Schätzungen zufolge ist jede dritte Frau einmal im Leben von sexualisierter Gewalt betroffen. Gleichzeitig wird in Deutschland nur eins von 20 Sexualdelikten zur Anzeige gebracht. Die Gründe hierfür sind vielfältig, schließlich befinden sich die Betroffenen in einer Ausnahmesituation. In dieser Situation muss die Polizei als vertrauensvolle Partnerin bei der Aufklärung und Verfolgung sexualisierter Gewalt von den Betroffenen jener wahrgenommen werden. Eine Wahrnehmung, die es derzeit aufgrund der Strukturen nicht zu geben scheint:
Die Berliner Polizei hat für den Begriff „sexualisierte Gewalt“ weder eine Legal- noch sonstige allgemein anerkannte Definition. Auch werden Daten bzgl. der Geschädigten erst ab dem Jahr 2005 erhoben. Diese Daten beziehen sich ausschließlich auf die Delikte nach § 177 und § 178 StGB, also den Tatbeständen des sexuellen Übergriffes, der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung. Zwar wird teilweise auf Daten von polizeiexternen Anbietern zurückgegriffen, ohne dass eine statistische Erfassung solcher Taten unterhalb der Schwelle der genannten Delikte erfolgen würde. Der Berliner Polizei fehlt ein grundsätzliches und strukturelles Verständnis über sexualisierte Gewalttaten. Deswegen ist die Polizei oftmals unfähig Erfahrungsberichte rechtlich einzuordnen und gegenüber den Betroffenen eine Aussage zu treffen, ob es sich aus rechtlicher Sicht um sexualisierte Gewalt handelt oder nicht.
Auch in der polizeilichen Ausbildung wird der Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt nur “grundsätzlich” behandelt. Umfangreichere Lehrinhalte erstrecken sich ausschließlich auf den Themenbereich „häusliche Gewalt“. Eine umfassende Schulung im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt findet nicht statt. Auch bestehen keine speziellen Fortbildungsangebote.
In vielen Fällen werden Betroffene nicht nur durch die Taten selbst, sondern auch durch die Reaktionen der Strafverfolgungsbehörden traumatisiert. Gründe für diese sogenannte sekundäre Viktimisierung sind ein mangelndes Einfühlungsvermögen, Bagatellisierungen, Äußerungen von Zweifel, Mitschuldvorwürfe und Parteiergreifung für den Täter. In vielen Fällen betreibt die Polizei sekundäre Viktimisierung und verhindert auf diesem Weg eine effektive Verfolgung von sexualisierter Gewalt. Wegen solcher Erfahrungen und fehlenden Vertrauens sehen viele Betroffene von einer Anzeige ab. Die fehlende Kenntnis der Polizei über sexualisierte Gewalt und die fehlende Qualifizierung der Polizei im Umgang mit den Betroffenen leistet diesen Tendenzen weiter Vorschub.
Berlin hat gemeinsam im „Berliner Netzwerk gegen sexuelle Gewalt“ einen Integrierten Maßnahmenplan (IMP) beschlossen. Allerdings fallen nur vier der 126 Maßnahmen in den Bereich der Strafverfolgung. Auch aus der Perspektive des Netzwerks handelt es sich also um “ein vergleichsweise kleines Interventionsgebiet” das “ausbaufähig” ist. Vor dem Hintergrund der Istanbul-Konvention „sei absehbar, dass das Handlungsfeld durch weitere Maßnahmen ergänzt“ werden muss. Vor diesem Hintergrund ist der Umstand, dass es nach wie vor nur vier Maßnahmen im Bereich der Strafverfolgung gibt, untragbar.
Es kann festgehalten werden, dass die Berliner Polizei strukturell nicht in der Lage ist, sexualisierte Gewalt adäquat zu verfolgen.
Unser Ziel muss es sein, dass die Polizei von den Betroffenen als Partnerin bei der Aufklärung von sexualisierter Gewalt wahrgenommen wird. Betroffene müssen auf Strukturen treffen, die sie ermutigen sexualisierte Gewalt zur Anzeige zu bringen. Es braucht für die Beteiligten die Sicherheit, dass es zu einer ernsthaften, umfangreichen und opferorientierten Aufklärung und Verfolgung der Delikte kommt. Dazu muss die Polizei auch strukturelle Kenntnisse über diesen Deliktsbereich gewinnen und ihr Personal insbesondere im Umgang mit den Betroffenen geschult werden. Eine Traumatisierung von Opfern durch die Polizei im Rahmen der Strafverfolgung ist in unserem Rechtsstaat untragbar!
Deshalb fordern wir die sozialdemokratischen Mitglieder im Senat und Abgeordnetenhaus auf, im Rahmen des IMP den Maßnahmenkatalog auszuweiten und insbesondere die Polizei im Umgang mit Opfern von sexualisierter Gewalt zu schulen. Dazu fordern wir:
- Die Entwicklung einer Definition des Begriffs der sexualisierten Gewalt die bereits unterhalb der strafrechtlichen Delikte nach § 177 und § 178 StGB ansetzt. Bei der Erarbeitung dieser Definition sollen zivilgesellschaftliche Initiativen (im breiten Spektrum des Themenbereiches), wissenschaftliche Expertisen und GDP mit eingebunden werden. Ziel ist es, durch diesen Prozess die strukturelle Sensibilisierung der Polizei zu erhöhen und eine effektive und rechtssichere Verfolgung zu ermöglichen.
- Eine umfassende Erfassung und anonymisierte Veröffentlichung der angezeigten Fälle von sexualisierter Gewalt auf der Grundlage der entwickelten Definition. Daneben soll in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft eine umfassende Dunkelfeldstudie durchgeführt, um tiefergehende Erkenntnisse über diesen Deliktsbereich zu gewinnen.
- Die Erstellung eines Leitfadens für den Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt. Durch den falschen Umgang der Polizei mit Betroffenen kann es zu einer sekundären Viktimisierung kommen, die neben der eigentlichen Straftat, weiteren psychische Schäden hervorruft. Stattdessen soll Vertrauen bei den Betroffenen geschaffen und eine zügige und umfangreiche Beweissicherung vorgenommen werden.
- Beim Fachdezernat LKA 13, das für die Bearbeitung von Sexualdelikten zuständig ist, soll eine zentrale und transparente Möglichkeit geschaffen werden, Sexualdelikte zur Anzeige zu bringen. Betroffene müssen die Sicherheit haben, dass ihre Anzeige von geschultem Personal aufgenommen und bearbeitet wird. Daneben soll den Anzeigenden ein Anspruch eingeräumt werden, die Anzeige vor gleichgeschlechtlichen Beamten aufgeben zu dürfen. Zudem soll sichergestellt sein, dass zur Betreuung der Betroffenen der psychosoziale-Notdienst hinzugezogen wird. Ziel beider Maßnahmen ist es die Bereitschaft zu erhöhen, sexualisierte Gewalt zur Anzeige zu bringen.
- Das Thema sexualisierte Gewalt und insbesondere der Umgang und die Kommunikation mit Betroffenen soll verpflichtender Bestandteil der polizeilichen Ausbildung werden. Die Ausbildung soll insbesondere die richtige Anwendung des Leitfadens sicherstellen und auf eine Vermeidung von sekundärer Viktimisierung abzielen. Dabei soll das Thema einen Umfang aufweisen, wie die Module zur „häuslichen Gewalt“ und mit diesen verzahnt werden.
- Die Einführung spezieller verpflichtender Fortbildungsangebote, um auch Polizist*innen für sexualisierte Gewalt und den Umgang mit Betroffenen zu sensibilisieren, die ihre Ausbildung bereits abgeschlossen haben. Insbesondere Polizist*innen die in ihrem Einsatzgebiet potenziell auf Betroffene treffen, sollen prioritär Fortbildungen angeboten werden. Ein Schwerpunkt soll darauf liegen, Polizist*innen zu schulen, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, ohne die Glaubhaftigkeit der Betroffenen zu bezweifeln.
- Es sollen im Rahmen des Berliner Netzwerks gegen sexualisierte Gewalt zivilgesellschaftliche Institutionen gestärkt werden, die als Anlauf- und Beratungsstelle neben der Polizei dienen. Ziel ist es mit ergänzenden niedrigschwellige Angeboten Opfer auf den Weg zu einer Anzeige zu begleiten. Dafür soll geprüft werden inwieweit einzelne Beweissicherungsmaßnahmen von diesen Stellen rechtssicher vorgenommen werden können. Die Bekanntheit solcher Anlauf- und Beratungsstellen soll stadtweit gesteigert werden.
- Der unabhängige Büger*innen und Polizeibeauftrage beim Berliner Abgeordnetenhaus soll auch für Beschwerden gegen sekundäre Viktimisierung durch die Polizei sensibilisiert werden.