Seit Ahmed al-Scharaa als Übergangspräsident in Syrien aufgetreten ist, versuchen sich europäische Regierungen an einer neuen Erzählung: Die Situation habe sich stabilisiert, es gebe neue politische Verhältnisse, vielleicht sogar Reformpotenzial. Doch die Realität sieht anders aus – und sie ist brandgefährlich. Insbesondere Minderheiten wie Alawit*innen, Alevit*innen, aber auch Christ*innen, Jesid*innen und andere ethnische oder religiöse Minderheiten werden immer wieder Opfer von Gewalt.
Al-Scharaa war jahrelang führender Kopf der HTS – einer Organisation, die aus der Al-Nusra-Front und damit direkt aus dem Al-Qaida-Netzwerk hervorgegangen ist. Seine Vergangenheit ist dokumentiert: als ehemaliger Kommandeur, mitverantwortlich für Repression, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in Rebellengebieten. Lange stand er auf internationalen Terrorlisten. Dass er sich heute als reformorientierter Staatsmann inszeniert, ist mehr Kalkül als Wandel.
Die für September 2025 angesetzten Parlamentswahlen – von internationalen Beobachtern zunächst als Schritt in Richtung politischer Neuanfang begrüßt – entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als demokratische Fassade. Ein Drittel der 210 Sitze soll direkt vom Übergangspräsidenten ernannt werden, der Rest wird in einem indirekten, von regierungsnahen Wahlgremien kontrollierten Verfahren vergeben. Oppositionelle Stimmen, unabhängige Medien und Minderheitenvertreter*innen sehen darin keine faire Beteiligung, sondern eine gezielte Machtabsicherung.
Demokratie oder Legitimation gibt es unter seiner Führung nicht. In Idlib wurden politische Beteiligung und freie Opposition systematisch ausgeschlossen. Entscheidungen wurden zentralistisch über religiös-konservative und militärische Netzwerke getroffen. Transparenz fehlt, ebenso wie unabhängige Institutionen. Frauenrechte, Minderheitenschutz oder Gewaltenteilung – allesamt essenzielle Demokratieprinzipien. Diese tauchen zwar in öffentlichen Statements auf – in der Praxis bleibt davon kaum etwas übrig. Die angekündigte Einbeziehung von Minderheiten in den Wahlprozess wirkt wie ein Feigenblatt: Kurdische, drusische, alawitische und christliche Vertreter*innen berichten weiterhin von strukturellem Ausschluss.
Und auch seit seinem Amtsantritt haben sich Gewalt und Repression fortgesetzt. Im März 2025 kam es in alawitisch geprägten Regionen zu schweren Menschenrechtsverletzungen – rund 1.000 überwiegend alawitische Zivilist*innen wurden dabei getötet. Es häufen sich zudem Berichte über Zerstörung religiöser Stätten und gezielte Vertreibungen. Die alawitische und alevitische Minderheit in Syrien ist daher akut bedroht Opfer einer ethnischen Säuberung zu werden. Die Rechtfertigung der Regierung: Vergeltung für frühere Angriffe. Ein angekündigter Untersuchungsprozess? Bis heute ohne erkennbare Wirkung. In Suweida eskalierte die Lage zwischen verschiedenen Gruppen – Drus*innen, Beduin*innen, Regierungstruppen. Auch hier: Hunderte Tote, keine politische Aufarbeitung. Gleichzeitig halten sich zahlreiche bewaffnete Milizen unter Kontrolle von HTS-nahen Kräften. Eine vollständige Entwaffnung, wie sie versprochen wurde, ist nicht erfolgt.
Ökonomisch formiert sich unter al-Scharaa eine neue Elite: Ein inoffizieller Machtzirkel um seinen Bruder und enge Vertraute kontrolliert Milliardenwerte. Statt alte Assad-nahe Strukturen zu zerschlagen, wurden sie integriert – gegen politische Zugeständnisse und Immunität. Aus Saudi-Arabien fließen Investments in Milliardenhöhe. Das stärkt nicht die Gesellschaft – sondern nur das Regime.
Besonders perfide ist jedoch, wie diese neue politische Lage international gelesen wird – auch in Deutschland. Mit dem Narrativ der Stabilisierung und den inszenierten Wahlen wird ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen: Die internationale Bühne verleiht al-Scharaa Legitimität, obwohl Gewalt, Repression und struktureller Ausschluss weitergehen.
Mit dieser Erzählung kommt eine alte Debatte wieder auf: Rückführungen nach Syrien. Österreich hat bereits begonnen, abzuschieben. Auch in Deutschland mehren sich Stimmen, die das Schutzbedürfnis syrischer Geflüchteter infrage stellen. Es wird offen diskutiert, ob Syrien wieder „sicher genug“ sei – während das Land sich in einem Klima der Gewalt, Instabilität und selektiven politischen Scheinbeteiligung befindet.
Diese Argumentation ist hoch problematisch. Sie stellt nicht nur den realen Zustand Syriens falsch dar. Sie instrumentalisiert ihn. Die Anerkennung oder diplomatische Duldung des al-Scharaa-Regimes dient nicht etwa dazu, Menschenrechte durchzusetzen oder Stabilität zu fördern – sie dient der Möglichkeit, Geflüchtete abzuschieben.
Diese Logik ist nicht neu. Wir erleben, wie Menschenrechte zunehmend geopolitisch verhandelbar gemacht werden – solange es dem Ziel dient, Migration zu verhindern. Doch die Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention ist unmissverständlich: Kein Mensch darf in ein Land zurückgeschickt werden, in dem Folter, Verfolgung oder Gefahr für Leib und Leben drohen. Genau das ist aber in Syrien weiterhin der Fall – und zwar für breite Teile der Bevölkerung, besonders für Minderheiten, Oppositionelle und marginalisierte Gruppen.
Wir fordern deshalb:
- Keine Anerkennung des Regimes al-Scharaa.
Weder direkt noch indirekt darf die Bundesregierung einem autoritären Ex-Terroristen politische Legitimität verschaffen – die einzigen diplomatischen Kooperationen müssen insbesondere dem Minderheitenschutz, dem Schutz der Menschenrechte und für tatsächlich demokratische Wahlen dienen. - Abschiebungen prinzipiell, und auch nach Syrien, kategorisch ausschließen.
Die Lage im Land bleibt instabil, gefährlich und repressiv. Rückführungen – ob direkt oder über Drittstaaten – sind völkerrechtswidrig und müssen weiterhin untersagt werden. - Schutz und Unterstützung für gefährdete Gruppen.
Deutschland muss sich konsequent für jene einsetzen, die unter al-Scharaa besonders gefährdet sind: Alawi*tinnen, Kurd*innen, FINTA-Personen, Drus*innen und andere marginalisierte Gruppen brauchen international hörbare Solidarität & Schutz – nicht neue Bedrohung. - Außenpolitik darf nicht migrationspolitisch missbraucht werden.
Die deutsche Syrien-Politik muss sich an Menschenrechten orientieren – nicht an der Illusion, über „Deals“ mit autoritären Regimen Menschen auf der Flucht stoppen zu können. - Die Untersuchung der Hinrichtungen an alawitischen Zivilist*innen als Kriegsverbrechen
