Am 10. März 2021 unterschrieben die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat gemeinsam die Erklärung zur Konferenz zur Zukunft Europas, um einen neuen Prozess zur Auseinandersetzung mit der Zukunft der Europäischen Union und ihrer Institutionen in die Wege zu leiten. Die ursprünglich im Frühling 2019 vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagene Idee zur Konferenz wurde im Sommer 2019 offiziell von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als Teil ihrer politischen Schwerpunkte dem Europäischen Parlament vorgestellt und startete – durch die Corona-Pandemie um ein Jahr verspätet – am 9. Mai 2021.
Die Jahre vor und während der Konferenz waren von unterschiedlichen Krisen geprägt. Sowohl die Finanz-, Euro- und Schuldenkrisen ab 2007, die gescheiterte gemeinsame EU-Asylpolitik im Sommer 2015, das Referendum Großbritanniens zum Austritt aus der EU im Jahr 2016, seit Anfang 2020 die COVID-19-Pandemie, Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 sowie die immer extremer werdenden Auswirkungen der Klimakrise haben die Frage aufgeworfen, ob die EU dazu in der Lage ist, diesen enormen Herausforderungen gerecht zu werden. Durch die Konferenz sollte ein Raum für Diskussionen geschaffen werden, um Vorschläge aus der Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten zu erhalten und den Bürger*innen eine Stimme zu geben.
Die Ziele der Konferenz waren sehr breit gesteckt: die Teilnehmenden diskutierten über mehrere Monate in verschiedenen Formaten und Konstellationen zu den Themen Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Beschäftigung, Demokratie in Europa, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, Klimawandel, Umwelt, Gesundheit, Europa in der Welt sowie Migration. Mit dem Abschlussbericht, der am 9. Mai 2022 vorgestellt wurde, sollten die Ergebnisse des gesamten Prozesses zusammengefasst und sichergestellt werden, sodass die entwickelten Ideen der Konferenz der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament zur weiteren politischen Beratung, Diskussion und Beschlussfindung vorgelegt werden können. Die Konferenz war eine bisher einmalige Möglichkeit, in der Geschichte der EU sich als Bürger*in an der Gestaltung der EU zu beteiligen. Über 50.000 Teilnehmer*innen haben ihre Ideen auf Veranstaltungen oder auf der digitalen Plattform geteilt und mehr als 800 zufällig ausgewählte Europäer*innen haben daraus 49 Vorschläge und mehr als 320 Maßnahmen zu neun Themen erarbeitet.
Die Umsetzbarkeit und politische Erwünschtheit der Vorschläge sowie die Frage, ob für die jeweiligen Vorschläge eine Änderung der EU-Verträge erforderlich ist oder nicht, stellen nun nach Veröffentlichung des Abschlussberichts die wesentlichen politischen Streitpunkte dar. Bis auf 13 Vorschläge ist es möglich alle anderen Ideen, Wünsche, Anregungen und Vorschläge der Zukunftskonferenz innerhalb der geltenden EU-Gesetzgebung und des geltenden EU-Vertrags von Lissabon umzusetzen. Dazu zählen vor allem Vorschläge zu höherer Transparenz und effektiverer Öffentlichkeitsarbeit der EU-Institutionen, mehr sichtbare Bürger*innenbeteiligung, effektivere Marktregulierung und Verbraucher*innenschutz, stärkere und gezieltere Förderung und Ausbau von erneuerbaren Energien, die Schärfung von Klimaschutzgesetzen, die Entwicklung einer gemeinsamen Energieunion und gesamteuropäischer Energienetze, stärkere Finanzmarktregulierung, eine humanitäre und gesamteuropäisch koordinierte Migrationspolitik sowie schärfere Arbeitsschutzgesetze und eine Entwicklung zur Sozialunion. Einige der Vorschläge (vor allem Marktregulierungen und die Öffentlichkeitsarbeit der EU) sind sofort per Anpassung existierender Verordnungen und Regulierungen realisierbar, andere (wie beispielsweise eine gemeinsame humanitäre Migrationspolitik) sind zwar theoretisch ohne Vertragsänderung umsetzbar, unter dem Damoklesschwert der Einstimmigkeit im Rat jedoch wegen konservativen und rechtspopulistischen Vetos politisch kaum umsetzbar.
Die Vorschläge der Zukunftskonferenz, die eine Vertragsänderung voraussetzen, sind im Wesentlichen die Abschaffung der Einstimmigkeit in allen, bzw. umfassenden Politikbereichen und dessen Ersetzung durch Entscheidungen mittels qualifizierter Mehrheit, eine gemeinsame europäische Steuer- und Finanzpolitik, die Einführung europaweiter Referenden, eine weitere Föderalisierung der EU inklusive der Bestärkung des Europäischen Parlaments als vollwertige gesetzgebende Kammer mit Initiativrecht sowie die Umbenennung von EU-Institutionen zur besseren Verständlichkeit. Am 9. Juni hat das Europäische Parlament – mit einer klaren Mehrheit von 355 Stimmen – eine Entschließung angenommen, in der der Europäische Rat aufgefordert wird, das Verfahren zur Überarbeitung der EU-Verträge einzuleiten. Unter den Mitgliedstaaten gibt es derzeit zwei Blocks: einen Block für einen Verfassungskonvent und einen Block gegen jegliche Form von Vertragsänderungen.
Dieser Antrag hat nicht zum Ziel eine umfassende Forderungsliste aufzustellen, welche EU-Reformschritte wir unterstützen und welche nicht. Es gibt bereits eine umfassende Vielzahl an Beschlüssen aus der jüngeren Vergangenheit, die genau formulieren, wie wir uns die Europäische Union vorstellen, welche kurzfristigen Reformschritte wir fordern, welche grundsätzlichen Vertragsänderungen wir für unsere Vision der Vereinigten Staaten von Europa für notwendig halten und wie eine solche Union fußend auf den Grundprinzipien des demokratischen Sozialismus in Abgrenzung zum europäischen neoliberalen Wirtschaftsprojekt des 20. Jahrhunderts und der frühen 2000er Jahre auszusehen hat. Dieser Antrag hat zum Ziel, all diese Forderungen zu bekräftigen und angesichts der aktuellen Diskussion rund um die Zukunftskonferenz und wie mit ihren Ergebnissen umzugehen ist, einen Impuls zu senden: die Zeit für eine grundlegende Neuordnung der EU – inklusive Verfassungskonvent – ist jetzt!
Denn neben den vielen Krisen der letzten Jahre unterstreicht eine andere aktuelle Entwicklung gerade noch zusätzlich, warum eine solche Neuordnung notwendig ist: die wiederbelebte Debatte um die Erweiterung der EU. Im Zuge des russischen Krieges haben die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien EU-Mitgliedsanträge gestellt. Die Länder des Westbalkans (Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Serbien) sehen ihre Beitrittsambitionen infolgedessen ebenfalls mit neuem Leben gefüllt. Wie schwierig es ist, unter der Maßgabe der Einstimmigkeit in einer zunehmend politisch polarisierten EU, in der vor allem Ungarn und Polen von ihrem Vetorecht bei allen nur annähernd progressiv erscheinenden Politikvorschlägen großzügig Gebrauch machen, effektiv Politik zu machen, erleben wir derzeit bereits stark. Möchte die EU mittelfristig ihre Anzahl an Mitgliedsstaaten auf deutlich mehr als 30 erweitern, wird eine zumindest Teil-Abschaffung der Einstimmigkeit und eine deutliche Vertiefung und Weiterentwicklung gemeinsamer Politikbereiche unausweichlich. Will eine erweiterte EU überleben, muss sie sich weiterentwickeln.
Nur mit einem Verfassungskonvent können die Ergebnisse der Zukunftskonferenz ernst genommen und die tatsächlich notwendigen Reformen für das Fortbestehen der EU erzielt werden. Insbesondere die Abschaffung der Einstimmigkeit im Rat und die Aufwertung des Europäischen Parlaments zu einer tatsächlichen Gesetzgebungskammer sind dafür unabdingbar. Der Umgang mit den Ergebnissen der Zukunftskonferenz ist auch für die Demokratie in Europa und der Akzeptanz der EU bei den europäischen Bürger*innen von hoher Bedeutung. Die Zukunftskonferenz ist mit dem Ziel gestartet, die Bürger*innenbeteiligung in der EU zu stärken. Angesichts der weit verbreiteten Ansicht, dass die EU keine ausreichende demokratische Legitimation besitzt und daher unter einem Demokratiedefizit leidet, wäre es ein fatales Signal, wenn die Ergebnisse der Zukunftskonferenz und damit die Forderungen der europäischen Bürger*innen zu keinen konkreten Änderungen führen und stattdessen keine Beachtung finden. Zudem hat sich die Bundesregierung bereits in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass die Konferenz zur Zukunft Europas in einen verfassungsgebenden Konvent münden sollte.
Deswegen fordern wir:
- Die Bundesregierung soll die Einberufung eines europäischen Verfassungskonvent unterstützen und sich im Europäischen Rat aktiv dafür einsetzen. Das Fenster, das sich gerade für tatsächlichen politischen Fortschritt in Europa geöffnet hat, darf nicht ungenutzt bleiben!
- Im Rahmen eines Verfassungskonvents soll die Bundesregierung die für die Umsetzung der Forderungen der Zukunftskonferenz erforderlichen Vertragsänderungen unterstützen. Dazu zählen insbesondere die Abschaffung der Einstimmigkeit sowie die Aufwertung des Europäischen Parlament zu einer tatsächlichen Gesetzgebungskammer mit Initiativrecht.
- Alle weiteren Vorschläge der Zukunftskonferenz, die keiner Vertragsänderung bedürfen und sich mit den Forderungen einer vertieften Europäischen Union im Sinne der demokratisch-sozialistischen Vision der Vereinigten Staaten von Europa decken, sollen schnellstmöglich umgesetzt werden. Dazu zählen insbesondere die Vorschläge zu einem effektiven gesamteuropäischen Arbeitsschutz, dem Ausbau von Rechten europäischer Betriebsräte und europäischer Gewerkschaften, einer gemeinsamen Sozial- und Fiskalunion, einer gemeinsamen Energieunion sowie effektive Regulierungen des Finanzmarktes und der Beschränkung der Marktmacht von Großkonzernen.
- Damit die Konferenz zur Zukunft Europas keine einmalige Beteiligungsmöglichkeit bleibt, muss sich die Bundesregierung für eine regelmäßige Austragung der Konferenz einsetzen.