Stell dir vor, du arbeitest in Berlin und musst mit einem*einer Chef*in in Madrid verhandeln, der*die neue Regeln für das gesamte Unternehmen durchsetzen will. Du kämpfst für bessere Arbeitsbedingungen, aber ständig hörst du: „Keine Extrawurst für euch!“ Am Ende kommt oft nur der kleinste gemeinsame Nenner heraus – weit entfernt von echten Verbesserungen. Dieses Verhandlungschaos erschwert nicht nur die Verbesserung der Arbeitsbedingungen vor Ort, sondern auch die demokratische Beteiligung aller Kolleg*innen. Egal ob mit oder ohne eigene Vertretung, der aktuelle Zustand bremst die Mitbestimmung der Arbeitnehmer*innen in der gesamten EU.
Arbeitnehmer*innenvertretungen müssen immer häufiger nach jeweiligem, örtlich geltendem Recht mit Geschäftsführer*innen verhandeln, die in einem anderen Mitgliedstaat sitzen und Vereinbarungen anstreben, die grenzüberschreitende Normen im gesamten Unternehmen setzen würden.
Arbeit verändert, digitalisiert und europäisiert sich. In vielen Branchen ist die Arbeit nicht mehr zwingend ortsgebunden und Unternehmen organisieren sich zunehmend über Staatsgrenzen hinaus. Transnational arbeitende Teams sowie Fern- und Telearbeit gehörten auch vor der COVID-19-Pandemie für viele schon zur Arbeitsnorm, haben sich seitdem aber immer weiter verbreitet.
Es gehört nach Jahren der europäischen Wirtschaftsintegration längst zum Arbeitsalltag, dass Unternehmen mehrere selbstständige oder voneinander abhängige Betriebe in mehreren EU-Mitgliedstaaten unterhalten.
Die betriebliche Mitbestimmung in unserem zunehmend transnational organisierten und europäisch ausgerichteten Arbeitsalltag steckt voller Herausforderungen. Die EU steht hier auf dem Prüfstand und zeigt deutliche Schwächen und Lücken. Während die Wirtschaftsintegration voranschreitet und die institutionellen Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Integration von Unternehmen kontinuierlich ausgebaut werden, hinkt die EU bei sozialen Fragen hinterher. Es fehlen dringend notwendige, grenzüberschreitende Mitbestimmungsregeln, um die Demokratie auch im europäischen Arbeitsalltag zu verankern.
Die aktuelle Form der Arbeitnehmer*innenvertretung im europäischen Kontext ist der Europäische Betriebsrat (EBR), welcher ein Gremium zur Unterrichtung und Anhörung in grenzüberschreitend tätigen Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten und jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer*innen in mindestens zwei Mitgliedstaaten darstellt. Ein EBR ist allerdings kein Betriebsrat im Sinne der deutschen Betriebsverfassung und hat keine Mitbestimmungsrechte. Ein Betriebsrat hat hingegen als gewählte Interessenvertretung der Arbeitnehmer*innen in einem Betrieb Mitbestimmungsrechte, einige deren erzwingbar, in verschiedenen Bereichen wie Arbeitszeit- und Lohngestaltung, Personalmaßnahmen und sozialen Angelegenheiten. In diesem Kontext erschweren die extrem hohen Hürden für die Gründung eines EBRs sowie die begrenzten Rechte des Gremiums die betriebspolitische Praxis für Arbeitnehmer*innenvertretungen, die grenzüberschreitend zusammenarbeiten und somit ihre Projekte voranbringen möchten.
Der EBR wurde durch die europäische Betriebsratsrichtlinie vom 22. September 1994 ins Leben gerufen, die am 6. Mai 2009 novelliert wurde. Die Arbeitswelt in vielen Sektoren sieht allerdings längst nicht mehr wie in den 90er und 00er Jahren aus. Das Europäische Parlament stimmte im Februar 2023 für einen legislativen Initiativbericht, um die Europäische Kommission aufzufordern, die aktuellste Richtlinie zu überarbeiten, um unter anderem Informationsrechte und Durchsetzungsmöglichkeiten der EBRs zu stärken. Echte Mitbestimmung ist für europäische Betriebsräte in transnationalen Konzernen aber nicht vorgesehen.
Die europäische Politik verschläft seit Jahren die Chance, die transnationale Mitbestimmung an die Realität des transnationalen Arbeitens und Unternehmens im heutigen Europa anzupassen und das Recht auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Vertretungsorgane auch für Mitarbeiter*innen kleiner und mittelständischer Unternehmen zu erweitern. Mitbestimmung zu stärken hilft dabei, politischer Apathie entgegenzuwirken, das politische Interesse der Beschäftigten zu steigern und so demokratische Prozesse zu stabilisieren. In einem Europa, wo Rechte auf dem Vormarsch sind, ist die Mitbestimmung auch als wirksame antifaschistische Gegenmaßnahme zu verstehen und sollte dementsprechend dringend eingeführt werden.
Wir fordern daher:
- Eine weitreichende Novelle der europäischen Betriebsratsrichtlinie, um transnationale Mitbestimmungsrechte einzuführen.
- Die Senkung der erforderlichen Beschäftigtenzahl für die Gründung eines europäischen Betriebsrats auf 100 und jeweils 15 Arbeitnehmer*innen in mindestens zwei Mitgliedstaaten.
- Eine Verpflichtung für die Geschäftsführung von staatenübergreifend tätigen Unternehmen mit mindestens 200 Mitarbeiter*innen, solang kein EBR existiert, einmal im Jahr eine Versammlung der agierenden Vertretungsorganen einzuberufen, geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, die betroffene Kolleg*innen für die Versammlung freizustellen sowie die daraus entstehenden Reisekosten zu übernehmen. Die Ausgestaltung, Organisation und Leitung der Versammlung ist den Vertreter*innen der nationalen Mitarbeiter*innenvertretung oder in Ermangelung solcher Vertreter*innen der jeweiligen nationalen Gewerkschaften zu übertragen.
- Den daraus resultierenden Betriebsrat mit den Zuständigkeiten auszustatten, die nach deutschem Gesetz einem Gesamtbetriebsrat zur Verfügung stehen. Das heißt, dass der EBR für die Behandlung von Angelegenheiten zuständig sein soll, die das Gesamtunternehmen oder mehrere Betriebe betreffen und nicht durch die einzelnen Vertretungsorgane innerhalb ihrer Betriebe geregelt werden können. Seine Zuständigkeit soll sich insoweit auch auf Betriebe ohne Betriebsrat und Betriebe in Ländern ohne Vertretungsorgane nach national geltendem Recht erstrecken. Er wäre den einzelnen Vertretungsorganen nicht übergeordnet.
- Dass das genaue Ausmaß der Beteiligungsrechte des EBRs nach dem Recht im anwendbaren Mitgliedstaat gerichtet wird, welches die umfassendsten Gegenstände der Mitbestimmung und somit Gestaltungsspielraum vorsieht. Bei einer Gründung eines deutsch-französischen EBRs würde dann beispielsweise das deutsche BetrVG Vorrang haben.
- Eine Verpflichtung im Vergabeverfahren der Europäischen Kommission und ihrer untergegliederten Agenturen, ausschließlich an Unternehmen mit betrieblicher Mitbestimmung Aufträge zu vergeben.