Die Daseinsvorsorge am Lebensanfang stand in den letzten Jahren im Mittelpunkt der Politik. Unterstützung rund um die Geburt, verlässliche Kinderbetreuung, partnerschaftliche Elternzeit – das hat die Sozialdemokratie zu Recht durchgesetzt. Die Daseinsvorsorge am Lebensende muss nun ebenfalls in den Fokus rücken. Noch ist Pflege mit eher negativen Assoziationen verbunden. Politikerinnen und Politiker lassen sich lieber in Kitas ablichten. Pflegeeinrichtungen werden eher vermieden. Das muss sich ändern!
Pflege kann jedes Alter betreffen. Die eigenen Eltern oder Großeltern können pflegebedürftig werden. Kinder können pflegebedürftig auf die Welt kommen und ihr Leben lang Intensivpflege benötigen. Wir selbst brauchen nach einem Unfall Pflege. Pflege geht uns alle an!
Gute Pflege brauchen wir auch in den Kliniken. Eine qualitätsvolle Krankenpflege ist von hoher Bedeutung für den medizinischen Erfolg und das Wohlempfinden der Patientinnen und Patienten. Die Pflegekräfte im Gesundheitswesen haben die gleiche Relevanz wie Ärztinnen und Ärzte und fordern zu Recht dieselbe Anerkennung.
Unser Anspruch ist es, die professionelle Pflege für jeden Betroffenen auf hohem Niveau zu sichern. Eine gute Pflege ist unabdingbar für eine solidarische Gesellschaft. Menschen im hohen Alter, im Falle einer schweren Krankheit oder Behinderung brauchen eine professionelle Pflege.
Zu einer professionellen Pflege gehören eine qualitativ hochwertige Ausbildung, bessere Bezahlung in der Pflege, gute Arbeitsbedingungen und Aufstiegsperspektiven. In unserem Land ist das Arbeiten mit Menschen weniger wert als das Arbeiten mit Maschinen. Dabei ist die Pflege ein wichtiger Beschäftigungs- und Wirtschaftsmotor. Während in der Automobilindustrie 750.000 Menschen arbeiten, weist der Pflegesektor 890.000 Beschäftigte auf. Es ist beschämend, dass ein/e Facharbeiter/in in der Metallindustrie (4.300 Euro, Monat/brutto) fast doppelt so viel verdient wie ein/e Altenpfleger/in (2.400 Euro, Monat/brutto) Ein reiches Land wie Deutschland kann sich diese Ungerechtigkeiten zwischen Industrie- und Care-Arbeit, zwischen Männer- und Frauenjobs, zwischen hoher und niedriger Entlohnung nicht mehr leisten.
Zu einer solidarischen Gesellschaft gehört neben der professionellen Pflege auch, dass Menschen füreinander da sind. Ca. 2 Millionen Menschen pflegen ihre Angehörigen. Dieser größte „Pflegedienst“ unseres Landes braucht mehr Aufmerksamkeit und konkrete Unterstützung. Es wird geschätzt, dass 230.000 Jugendliche ihre Geschwister, Eltern oder Großeltern mit pflegen. Diese Jugendliche brauchen besondere Unterstützungsangebote und unsere Solidarität.
In Zukunft wird der Bedarf in der ambulanten, stationären Altenpflege und in der Krankenpflege steigen. 2015 waren in Deutschland 2,9 Millionen Menschen pflegebedürftig, diese Zahl steigt bis 2030 auf 3,4 Millionen an, bis 2050 auf mindestens 5,3 Millionen. Entsprechend fehlen bis 2030 506.000 Pflegekräfte. Bei besseren Pflegeschlüsseln wird die Lücke größer.
Pflege betrifft viele Menschen in unserem Land: 2,9 Millionen Pflegebedürftige, 2 Millionen pflegende Angehörige, 890.000 Beschäftigte in der Alten- und Krankenpflege!
Der sogenannte Pflegenotstand ist hausgemacht: Die meisten Arbeitgeber haben bislang kategorisch allgemeinverbindliche Tarifverträge verhindert. Die Ausbildungskapazitäten wurden bis heute nicht systematisch an dem prognostizierten Fachkräftebedarf ausgerichtet.
Viele Jugendliche wählen den Pflegeberuf aus Überzeugung, weil sie die Sinnhaftigkeit und Menschlichkeit schätzen. Die Erhöhung der Attraktivität der Ausbildung sowie der Arbeitsplätze sind deshalb notwendige Voraussetzungen, um mehr Nachwuchs zu generieren.
Das kurz vor Ende der Legislaturperiode beschlossene neue Pflegeberufegesetz (Zusammenführung von Kinderkrankenpflege, Krankenpflege und Altenpflege zur „Pflegefachkraft“) müssen wir nutzen, um
- Ausbildungskapazitäten bedarfsgerecht auszubauen
- Ausbildungssystem und die Refinanzierung einheitlich zu regeln
- bessere Bezahlung, insbesondere in der Altenpflege, durchzusetzen
- das Ausbildungssystem durchlässig zu gestalten, von der Helferausbildung bis hin zur Akademisierung.
Politik, Kranken- und Pflegekassen, Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie Betroffenen-Verbände können gemeinsam mehr bewegen. Wir fordern daher einen Neustart in der Pflege und laden zu einer Debatte über diesen 12-Punkte-Plan ein:
1. Anpassung der Ausbildungskapazitäten an den Bedarf
Es wird ein bundeseinheitliches Verfahren zur Ermittlung des Fachkräftebedarfs auf Grundlage der Bevölkerungsprognosen, Fluktuationszahlen sowie Verweildauer entwickelt. Abgeleitet von der Bedarfsprognose werden die erforderlichen Ausbildungskapazitäten der einzelnen Bundesländer ermittelt. Die Länder richten ihre Ausbildungskapazitäten im Rahmen der neuen Fondsfinanzierung nach dieser Personalbedarfsplanung aus.
Um den Bedarf der erforderlichen Lehrkräfte in Schulen und Praxisanleiter/innen in den Betrieben zu decken, werden die Weiterbildungskapazitäten für bedarfsgerecht erhöht. Pensionierte Lehrkräfte und Praxisanleiter/innen können für Bewältigung von Engpässen kurzfristig mobilisiert werden.
2. Durchlässiges Ausbildungssystem
Die neue dreijährige Ausbildung zur „Pflegefachkraft“ soll der Kern eines durchlässigen, transparenten Ausbildungssystems werden. Sackgassen werden vermieden, Perspektiven im Aufstieg und Verantwortungsübernahme eröffnet. Die Helfer/in-Ausbildungen werden ebenfalls generalistisch ausgerichtet, ermöglichen Schulabschlüsse und sind anschlussfähig hin zur Fachkraft-Ausbildung. Akademische Weiterbildungen werden praxisgerecht ausgebaut. Ausbildungen in Teilzeit oder berufsbegleitend sind besonders attraktiv und müssen gestärkt werden.
3. Orientierung zum Pflegeberuf in Schulen und bei den Arbeitsagenturen
Zukünftig werden bei der Agentur für Arbeit auch Ausbildungsplätze in der Pflege gemeldet und statistisch erfasst. Dies ermöglicht – wie in der dualen Ausbildung – eine bessere Vermittlungsquote der Bewerberinnen und Bewerber. Im Rahmen der Berufsorientierung in den Schulen und der Jugendberufsagenturen wird das Berufsbild Pflege mit einer Offensive integriert. Die Offensive umfasst auch eine bundesweite Werbekampagne. Mit einem Modellprojekt werden junge Auszubildende in der Pflege als „Role Models“ ausgebildet und werben in die Schulen.
4. Bessere Bezahlung
Im zukünftigen Gesundheitsfachberuf „Pflegekraft“ muss auch die einheitliche Vergütung sichergestellt werden. Der Lohnunterschied zwischen Altenpfleger/innen und Krankenpfleger/innen beträgt im Durchschnitt 30 Prozent. Mit der generalistischen Ausbildung werden die Ausbildungsvergütungen angeglichen. Diese Angleichung muss zukünftig auch bei den Fachkräften erreicht werden, mit dem Ziel, höhere Gehälter insbesondere in der Altenpflege zu erreichen.
Ziel ist es, in der Pflege zu allgemeinverbindlichen Flächentarifverträgen zu gelangen. Dafür wird mit den Sozialpartnern ein Pakt „Neustart in der Pflege“ initiiert. Dieser umfasst nicht nur Vergütungsfragen, sondern auch Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der Arbeitsplätze.
Der Mindestlohn für Altenpflege wird auf 15 Euro erhöht.
5. Gute Arbeitsbedingungen
Gute Arbeitsbedingungen umfassen u.a. Gesundheitsmanagement, Entbürokratisierung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sollte dies nicht zustande kommen, werden ambulanten Pflegediensten und stationären Altenpflegeeinrichtungen gesetzlich verbindliche Vorgaben gemacht und die Refinanzierung über die Pflegekassen gesichert. Leiharbeit in der Pflege wird verboten.
6. Verbindliche Personaluntergrenzen
Es werden sowohl in der Krankenpflege wie in der ambulanten und stationären Altenpflege auf Bundesebene Personaluntergrenzen gesetzlich festgelegt. Bis dies erreicht ist, sollen die Länder ermächtigt werden, über Landesgesetzgebung verbindliche Personaluntergrenzen nicht nur in der Krankenpflege, sondern auch in der stationären wie ambulanten Altenpflege sicherzustellen. Die Refinanzierung muss über die Kranken- und Pflegekassen garantiert werden.
7. Gleiche Augenhöhe mit anderen Berufsgruppen
Den Stellenwert der Krankenpflegekräfte im Gesundheitssystem wird gestärkt. Die Differenzierung nach „ärztlichem und nichtärztlichem Personal“ ist nicht zeitgemäß. Die Pflegekräfte werden als gleichwertige Berufsgruppe in der Statistik aufgeführt. Die Pflegeleistung in einem Krankenhaus wird zum Qualitätsmerkmal definiert. Die Klinikvorstände werden paritätisch mit Pflegedirektoren/innen und Chefärzten/innen besetzt.
8. Unterstützung von pflegenden Angehörigen
2008 wurden in der Pflegeversicherung (§ 92c SGB XI) Pflegestützpunkte eingeführt, um eine flächendeckende, neutrale und niedrigschwellige Beratung für alle Angehörigen und Pflegebedürftigen zu schaffen. Diese Aufgabe haben die Länder unterschiedlich umgesetzt: während in Rheinland-Pfalz und Berlin mindestens pro 90.000 Einwohner/innen ein PSP zur Verfügung steht, hat Bayern nur acht Pflegestützpunkte und Sachsen verfügt über keine einzige derartige Beratungsstelle. Deshalb müssen im SGB XI verbindlichere Standards festgelegt und in allen Ländern einheitlich umgesetzt werden. Aus den Erfahrungen kann auch eine qualitative Weiterentwicklung abgeleitet werden: Vernetzung im Sozialraum, aufsuchende Beratung, interkulturelle Öffnung und aktive Begleitung der Digitalisierung sollen gestärkt werden. Spezifische Beratungsangebote für pflegende Kinder und Jugendliche sowie für Familien, die ihre Kinder pflegen, müssen gestärkt werden.
9. Vereinbarkeit von Pflege & Beruf
Das Pflegezeitgesetz (PflegeZG) und das Familienpflegezeitgesetz (FPfZG) müssen zusammengeführt und weiterentwickelt werden:
Nutzerfreundliche Ausgestaltung des Rechtsanspruchs für pflegende Angehörige auf 10-tägige Freistellung mit Lohnfortzahlung mit dem Ziel, einen niederschwelligen Zugang analog zum Kinderkrankengeld zu ermöglichen;
Einführung von Freistellung sowie einer steuerfinanzierten Lohnersatzleistung über einen längeren Zeitraum, bspw. über sechs Monate, analog zum Elterngeld;
Überarbeitung des Konzepts der 24-monatigen Familienpflegezeit; berücksichtigt werden sollen auch Aspekte der Partnerschaftlichkeit und existenzsichernden Teilzeitarbeit, Übergänge in das Modell der Familienarbeitszeit werden geprüft.
Insgesamt muss ein Rechtsanspruch zum Erwerb von Rentenansprüchen der berufstätigen pflegenden Angehörigen eingeführt und aus Bundesmitteln finanziert werden.
Die Tages- und Nachtpflege wollen wir stärken und deshalb den Rechtsanspruch verstärken. Zukünftig soll es für häuslich versorgte Pflegebedürftige eine ausreichende, wohnortnahe, zielgruppengerechte und flexibel gestaltbare Tages- und Nachtpflege und Betreuung (Tageszeitenbetreuung) geben.
10. Qualitätssicherung
Gute Pflege benötigt gute Bedingungen, aber auch Qualitätsentwicklung und Aufsicht sowie Kontrolle. Im Pflegestärkungsgesetz II sind die Kontrollrechte des Medizinischen Dienstes der Kassen (MDK) gestärkt worden. Die Länder müssen nun auf die Anwendung und Evaluation drängen. Im SGB XI sollen zusätzlich die Kontrollmöglichkeiten der Sozialhilfeträger ausgeweitet werden. Die Beratungsbesuche bei pflegenden Angehörigen durch die Kassen sollen qualifiziert und nach einheitlichen Standards durchgeführt werden.
11. Digitalisierung
Wir wollen technische Innovationen nutzen, um die Qualität der Pflege zu erhöhen, und die Pflegekräfte zu entlasten. Gewonnene zeitliche Spielräume durch Digitalisierung, assistierte Lösungen oder Robotik sollen genutzt werden, um mehr Zeit für die Mensch-zu-Mensch-Beziehung in der Pflege zu gewinnen.
12. Pflege gehört in die Mitte unserer Gesellschaft!
Pflege-Preise, Pflege-Kampagnen und Dialog-Prozesse sind wichtige Instrumente zur Verbesserung unseres Bildes von Pflege. Die Kommunikation darüber muss in den Lebenswelten der Menschen ankommen: Kita, Familie, Schule, Universität, Kultur, Arbeitsplatz, Sportverein, u.v.m. Pflege gehört zur Lebensplanung dazu, Tabus müssen verschwinden. Denn Pflege geht uns alle an!