Antrag 185/I/2018 Rechtschaffenheit kennt keine Altersgrenze – Lehren aus dem „Koblenzer Neo-Naziprozess“

Status:
Annahme

Im Jahr 2012 begann der „Koblenzer Neo-Naziprozess“ gegen die rechtsterroristische Vereinigung Aktionsbüro Mittelrhein am Landgericht Koblenz. Den damals 26 Angeklagten wurde auf über 900 Seiten Anklageschrift u.a. die Bildung einer kriminellen Vereinigung, Körperverletzung und Brandstiftung vorgeworfen. Die Angeklagten sollen Andersdenke bedroht und Hakenkreuze gesprüht haben. Der Hass der angeklagten Nazis soll in gewalttätigen Überfällen gegen Linke gegipfelt haben, wie z.B. auf das linksautonome Wohnprojekt Praxis in Dresden-Löbtau im Februar 2011, auf linke Aktivist*innen beim Verteilen von Flugblättern in Wuppertal im Januar 2011 und in Bad Neuenahr im Mai desselben Jahres.

 

An über 300 Verhandlungstagen wurde reichlich Beweismaterial vorgetragen. Zu einer Verurteilung kam es jedoch nicht. Das Verfahren wurde im Mai 2017 endgültig eingestellt – weil der Vorsitzende Richter laut Landesrichtergesetz wegen Vollendung seines 65. Lebensjahres in Pension treten musste und ein neues Verfahren nicht begonnen wurde. Letzteres wurde damit begründet, dass ein neues Verfahren womöglich zehn Jahre dauern würde und daher unverhältnismäßig lang sei. Zwar hat das Oberlandesgericht Koblenz im Dezember 2017 entschieden, dass der Prozess fortgesetzt werden muss. Da die zuständige Kammer jedoch in neuer Besetzung verhandeln wird, muss die Beweisaufnahme wieder von vorne beginnen.

 

Auch in Berlin treten Richter*innen gem. § 3 Berliner Richtergesetz mit Ende des Monats, in dem sie das 65. Lebensjahr vollendet haben, in den Ruhestand. Dies darf ausdrücklich nicht hinausgeschoben werden. Dass laufende Strafverfahren abgebrochen werden und neu beginnen müssen, weil eine Richterin oder ein Richter pensioniert wird, kommt zwar nicht häufig, aber trotzdem immer wieder vor. Bei der Geschäftsverteilung achten die Gerichtspräsidien auf anstehende Pensionierungen und ergreifen entsprechende Maßnahmen. Dies beruht auf einer Prognose, wie lange bestimmte Strafverfahren wohl dauern werden. Gerade bei unerwartet „komplizierten“ Prozessen kann diese Prognose aber auch falsch sein. Insbesondere im Bereich des Rechtsterrorismus, aber auch bei anderen schweren Gewalttaten schwächen diese Ausnahmefälle das Vertrauen in die Justiz und den Rechtsstaat massiv.

 

Ein Prozessabbruch kann am effektivsten vermieden werden, wenn zu Beginn eines Strafverfahrens eine weitere Richterin oder ein weiterer Richter hinzugezogen wird, der den Prozess nach der Pensionierung seiner Kollegin bzw. seines Kollegen übernehmen kann. Das Institut des Ergänzungsrichters bzw. der Ergänzungsrichterin (§ 192 GVG) wird aufgrund knapper personeller Ressourcen und der hohen Belastung der Gerichte jedoch nur selten genutzt.

 

Um Prozessabbrüche vollständig zu vermeiden, fordern wir daher:

  1. Eine deutliche Verbesserung der personellen Ausstattung der Gerichte – nicht nur in der Strafgerichtsbarkeit. Dazu gehört die Schaffung zusätzlicher Richter*innenstellen, aber auch zusätzliches Personal in den Geschäftsstellen. Die Hinzuziehung einer Ergänzungsrichterin oder eines Ergänzungsrichters darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil gerade keine personellen Kapazitäten dafür vorhanden sind.
  2. Eine Änderung des § 192 GVG. Bisher heißt es dort, dass Ergänzungsrichter*innen bei Verhandlungen längerer Dauer hinzugezogen werden können. Der Wortlaut soll zukünftig lauten: „Unter Berücksichtigung der Zahl der Angeklagten und des Umfangs einer Sache sollen Ergänzungsrichter[*innen] bestellt werden“.
  3. Der Landesgesetzgeber soll darüber hinaus prüfen, ob § 3 des Berliner Richtergesetzes um eine Ausnahmeregelung ergänzt werden kann, die Richter*innen in bestimmten Fällen ein Hinausschieben ihrer Pensionierung ermöglicht, ohne das Recht auf den gesetzlichen Richter anzutasten. Es muss sichergestellt sein, dass die Justizverwaltung, welche über die Verlängerung zu entscheiden hat, den Vorgang nicht dazu nutzen kann, die Besetzung eines Spruchkörpers zu beeinflussen.

 

Empfehlung der Antragskommission:
Annahme in der Fassung der AK (Konsens)
Fassung der Antragskommission:

Um Prozessabbrüche vollständig zu vermeiden, fordern wir:

  1. Eine deutliche Verbesserung der personellen Ausstattung der Gerichte – nicht nur in der Strafgerichtsbarkeit. Dazu gehört die Schaffung zusätzlicher Richter*innenstellen, aber auch zusätzliches Personal in den Geschäftsstellen. Die Hinzuziehung einer Ergänzungsrichterin oder eines Ergänzungsrichters darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil gerade keine personellen Kapazitäten dafür vorhanden sind.
  2. Eine Änderung des § 192 GVG. Bisher heißt es dort, dass Ergänzungsrichter*innen bei Verhandlungen längerer Dauer hinzugezogen werden können. Der Wortlaut soll zukünftig lauten: „Unter Berücksichtigung der Zahl der Angeklagten und des Umfangs einer Sache sollen Ergänzungsrichter[*innen] bestellt werden“.
  3. Der Landesgesetzgeber soll darüber hinaus prüfen, ob § 3 des Berliner Richtergesetzes um eine Ausnahmeregelung ergänzt werden kann, die Richter*innen in bestimmten Fällen ein Hinausschieben ihrer Pensionierung ermöglicht, ohne das Recht auf den gesetzlichen Richter anzutasten. Es muss sichergestellt sein, dass die Justizverwaltung, welche über die Verlängerung zu entscheiden hat, den Vorgang nicht dazu nutzen kann, die Besetzung eines Spruchkörpers zu beeinflussen.

 

Rest wird Begründung

Stellungnahme(n):
Beschluss des Bundesparteitages 2019: Überwiesen an SPD-Parteivorstand 
Überweisungs-PDF: