Die sicherheitspolitische Lage in Europa erfordert eine Neubewertung der Rolle der NATO, insbesondere im Kontext einer Verteidigung, die zunehmend ohne die traditionelle Unterstützung der USA auskommen muss. Diese Situation stellt sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für die europäischen Staaten dar, ihre strategische Autonomie zu stärken und die europäische Sicherheitsarchitektur neu zu definieren. Nur durch Einheit im Angesicht der Bedrohung durch revisionistische Mächte ist für Deutschland und die europäischen Partner eine selbstbestimmte Zukunft möglich.
Der vorliegende Antrag verfolgt zwei Ziele. Er soll erstens aufbauend auf den Antrag „Nach der Zeitenwende Eine sozialdemokratische Außenpolitik für das 21. Jahrhundert“ konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Zeitenwende vorschlagen und zweitens an die aktuelle Bedrohungslage angepasst, weitergreifende Handlungsmöglichkeiten zur Steigerung der Wehrfähigkeit Deutschlands aufzeigen.
Den Vorschlägen liegt ein Worst Case-Szenario zugrunde, in dem vom völligen Ausfall der USA als Verbündeten ausgegangen wird. Auch wird eine Fortführung der expansionistischen Politik Russlands in Richtung der europäischen Staaten angenommen. Der Zeithorizont für weitere russische Kriege liegt bei höchstens fünf Jahren.
Diesen Annahmen folgend ist ein hoher Bedarf an Verbesserung der europäischen Streitkräfte festzustellen. Der Antrag will diesem Szenario durch eine Vielfalt an Maßnahmen Rechnung tragen. Dies wird viel Geld kosten, zudem aber auch die Umstrukturierung für Rüstungsindustrie, Administration und die Streitkräfte aller willigen europäischen Staaten bedeuten.
Daher fordern wir:
I. Vereinte Streitkräfte:
Die europäischen Staaten können sich nicht mehr auf die Unterstützung der USA zur Verteidigung Europas verlassen. Bereits jetzt gibt es vielversprechende Kooperationsprojekte mit Frankreich und den Niederlanden. Diese müssen ausgebaut und zur Regel werden. Die Zusammenarbeit muss vertieft werden, um die Streitkräfte wirklich zu integrieren. Aus einer Keimzelle williger Staaten sollte nach und nach eine europäische Armee erwachsen.
Zur Abschreckung bedarf es den europäischen Streitkräften an Schlagkraft. Konkret bedeutet dies Material, Infrastruktur und Personal. Die europäischen Armeen sind zusammengenommen bereits jetzt personell so stark aufgestellt wie die USA. Jedoch ist die konventionelle Abschreckungswirkung der europäischen Armeen zusammengenommen niedrig. Dies liegt zum einen an der Unterfinanzierung, zum andern aber an der Existenz unzähliger Verwaltungsbereiche in jedem einzelnen Land.
Die Ineffizienz muss auf allen Ebenen behoben werden. Hierzu muss zunächst die tatsächliche Unterstellung von Soldaten unter das Kommando anderer Staaten erfolgen. Dies kann bereits auf Bataillonsebene geschehen, sodass bspw. deutsche, französische und niederländische Kompanien (Kp) unter einem Bataillonskommandeur (BtlKdr) geführt werden können. Für das Disziplinarrecht kann eine Rechtsstelle im Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) die Verantwortung übernehmen und nicht-deutsche Führungsebenen unterstützen. Die Vorgesetztenverordnung (VorgV) muss hierzu angepasst und europaweit vereinheitlicht werden, sodass die Führung multinationaler Verbände erleichtert wird. Auch wäre das Einführen von europäischen Dienstgradabzeichen sinnvoll.
Konkrete Projekte könnten die Unterstellung eines Teils der deutschen Marine unter französisches Kommando sein, um so eine Flugzeugträgergruppe zu betreiben. Auch das Projekt eines gemeinschaftlichen Flugzeugträgers sollte erwogen werden.
II. Beschaffung und Rüstungsindustrie
Derzeit gibt es in Europa zu viele unterschiedliche Waffensysteme, so gibt es in den EU-Staaten sechsmal so viele Waffensysteme wie in den USA. Dies führt zu komplexen, teuren und oftmals nicht zueinander kompatiblen Systemen. Es ist daher unerlässlich, dass die Beschaffung in einer Koalition der Willigen gemeinsam erfolgt. Heißt konkret: ein Panzer, ein Kampfflugzeug, ein Gewehr. Deutschland könnte die Führung bei Systemen des Heeres übernehmen und Frankreich wäre in Luftwaffen und Space-Bereich zuständig. Firmen in den jeweiligen Bereichen sollen zusammengelegt werden, um Synergien zu nutzen. Die europäischen Projekte für Erd- und Luftkampfsysteme (Bsp. FCAS) können bereits jetzt als mögliche Einstiegsprojekte genutzt werden. Die Reduktion der Komplexität würde zu einer höheren Interoperabilität und niedrigeren Kosten in der Beschaffung führen. In den meisten Systemen können Plattformlösungen den einzelnen Nationen noch Möglichkeiten der Änderung bieten, ein aktuelles Beispiel wäre der GTK Boxer, der mit jeweils unterschiedlichen Türmen bestückt werden kann. Als gemeinsames Gewehr sollte zügig das HK 416 angeschafft werden, welches bspw. auch die Franzosen bereits gekauft haben. Insgesamt gibt es in der Rüstung bereits Ansätze, die jedoch forciert werden müssen, um effizierter Rüstung betreiben zu können. Auch müssen in den Bereichen digitale und autonome Kriegsführung gesamteuropäische Forschungen und Projekte angestrebt und vertieft werden. Zivile Drohen sollen bereits auf Zugebene eingesetzt werden, um den Soldat*innen bestmögliche Aufklärung zu ermöglichen.
III. Wehrpflicht und Freiwilligendienst
Die Bundeswehr hat derzeit zu wenig Personal und die Reserve, welche noch von den Wehrpflichtigen-Jahrgängen zehrt, altert immer mehr. In einem großen Krieg bedarf es wesentlich mehr Personal, als die Bundeswehr derzeit zur Verfügung hat. Auch der zivile Bereich ist derzeit für einen Krieg nicht gut vorbereitet.
Personalgewinnung hat zu Zeiten des Kalten Krieges sehr gut über die Wehrpflicht funktioniert, zudem hat diese für einen stetigen Aufbau der Reserve geführt. Aber auch die Bereiche des Heimatschutzes, inklusive Verwundeten Versorgung sollten in einer zukünftigen Wehrpflicht nicht außer Acht gelassen werden.
Männer und Frauen sollten in Zukunft zwischen einem Freiwilligendienst in der Gesundheit, im sozialen oder kulturellen Bereich, im Zivil- und Katastrophenschutz sowie der Bundeswehr wählen dürfen. Der Wehrdienst sollte mindestens 9 Monate gehen und den Abschluss der Basisausbildung vorsehen.
IV. Verwaltung und Digitalisierung
Die Verwaltung in der Bundeswehr ist schwerfällig und sorgt oftmals dafür, dass sich die Truppe eher mit dem Ausfüllen von Formularen beschäftigt, als zu üben oder militärische Aufträge auszuführen. In zahlreichen Bereichen können Vereinfachungen geschaffen werden, die den Soldat*innen mehr Platz für den Dienst in ihren Funktionen ermöglichen.
Zahlreiche Prozesse sollten von einer KI ausgewertet und überwacht werden. Dienstreiseanträge, Fahrzeugbuchungen, Marsch und Übungsanmeldungen sind nur einige Bereiche, die eine KI regeln könnte. Ideal wäre ein ChatBot, an den die Bearbeitende Stelle beispielsweise die Bitte für eine Übungsanmeldung stellen könnte. Diese Anmeldung könnte dann einfach über den Bot erledigt werden, der alle Dokumente korrekt befüllt und weitere Schritte aufzeigt, oder gar vorplant. Dies würde den Stäben viel Arbeit abnehmen, sodass weniger Soldat*innen mit Stabsarbeit beschäftigt wären. Die freiwerdenden Kräfte könnten anderweitig eingesetzt werden.
Derzeit gibt es haushälterisch zu wenig Geld für die Beförderungsrunden. Hier sollten Überhang-Haushaltskarten geschaffen werden, um die Soldatinnen und Soldaten stets rechtzeitig befördern zu können.
Ein weiterer Bereich, in dem Vereinfachungen möglich sind. Ist das Rechnungswesen rund um Reisebeihilfe (RB) und Familienheimfahrten (FH). Die monatliche Abrechnung kostet einen großen Verwaltungsaufwand und die Soldat*innen müssen Zeit in die gewissenhafte Bearbeitung der Anträge investieren. Auch gibt es immer wieder Missbrauch, der zu Untersuchungen und Entlassungen führt. Eine Lösung wäre die Zahlung von einer Pauschale von 300€ an alle Soldat*innen. Ein großer Teil an Verwaltungsaufwand wäre schnell beseitigt. Die Mehrkosten dürften sich in Grenzen halten.
Die zahlreichen Soldat*innen am Ende der Laufbahnperspektive kosten die Bundeswehr viel Geld und bringen der Truppe wenig. Das System der Beförderungen sollte nur auf Leistung, Eignung, Befähigung und Bedarf beruhen. Auch sollte die Möglichkeit „Berufssoldat*in light“ geboten werden, sodass Soldat*innen in den Laufbahnen der Unteroffizier*innen mit Portepee und Offizier*innen nach dem 42. Lebensjahr mit dem vollen Pensionsanspruch ab Pensionseintrittsalter aus dem aktiven Dienst entlassen werden können und den Rest ihres Berufslebens in der zivilen Welt verbringen. Dies würde einerseits die Berufsunzufriedenheit für Personen ohne förderungsfähige Laufbahnperspektive vermeiden und den Personalkörper der Stabsoffizier*innen verschlanken.
Die Truppengattung der Feldjäger kann abgeschafft werden. Die Fähigkeiten der Feldjäger können auf andere Verwendungsbereiche verteilt werden. Die Polizei kann bei Strafermittlungen herangezogen werden. Dies befreit Kapazitäten und vereinfacht Zuständigkeiten.
In der Bundeswehr gibt es im Vergleich zu anderen Armeen sehr viele Dienstgrade. Hier sollte vereinfacht werden. Auch sollte eine Anpassung an europäische Armeen in einem Verbund geschaffen werden, sodass Soldat*innen zumindest zusätzlich zum nationalen Dienstgrad auch einen gemeinsamen europäischen Dienstgrad tragen. Hier kann das NATO-System genutzt werden. Vereinfachung und weniger Beförderungen bieten die Möglichkeit finanzielle Mittel einzusparen und Leistungsbereitschaft zu erhöhen
V. Vereinfachung von Gesetzen und Vorschriften
Gesetze und Vorschriften sorgen oft für komplizierte Abläufe im Dienstalltag und in der Beschaffung. Hier sollten im Sinne der nationalen Sicherheit Ausnahmeregelungen für die Bundeswehr gelten. Beispiele für Sonderregelungen wären die Soldatenarbeitszeitverordnung. Diese verhindert, dass Soldat*innen ohne Zeitausgleich Überstunden machen. Gerade in der Ausbildung der Soldat*innen und in Übungen ist diese Begrenzung nicht sinnvoll, da die betreffenden Kräfte anschließend lange in den Zeitausgleich gehen. Hier könnten zehn Urlaubstage mehr gegeben werden und so bei Übungen und in der Ausbildung auf einen Zeitausgleich verzichtet werden. Dies schafft Flexibilität und vereinfacht die Bürokratie, die hinter der Zeiterfassung steht.
Zum Erhöhen der Kapazität in den Kasernen, sollte das Konzept Stube 2000 und dessen Abwandlungen überdacht werden. Stuben sollten mit mehreren Betten belegt werden. Dies schafft Kapazitäten für eine Wehrpflicht.
Bei Beschaffungsvorhaben sollten zahlreiche EU-Richtlinien außer Kraft gesetzt werden, die die Ein Führung und den Kauf von Ausrüstung verzögern.