Der SPD Landesvorstand wird aufgefordert gemeinsam mit den Gliederungen der Partei und den sozialdemokratischen Mitgliedern des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen sowohl eine umfassende positive Vision, als auch in Eckpunkten ein ambitioniertes und gleichwohl umsetzbares Konzept zu entwickeln, wie der Sozialstaat für Menschen in Berlin künftig deutlich positiver wahrgenommen werden kann.
Ziel muss es sein, Bürgerinnen und Bürgern mehr Orientierung zu geben über bestehende Leistungssysteme, die Beratung damit immer Ergebnis in höherer Qualität für mehr Menschen zu gewährleisten, die Verständlichkeit des Verwaltungshandelns und damit von Anträgen und Bescheiden zu erhöhen. Die Sozialverwaltung sollte künftig mehr als Partner des Bürgers wahrgenommen werden, dazu bedarf es einer stärkeren Dienstleistungsorientierung. All dies lebt letztlich von den Personen „auf der anderen Seite des Tisches“, den Menschen, die in der Sozialverwaltung arbeiten.
Diese Leitplanken einer Vision beschreiben die Handlungsfelder. Darin zeichnen sich bereits mögliche Eckpunkte eines späteren Konzeptes ab:
1. Orientierung geben und Beratung verbessern: „Sozialberatung im Kiez“
In der grundsätzlichen Vision sollte für Menschen, welche nach Unterstützung suchen, möglichst niedrigschwellig Angebote bestehen, um sich kundig zu machen, welche Leistungen des Sozialstaats überhaupt für sie in Frage kommen könnten. Entsprechend bedarf es einer wohnortnahen Bereitstellung mit Anlaufstellen im eigenen Kiez („Sozialberatung im Kiez“). Bei Bedarf muss auch ein aufsuchender Dienst, der bei Wunsch auch in die Wohnung kommt, eine Möglichkeit sein.
In der Vision sollte der Gedanke von „One-Stop-Shops“ dabei leitend sein sollte, d.h. Anlaufstellen, wo es nicht nur die Möglichkeit der umfassenden Beratung zu (möglichst) allen Sozialleistungen gibt, sondern auch Hilfe bei Beantragung bis hin zur Antragsabgabe (und ggf. Im weiteren Antragsprozess, wie Erläuterung von Bescheiden). In der Fachwelt wird dieser Forderung oft entgegengehalten, dass dies nicht leistbar sei, da es unmöglich sei, Personal zu finden bzw. auszubilden, welches derart umfassend in allen entsprechenden gesetzlichen Regularien qualifiziert sein könne. Diese Bedenken sind zwar nachvollziehbar, allerdings bedarf es in der ersten Stufe nicht denselben Kenntnissen wie in einer Leistungssachbearbeitung im Hintergrund. Pate stehen sollten hier tendenziell eher unabhängige Sozialberatungen, wie sie bereits vereinzelt im Land Berlin angeboten werden.
Eine in jedem Fall umsetzbare Variante wären „First-Stop-Shops“, also Anlaufstellen, wie „One-Stop-Shops“ mit einer umfassenden Erstberatung für möglichst viele mögliche Sozialleistungen, in denen u.U. dann aber an andere Stellen weiter verwiesen werden muss. Die Vielzahl der künftigen Sozialberatungen im Stadtteil könnten auch verschiedene Profile entwickeln, wo diese besondere Beratungsschwerpunkte haben, also eine vertiefte Beratung (und damit Antragsaufnahme, Antragsannahme und Begleitung im Prozess) gewährleisten können.
Flankierend informieren über die Sozialberatungen und ggf. Schwerpunkte könnte hier ein Online-Portal (in Anlehnung an die Idee des Portals Familie des Landes Berlin).
Ein wichtiger Baustein sind hier die Versicherungsämter. Vor über 100 Jahren hat der Gesetzgeber die kommunale Ebene verpflichtet unterste Verwaltungsbehörden als Versicherungsämter einzurichten. Diese leisten schon heute einen wichtigen Beitrag bei der Beratung von Menschen, welche Leistungen der Sozialversicherungen (insbesondere Rentenversicherung) beantragen wollen, aber beraten im Rahmen ihrer Kapazitäten auch darüber hinaus. Sie arbeiten unabhängig und können gleichzeitig, da sie selbst Behörde sind, für die Beratenen Kontakt mit den entsprechenden Trägern aufnehmen um Sachverhalte aufzuklären. Hier schlummert ein großes Potential. Gegenwärtig sind die Versicherungsämter gemäß Zuständigkeitskatalog dem Land zugewiesen und völlig unterausgestattet. Eine Verlagerung auf die Bezirksebene und in die Rathäuser, in Verbindung mit angemessener Personalausstattung wäre ein erster wichtiger Schritt.
2. Sozialverwaltung verständlich machen
Es muss für Menschen möglich sein, Sozialverwaltung auch ohne Verwaltungsausbildung (und auch möglichst ohne „Übersetzung durch eine Sozialberatung“) zu verstehen. Gegenwärtig ist dies in den meisten Fällen nicht gegeben. Dadurch entwickelt sich Ohnmacht, Frust bis hin zu Misstrauen gegenüber den staatlichen Stellen der Leistungsgewährung. Hier lohnt sich ein Blick auf die Entwicklungen im Bereich der Politik für Menschen mit Beeinträchtigungen. Inzwischen besteht Konsens, dass es Ziel sein müsse, Systeme möglichst barrierefrei, zumindest barrierearm zu gestalten. Dazu gehört insbesondere die Sprache. Dies sollte eine gewinnbringende Richtschnur sein um die Sozialverwaltung für alle Menschen verständlicher zu machen. Einfache und leichte Sprache sind das Ziel. Aber selbst wenn zwei Versionen vorgehalten werden, sollte nicht eine in einfacher Sprache und die andere in Verwaltungsjurist*innen-Sprache sein. Die Mindestanforderung muss immer „verständliche Sprache“ sein. Es gibt Kommunen, die es vorgemacht haben, dass es sehr wohl möglich ist, Antragsformulare und Bescheidtexte verständlich zu gestalten, ohne das nachvollziehbare Ziel der Rechtssicherheit zu opfern. Es ist ein Kraftakt die Vielzahl an Formularen und Textbausteinen zu überarbeiten und Personal entsprechend zu schulen, der längerer Zeit bedarf. Umso wichtiger ist es jetzt damit zu beginnen und einen ambitionierten aber realistischen Plan der Umsetzung zu entwickeln.
3. Die Sozialverwaltung als Partnerin und Dienstleisterin
Sowohl die Sozialberatung im Kiez als auch alle anderen ausführenden Stellen der Sozialverwaltung müssen mittelfristig eine deutliche (stärkere) Dienstleistungsorientierung entwickeln und im Ergebnis als „Partnerin der Bürgerinnen und Bürger“ fungieren. Das (zwar nachvollziehbare aber doch schädliche) „Silodenken“ der Sozialverwaltung heute, wo sich jede Stelle auf ihren Bereich beschränkt, muss der Vergangenheit angehören. Dort wo Menschen ergänzend innerhalb oder außerhalb eines jeweiligen Leistungssystems zusätzliche Ansprüche haben könnten, sind sie dahingehend zu beraten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen sich dazu in die Schuhe der Leistungsberechtigten stellen und deren Lebenssituation umfassend betrachten und dahingehend beraten. Dies gilt insbesondere dort, wo ein Leistungsbezug endet und gerade dadurch neue / andere Leistungen relevant werden könnten (z.B. Ende des Bezugs von Arbeitslosengeld II durch Arbeitsaufnahme, anschließend mögliche Ansprüche auf Kinderzuschlag und/oder Wohngeld; damit einhergehend andere Träger für Beantragung von Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets). In einem ersten Schritt könnte hier regelmäßiger Verweis auf das oben angesprochene Portal helfen, möglichst in Verbindung mit entsprechend an Lebenslagen orientierten Einstiegsseiten („Geringe Einkommen“, „Familie und Kinder“, „Menschen mit Beeinträchtigungen“ usw.).
Bisher scheitern viele Anträge oft auch an der Vielzahl an Daten die erhoben und Nachweisen die erbracht werden müssen. Eine Sozialverwaltung mit Dienstleistungsorientierung schickt Antragsteller*innen nicht mehr durch die Stadt um Unterlagen einzusammeln und Bescheinigungen verschiedener anderer Stellen einzuholen. Es ist ein System zu erarbeiten, wo es Antragsteller*innen ermöglicht wird, die Behörden zu ermächtigen, einmalig für den jeweiligen Zweck die benötigten Daten (z.B. Arbeitseinkommen, Bescheinigungen der Krankenkasse usw.) intern unmittelbar von den jeweiligen anderen Stellen abzurufen bzw. einzuholen. Dies stellt eine nicht zu unterschätzende Unterstützung für die Bürgerinnen und Bürger dar.
Sozialverwaltung als Partner ist auch dann gelungen, wenn die Zahl der Widersprüche und Klagen deutlich zurückgegangen ist. Leistungsentscheidungen und -bescheide, die nicht den Wünschen der Antragsteller*innen entsprechen, müssen damit verständlich und nachvollziehbar sein. Zusätzlich bedarf es Stellen der Unterstützung bei der Aufklärung ob Widersprüche Aussicht auf Erfolg haben. In einem guten System, kann eine erste Verwaltungsentscheidung mit Hilfe von unabhängigen Mittler*innen wie beispielsweise Ombudspersonen (wie sie derzeit in mehreren Bezirken für den Bereich der Jobcenter existieren) noch vor Einreichung eines Widerspruchs korrigiert oder ggf. auch zufriedenstellend erklärt werden. Dort wo nötig, sollte eine Unterstützung und Beratung über die notwendigen Schritte für Widerspruch und ggf. Klage ebenfalls durch unabhängige Stellen möglich sein, bis hin zur Vermittlung in anwaltliche Beratung und zur Beantragung von Prozesskostenhilfe.
4. Personal
Für dieses neue Verständnis einer Sozialstaatsverwaltung und die Einrichtung von Sozialberatungsstellen in den Kiezen braucht es entsprechend motiviertes und vor allem gut ausgebildetes Personal. Teil der Strategie muss daher auch eine entsprechende Personalstrategie umfassen. Dies bezieht sich sowohl auf klassische Instrumente (Ausbildung, Rekrutierung, regelmäßige Fort- und Weiterbildung) als auch bisher in Berlin weniger intensiv genutzte Instrumente. Beispielsweise könnte die regelmäßige Abordnung auf Zeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Leistungsbehörden wie Jobcenter, Jugendamt, Wohngeldstelle in die Sozialberatungsstellen im Kiez ein solches Instrument sein. Dies würde gleichermaßen der Beratungskompetenz in den Einrichtungen, als auch der Personalentwicklung der abgeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im beschriebenen Sinne dienen. Bei den Überlegungen zu den quantitativen Personalbedarfen ist zu berücksichtigen, dass eine gute Beratung im Kiez eine Entlastung in den Sozialleistungsbehörden an anderer Stelle zur Folge haben wird (von Beginn an besser ausgefüllte Anträge, weniger Widersprüche usw.)
5. E-Government als Chance: Wertvolle Ergänzung aber nicht Ersatz des persönlichen Kontakts
Die E-Government Strategie des Landes Berlin mit Etablierung eines persönlichen Servicekontos kann die Beantragung von Sozialleistungen künftig noch mehr unterstützen und muss daher bei diesem Konzept mitgedacht werden. Allerdings wird es in der Regel kein Ersatz für die weiterhin notwendigen persönlichen Beratungen darstellen. Im Idealfall bietet die Digitalisierung von Antragsprozessen jedoch eine große Chance in Verbindung mit den Sozialberatungsstellen im Kiez, wenn die Beraterinnen und Berater vor Ort dabei unterstützen die jeweiligen Leistungen gemeinsam mit den Antragstellenden am PC die Anträge ausfüllen. Damit wäre ein großes Problem beim Wunsch einer rechtskreisübergreifende Antragsannahme gelöst.
6. Zuständigkeiten intern klären – wer macht was?
Ein umfassendes Konzept kommt nicht umhin klar Rollen und Aufgaben zu definieren. Dazu gehört auch, welche der hier beschriebenen Aufgaben dergestalt hoheitlich sind, so dass diese ausschließlich durch öffentlich Bedienstete erfüllt werden können und welche Aufgaben auch durch oder in Zusammenarbeit mit Träger*innen wahrgenommen werden können oder sollen. Schließlich ist in der Besonderheit der Berliner Verwaltung auch immer die Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit von Bezirken und der Landesebene im Blick zu behalten, hinreichend zu klären, auch mit Blick auf Finanzierung und einheitliche Aufgabenerfüllung.
7. Bestehende Strukturen nicht ersetzen sondern ergänzen und auf den Erfahrungen aufbauen
Berlin bietet gute Voraussetzungen um den Sozialstaat für den Bürger*innen künftig ganz anders erlebbar zu machen und hier eine Vorbildfunktion einzunehmen. Dabei geht es nicht darum, bestehende Angebote wie Stadtteilzentren, Familienzentren, Rathäuser, oder Senior*innenbegegnungsstätten zu ersetzen. Im Gegenteil, auf den bestehenden Strukturen und den Erfahrungen soll aufgebaut und diese entsprechend ausgebaut werden. Eine einheitliche (Zusatz-)Benennung ist gleichzeitig hilfreich für die Orientierung. Auch Erfahrungen aus Strukturen, welche durch Bundesgesetze gerade neu entstehen oder kürzlich entstanden sind, wie die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung, sind zu berücksichtigen. Dasselbe gilt selbstverständlich für die von den Bezirken begonnene Einrichtung von Familienservicebüros, welche ebenfalls viele der vorgenannten Ansätze (insb. auch die Kooperation zwischen Behörden und Trägern) bereits beinhalten.