Im Jahr 1959 bewarb sich die Türkei erstmals für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die später zur Europäischen Union (EU) wurde. Durch das sogenannte Ankara-Abkommen 1963, wurde der Türkei erstmals die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, die sie bis heute jedoch nicht erhalten hat. Nachdem 1989 die Aufnahme der Türkei in die Zollunion noch abgelehnt wurde, gab es eine Einigung im Jahre 1996, was die Diskussion um eine Aufnahme in die Europäische Union wieder an Fahrt gewinnen ließ. Ab dem Jahre 1999 setzte sich in der Türkei dann innenpolitisch ein Reformprozess in Gang, der auch Forderungen der EU der betraf. So wurde nach der Amtsübernahme der AKP mit Ministerpräsident Recep Tayyib Erdoğan an der Spitze ein Reformpaket verabschiedet, das die Abschaffung von Folter und Todesstrafe vorsah, außerdem der kurdischen Minderheit mehr Rechte zusicherte, sowie eine Ausweitung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts. Im Jahr 2005 wurden dann offiziell die Beitrittsverhandlungen beschlossen. In den nun seit 10 Jahren andauernden Beitrittsverhandlungen, ist erst in einem von 33 zu verhandelnden Kapiteln eine Einigung erzielt worden, im Kapitel Wissenschaft und Forschung. Die anderen Kapitel sind entweder vorerst suspendiert oder werden momentan verhandelt, ohne das große Fortschritte erzielt werden.
In den letzten Jahren ist es durch konservative Politiker*innen vermehrt zu Stimmungsmache gegen einen Türkei-Beitritt gekommen, besonders innenpolitische Verfehlungen der Regierung Erdoğan werden immer wieder dafür genutzt. So hat Angela Merkel mehrfach betont, dass sie die Vollmitgliedschaft der Türkei nicht will, beigesprungen wird ihr dabei regelmäßig von der CSU und inzwischen auch von der AFD. Dabei werden immer wieder kulturelle und religiöse Unterschiede betont, welche der Bevölkerung suggerieren sollen, dass der Beitritt der Türkei eine Gefahr für die Europäische Wertegemeinschaft sei. Daher wird für die Türkei immer wieder eine privilegierte Partnerschaft vorgeschlagen. So wird versucht, die Verhandlungen zum Beitritt zu untergraben und der Türkei keine realistische Chance auf einen Beitritt zu gewähren. Auch wenn die SPD immer wieder betont hat, dass sie weiterhin an den Verhandlungen festhalten will, so sind die Stimmen, die sich wirklich aktiv für einen Beitritt einsetzen, auch in der SPD leiser geworden. Dies schlägt sich auch in der Zustimmung der Bevölkerung für einen Beitritt nieder, die in den letzten Jahren immer mehr zurückgeht, nicht nur in Deutschland sondern in fast allen Ländern der EU.
Zur gleichen Zeit, als es Reformbemühungen in der Türkei gab, wurden in Deutschland acht türkisch- und griechischstämmige Menschen durch den Nationalsozialistischen Untergrund ermordet und bis jetzt ist diese Mordserie unter Mithilfe staatlicher Institutionen immer noch nicht aufgeklärt. Diese Taten wurden begünstigt durch das fremdenfeindliche Klima und eine zunehmend islamophobe Stimmung im Land. Die komplette Offenlegung der Hintergründe muss das Ziel sein, um deutlich zu machen, dass solche Taten unter keinen Umständen toleriert werden, ob staatlich organisiert oder nicht.
Es lässt sich eine Verbindung zwischen islamophoben Grundeinstellungen in der Gesellschaft und der gleichzeitigen Ablehnung eines Türkei-Beitritts erkennen.
Hier müssen vermehrt Schritte unternommen werden, um diesen Tendenzen aktiv entgegenzutreten:
- Die SPD muss sich dafür einsetzen, die Verhandlungen aktiv voranzutreiben und in der Gesellschaft eine Debatte anzustoßen, die nicht auf Stereotypen beruht und die Türkei auf den Islam reduziert.
- Der Zusammenhang zwischen Demonstrationen gegen die angebliche Islamisierung des „Abendlandes“ und der Ablehnung eines Türkei-Beitritts sind zu offensichtlich, um sie nicht zu diskutieren. Hier muss die SPD vorangehen um diesen Tendenzen entgegenzustehen. So braucht es eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Land Türkei in sämtlichen Bildungsinstitutionen. Dies würde auch den besonderen Beziehungen Deutschlands mit der Türkei gerecht werden.
- 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen durch alle Staaten der EU beschlossen, woran sich Angela Merkel und die CDU anscheinend nicht gebunden fühlen, was wieder deutlich macht wie wenig Interesse an einem europäischen Integrationsprozess besteht. Wenn Beschlüsse derart leichtfertig wiederrufen werden können, ist eine Diskussion um „Mehr Europa“ hinfällig. Hier muss die SPD, gerade als Koalitionspartner als Korrektiv auftreten.
- Klar ist, dass die Türkei bestimmten Anforderungen genügen muss, um in die EU aufgenommen zu werden, gerade was die Menschenrechtssituation, die Gleichstellungspolitik oder den Schutz von Minderheiten angeht. Ebenso muss in der Zypern-Frage eine Lösung gefunden werden, da sonst alle Diskussion um einen Beitritt Makulatur sind. Insbesondere der Völkermord an den Armenier*innen muss von der türkischen Regierung anerkannt und aufgeklärt werden. Mit Besorgnis nehmen wir die Entwicklung der Türkei unter der Erdogan-Regierung zur Kenntnis. Gerade die Meinungs- und Pressefreiheit werden von dieser Regierung mit Füßen getreten. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung – wenn auch unter dem Einfluss der mehrheitlich gleichgeschalteten Medien – diesen antidemokratischen, neoosmanischen Kurs unterstützt. Solange dieser Kurs weiter beschritten wird, sehen wir momentan für den Beitritt der Türkei keine Perspektive. Wir erhoffen uns jedoch durch Verhandlungen eine Veränderung des Kurses.
Gleichzeitig bereitet es uns Sorge, dass auch in der Türkei der Willen zu einem EU-Beitritt, nicht nur seitens der Regierung, sondern auch innerhalb der Bevölkerung, stetig sinkt. Die zähen Verhandlungen und die teilweise Ablehnung eines Türkei-Beitritts innerhalb der EU haben zu einem wachsenden Unmut der Türk*innen geführt. Die Türkei scheint im Begriff endgültig das Interesse am EU-Beitritt zu verlieren, diesem Trend muss entgegengewirkt werden. An dieser Stelle ist es deshalb unerlässlich, dass der Beitritt seitens zentraler Akteur*innen der EU als politischer Wille formuliert wird und durch ein Entgegenkommen untermauert werden muss.
In Zeiten, in denen der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) immer weiter vorrückt, ist die Türkei wieder verstärkt in den Fokus gerückt. Während an den Außengrenzen der Türkei gekämpft wird, wurde die Türkei immer wieder für ihr vermeintlich zurückhaltendes Handeln kritisiert. Immer wieder wurde gefordert, dass die Türkei sich aktiver in den Konflikt einbringt, auch mit kriegerischen Mitteln. Darüber, dass die Türkei innerhalb kürzester Zeit über zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat, während Deutschland gerade mal knapp 30.000 Flüchtlinge aufnahm, wurde geschwiegen. Wenn es der EU ernst ist, mit einem Türkei-Beitritt, muss sie der Türkei gerade in solchen Konflikten zur Seite stehen und die Last, auf mehrere Schultern verteilen. Aber das reicht für uns nicht aus:
- Die Türkei muss bei der Aufnahme von Flüchtlingen aktiv unterstützt werden, sowohl finanziell, als auch durch die Aufnahme von Flüchtlingen, gerade durch Länder, die sich durch die Dublin III Vereinbarung dagegen verwehren.
- Eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei auf allen Ebenen, sollte nicht nur innerhalb der NATO erfolgen, sondern sollte zu einem Selbstverständnis in der EU werden.
Uns ist klar, dass die innenpolitischen Ereignisse der letzten Jahre in der Türkei, einem EU-Beitritt im Wege stehen. Die Entwicklungen gerade der letzten zwei Jahre sehen wir sehr bedenklich. Die jüngste Politik Erdogans bedeutete erhebliche Rückschläge für Meinungsfreiheit und den Schutz der Minderheiten. Es bleiben viele Fragen offen, die insbesondere seitens der türkischen Regierung geklärt werden müssen. Allerdings sollte eine langfristige Beitrittsstrategie nicht ausschließlich an der Tagespolitik ausgerichtet sein. Es muss über die Regierungszeit Erdogans hinaus gedacht werden und gerade deswegen müssen progressive Kräfte noch stärker unterstützt werden. Es muss wieder zu einer fairen Diskussion über einen Türkei-Beitritt kommen, deshalb fordern wir:
- Keine doppelten Standards bei einem Türkei-Beitritt, für Verhandlungen auf Augenhöhe
- Auch wer Mitglied in der EU ist, sollte sich an die Regeln halten, die für Beitrittskandidaten zählen, sonst macht sich das System überflüssig.
- Stärkere Sanktionierung bei menschenrechtlichen Verfehlungen von EU-Staaten, um der EU wieder mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen.
Gerade in diesen schwierigen Zeiten, wo ein Beitritt weiter weg scheint, denn je, ist es für uns wichtig, zu betonen, dass die Türkei weiterhin elementarer Bestandteil des europäischen Projektes sein muss. Ohne die Türkei wird die EU nicht dem integrativen Anspruch gerecht, den sie sich selbst auferlegt hat. Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit, wie es derzeit in der Zollunion der Fall ist, reicht uns nicht aus, wir fordern weiterhin die politische Aufnahme der Türkei.