittweisen Entzug der EU-Gelder geschehen, sofern die Konsequenzen der außenpolitischen Beziehungen den finanziellen und ressourcenorientierten Investitionen der EU zuwiderlaufen.
  12. Wir fordern daher eine proaktive Unterstützung des Antrages der Republik Kosovo im Europarat durch einen gezielten Dialog auf europäischer Ebene sowie intensive, diplomatische Anstrengungen hinsichtlich jener Mitglieder im Europarat, die die Eigenstaatlichkeit des Kosovos nicht anerkennen. Zudem fordern wir die proaktive Unterstützung des Antrages der Republik Kosovo für eine EU-Mitgliedschaft!
  13. Wir fordern die Bundesregierung dazu auf, auf internationaler und europäischer Ebene sowie im Kontakt mit BiH und in Zusammenarbeit mit der tschechischen Ratspräsidentschaft auf alternative Möglichkeiten hinzuarbeiten, um die Verlängerung des EUFOR-Mandates sicherzustellen. Eine solche Möglichkeit stellt die Entkoppelung der Mission vom UN-Mandat durch eine offizielle und verbindliche Einladung an die EU durch BiH dar, um die EUFOR-Althea Mission fortzuführen oder eine (Re-)Legitimierung der EUFOR-Mission über Annex 1 des Friedensabkommens von Dayton. Zudem fordern wir die Bundesregierung dazu auf, sich im Falle der Intensivierung der innenpolitischen Spannungen in Bosnien und Herzegowina und von wachsenden Destabilisierungsversuchen Russlands oder andere Akteure für eine Aufstockung der Anzahl von Soldat*innen innerhalb der Friedensmission einzusetzen
  14. Wir fordern die Bundesregierung zudem dazu auf, sich im Falle von Intensivierungen des Konfliktes zwischen der Republik Kosovo und der Republik Serbien an der Abweichung vom Beobachterstatus der NATO im Rahmen des KFOR-Mandates ausdrücklich zu beteiligen und die territoriale Integrität des Kosovos zu wahren
  15. Wir fordern die Unterstützung des Kosovos hinsichtlich der Eigenstaatlichkeit der Republik und seiner Anstrengungen, international anerkannt zu werden. Daher sollen die Bemühungen auf europäischer Ebene gegenüber den EU-Mitgliedstaaten, die den Kosovo nicht als eigenständige Republik anerkennen, intensiviert werden, um die Westbalkanstrategie zwischen den Mitgliedsstaaten zu harmonisieren.
  16. Wir fordern aktive Bemühungen, russische Kanäle zur Destabilisierung des Westbalkan durch ein erhöhtes Engagement in der Region zu schließen
  17. Vor diesem Hintergrund die Einrichtung einer europäischen oder internationalen Monitoring-Gruppe, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit den USA oder anderen Staaten, um russische Destabilisierungsversuche und -aktivitäten zu überwachen und Maßnahmen dagegen zu entwickeln
  18. Vor diesem Hintergrund auf europäischer Ebene gegen russische Desinformationskampagnen auf dem Westbalkan vorzugehen, die antieuropäische Sentiments fördern, Falschinformationen verbreiten und die Stabilität der Region bedrohen, indem russische Propaganda öffentlich enttarnt wird und aktiv ein Zugang zu den lokalen Medien geschaffen wird.
  19. Unabhängige Medien in dieser Region zu fördern. Medienplattformen, die gegen geltendes Recht verstoßen, sind entsprechend zu sanktionieren.