Der Parteivorstand wird aufgefordert, unverzüglich die organisatorischen und inhaltlichen Voraussetzungen für die Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms zu schaffen.
80 Prozent der Menschen meinen, die SPD sagt nicht genau, was sie für soziale Gerechtigkeit tun will. 59 Prozent sagen, mir ist nicht klar, wofür die SPD steht.
Eine programmatische Erneuerung braucht einen klaren programmatischen Kurs. Das Hamburger Grundsatzprogramm bietet dafür keine ausreichende Orientierung und keinen sozialdemokratischen Kompass. Das hat Gründe. Mit dem Schröder-Blair-Papier von 1999 versuchte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sich vom sozialistischen Berliner Grundsatzprogramm zu lösen. Die sozialdemokratische Regierungspolitik in der Hochzeit des Neoliberalismus stand wenig im Einklang mit der grundsätzlichen programmatischen Ausrichtung der SPD. Um diesen Widerspruch aufzulösen wurde der Ruf nach einem neuen Grundsatzprogramm laut. Verabschiedet wurde das neue Grundsatzprogramm schließlich 2007 auf dem Hamburger Parteitag. Als wichtigste Kontroverse bleibt vom Hamburger Programm die Debatte in Erinnerung, ob der demokratische Sozialismus als Ziel gestrichen wird.
Ein Jahr später brach die Weltwirtschaftskrise aus und das Grundsatzprogramm war nicht mehr das Papier wert, auf dem es stand. Warum? Wegen solcher Sätze: „Wir wollen die Potentiale der Kapitalmärkte für qualitatives Wachstum nutzen“. Beispielhaft für die fehlende Orientierung die das Programm aufzeigt, ist die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen. Es gibt gute Gründe das bedingungslose Grundeinkommen abzulehnen, doch es fehlt dem Hamburger Programm an einem sozialdemokratischen Modell für eine menschenwürdige soziale Grundsicherung.
Während die bisherigen Grundsatzprogramme als Sternstunden der Sozialdemokratie gelten können und noch heute Zitate für uns liefern, enthält das Hamburger Programm eine weichgespülte Politsprechprosa, die sich zu großen Teilen nicht von den Grundsatzprogrammen der anderen Parteien unterscheidet. Insbesondere bietet es keine klaren Ziele, keine Orientierung, sondern ist selbst Ausdruck der sozialdemokratischen Orientierungslosigkeit Anfang dieses Jahrhunderts. Es zeigt nicht den Weg auf, wo wir in zehn oder zwanzig Jahren in unserer Gesellschaft stehen wollen. Das ist kein singuläres Problem der deutschen Sozialdemokratie, sondern vor dieser gleichen Herausforderung stehen ebenfalls die anderen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Europa.
Wir müssen mutiger, linker und radikaler werden!
Wir können erklären, was wir in den nächsten vier Jahren erreichen wollen. Wir können aber nicht erklären, wohin die Reise in den nächsten zehn, zwanzig Jahren gehen soll. Gerade in der Auseinandersetzung mit der Linken geraten wir dadurch in eine permanente programmatische Defensive.
Wir brauchen ein Programm, das Orientierung bietet und der Kompass für unsere Politik darstellt. Dazu bedarf es einer klaren und modernen Kapitalismusanalyse.
Wir müssen Antworten finden:
- Wie wir die Arbeitswelt im digitalen Kapitalismus gestalten wollen.
- Mit welcher Strategie wir gegen das europaweite Erstarken von rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften vorgehen wollen.
- Wie ein sozialdemokratisches Konzept einer menschenwürdigen sozialen Grundsicherung aussehen soll.
- Wie die soziale Frage nicht gegen emanzipatorische und inklusive Gesellschaftspolitik ausgespielt werden kann.
- Wie die Errungenschaften in der Frauen-, Queer- und Inklusionspolitik als politische Standards gehalten und ausgebaut werden können.
- Wie eine friedliche Welt jenseits von Aufrüstung und ungleicher Verteilung von Reichtum durch zivile Krisenprävention aussehen kann.
- Wie angesichts von Klimawandel und Grenzen des Wachstums global vernetztes Wirtschaften gestaltet und reguliert werden muss.
- Wie wir Frieden und Freiheit in Europa sichern und die Europäische Union als europäisches Friedensprojekt und starke Stimme für eine soziale, ökologische und an nachhaltiger Wirtschaft orientierte Ausgestaltung der Globalisierung weiter entwickeln können.
Diskurs wagen
Wir brauchen den Diskurs mit den emanzipatorischen Kräften in unserer Gesellschaft, mit den Gewerkschaften, Wissenschaftler*innen, Kulturschaffenden, den sozialen Bewegungen. Der inner- und außerparteiliche Diskurs darüber, was unsere sozialdemokratischen Ziele und Projekte sind, für die wir stehen und für wir die Menschen begeistern möchten, ist genauso wichtig, wie das Programm am Ende selbst.