Ursprungsüberschrift: Folgen abzumildern reicht nicht – die Agenda 2010 muss weg!
Agenda 2010 einer der größten Fehler der Sozialdemokratie
Wir müssen als SPD die Agenda 2010 endlich in ihrer Gesamtheit als Fehler einräumen. Eine vorsichtige Distanzierung reicht nicht. Die Ankündigung des Kanzlerkandidaten Martin Schulz vom Ende Februar und Anfang März 2017, den ALG I-Bezug nach längerer Erwerbstätigkeit zu verlängern reicht nicht. Die gesamte Agenda 2010 ist das Produkt einer um sich greifenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche auf der Basis einer umfassenden kapitalistischen Verwertungslogik. Sie hat zwei Dinge gebracht: mehr soziale Ungleichheit für die Gesellschaft und das Gefängnis der Armut für viele.
Zu diesem Fehler zählt nicht nur die Agenda 2010-Reform selbst, sondern eben auch die durch die damalige rot-grüne Bundesregierung befeuerten Vorurteile. Der Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstellte (Langzeit-) Erwerbslose im großen Maßstab Faulheit. Mit dem Ausspruch „Es gibt kein Recht auf Faulheit“ signalisierte Schröder stellvertretend für die SPD, dass die Erwerbslosen selbst schuld seien. Diese Aufgabe sozialdemokratischer Grundüberzeugungen ist bis heute nicht eingestanden.
Bisher fehlt eine Kurskorrektur
Ihre Architekt*innen glaubten wahrscheinlich wirklich über harte arbeitnehmer*innenfeindliche Reformen würden Einnahmen generieren und den Sozialstaat stabilisieren, ohne dass Vermögende angetastet werden müssten. Diese Naivität ist ein Problem, dass die SPD bis heute nicht wirklich daraus gelernt hat das größere. In allen Koalitionen – einschließlich der beiden Grokos nach den Agenda-Reformen führten die Bundesregierungen mit und ohne SPD den Kurs weiter. Das Ergebnis: expandierende soziale Ungleichheit.
Paradigmenwechsel – mehr als der Mindestlohn
Immer wieder betonen Vertreter*innen der SPD, dass die Agenda richtig gewesen wäre, um die Stagnation zu überwinden – nur die Folgen seien unvorhersehbar und unschön. Dass die Folgen schwerwiegend waren, ist richtig – der Rest falsch. Genauso wenig ist der Mindestlohn das Mittel, um die Folgen insbesondere der Hartz-Reformen der Agenda 2010-Politik zu beseitigen. Er federt die Entwicklung ab, dass Menschen in prekäre Niedriglohnjobs werden und eine gewerkschaftliche Vertretung enorm erschwert ist. Ähnliches gilt für die vorsichtigen Schritte, die Leiharbeit einzudämmen.
Fortsetzung der Agenda-Politik in der Groko
Wie fällt die Bilanz der Groko unter sozialdemokratischen Mitwirken aus? Ernüchternd. Die gesamte Bundesregierung hat den Export der Agenda-Politik fortgesetzt: In Griechenland setzte sie mit ihrer Austeritätspolitik eine unerbittliche Deregulierung samt Sozialstaatsabbau durch. Damit gab die SPD wieder etwas mehr Raum für eine solidarische Politik auf. In Zeiten der Globalisierung wird es überall schwerer Sozialstandards (erneut) zu erkämpfen, wenn sie woanders aufgegeben werden. Leider hat die Bundesarbeitsministerin es noch nicht einmal probiert, Sozialstaat zurückzugewinnen – im Gegenteil.
Hartz IV sogar noch verschärft
Andrea Nahles hat im Sommer 2016 die Sanktionspraxis verschärft: Eine Folge war es nun, dass „sozialwidriges Verhalten“ nun auch rückwirkend sanktioniert werden könne. Die Möglichkeiten zur juristischen Gegenwehr werden zusätzlich noch eingeschränkt. Das Ergebnis ist, dass die Zahl der sanktionierten Menschen wieder steigt. Davon in einem Drittel aller Fälle auch Kinder betroffen. Die verschärfen Bedingungen für unter 25jährige bestehen immer noch. Zu diesen Maßnahmen fand weder eine größere öffentliche noch eine SPD-interne Debatte statt.
Eine verheerende Bilanz
Positive Ansätze existierten in der Agenda 2010 nur in homöopathischen Ansätzen. Sie sind in vielen Fällen auch nur halbherzig umgesetzt. Die Ganztagsschulen erhielten zwar Förderungen, aber haben bis heute nicht das angestrebte Niveau erreicht. Generell ist von den angekündigten Bildungsinvestitionen nicht viel übriggeblieben und der Betreuungsausbau kaum ebenfalls verzögert.
Dem richtigen Schritt, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen, stand eine massive Palette an verheerenden Maßnahmen gegenüber. Das harte Sanktionsregime ist per se nicht mit einem menschenwürdigen Umgang vereinbar. Zudem eröffnet es auch noch der Willkür Tor und Tür, wie die hohe Zahl erfolgreicher Klagen zeigen. Die niedrigen ALG II-Sätze selbst sichern keinesfalls eine sozio-kulturelle Teilhabe und ein Skandal für sich.
Dieser Druck auf die Arbeitnehmer*innen verstärkte die damalige Bundesregierung mit einer Maßnahmenpalette, um Arbeitsverhältnisse zu „flexibilisieren“. Darunter sind Fördermaßnahmen für Ausbeutung wie 1-Euro-Jobs, Ich-AG und Leiharbeit zu verstehen. Der dezimierte Kündigungsschutz rundete das Vorgehen ab.
Die ganze Reihe an Begleitmaßnahmen ist teilweise in Vergessenheit geraten: Arbeitgeber*innen sind einseitig entlastet worden – während Arbeitnehmer*innen belastet worden. Fast allen Bereichen des Sozialstaates sind in dieser Phase destabilisiert worden: von der Altersversorgung bis zu den Krankenkassen. Dass die Praxisgebühr wieder abgeschafft wurde, war nur der FDP zu verdanken. Der Sozialstaat wurde teilweise aktiv privatisiert.
Deshalb fordern wir den Kanzlerkandidaten und die gesamte Parteispitze zur endgültigen Abkehr von der Agenda-Politik auf. Dafür sind folgende Schritte schon für das kommende Wahlprogramm als Mindeststandards unverzichtbar:
- Sofortiger Stopp der Sanktionen – einschließlich der verschärften Maßnahmen gegen junge Menschen
- Anhebung des ALG II-Satzes auf das vom Paritätischen Wohlfahrtsverband geforderte Niveau, um sozio-kulturelle Teilhabe zu sichern
- Bezugsdauer des ALG I und Vermögensfreibeträge für ALG II bei allen Altersgruppen anheben
- Arbeitsverhältnisse absichern: Kündigungsschutz wieder stärken, Zeitarbeit und andere befristete Arbeitsverhältnisse weitereinschränken
- Paritätische Finanzierung der Sozialabgaben wiederherstellen, also den Arbeitgeber*innen-Anteil anheben
- Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Krankenversorgung und den fixen Selbstkostenanteil abschaffen sowie eine umfassende Bürger*innenversicherung einführen
- Über Vermögen, Erbschaften und höhere Einkommen viel stärker zur Finanzierung des Sozialstaates heranziehen
Das größte Armutsprogramm in der Geschichte der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland muss mit der gleichen Energie, wie es eingeführt wurde, beseitigt werden.
Wir begrüßen die Vorschläge des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz zu einer Reform der Hartz-Gesetzgebung durch ein „Arbeitslosengeld Q“. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Wir müssen das Vertrauen der Bevölkerung in die SPD als Kraft der sozialen Gerechtigkeit zurückgewinnen. Darüber hinaus sind folgende Schritte schon für das kommende Wahlprogramm als Mindeststandards unverzichtbar:
- Sofortiger Stopp der Sanktionen – einschließlich der verschärften Maßnahmen gegen junge Menschen
- Anhebung des ALG II-Satzes auf das vom Paritätischen Wohlfahrtsverband geforderte Niveau, um sozio-kulturelle Teilhabe zu sichern
- Bezugsdauer des ALG I und Vermögensfreibeträge für ALG II bei allen Altersgruppen anheben
- Arbeitsverhältnisse absichern: Kündigungsschutz wieder stärken, Zeitarbeit und andere befristete Arbeitsverhältnisse weitereinschränken
- Paritätische Finanzierung der Sozialabgaben wiederherstellen, also den Arbeitgeber*innen-Anteil anheben
- Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Krankenversorgung und den fixen Selbstkostenanteil abschaffen sowie eine umfassende Bürger*innenversicherung einführen
- Über Vermögen, Erbschaften und höhere Einkommen viel stärker zur Finanzierung des Sozialstaates heranziehen